Und dann heiratete ich im April 1973 meine Jugendliebe. Frau Professor und die meisten Kommilitonen reagierten mit Verwunderung und mildem Entsetzen. Wer heiratete denn noch? Heiraten war was für Spießer. Und die Kunstakademie sollte ja komplett spießerfrei bleiben. Nun gab es gute Gründe für den Schritt in die bürgerliche Geschlechtervereinigung. Die Gattin, wie ich damals bereits 20 Jahre alt, litt heftig unter einer cholerischen Mutter, die Zuspätkommen mit Verpügeln strafte. Nachdem dies einmal zu einem Aufenthalt in der Notfallambulanz geführt hatte, suchten wir verzweifelt nach einer Lösung und beschlossen, dass sie bei den Eltern aus- und wir zusammenziehen sollten. Nun war man in jenen Jahren erst mit 21 Jahren volljährig, und ein Mietvertrag hätte die Zustimmung der Eltern erfordert. Die strengchristliche Mutter hätte eine „wilde Ehe“ mit allen Mitteln verhindert. Als wir aber mal mehr zu Testzwecken das Wort „Hochzeit“ fallen ließen, wurde sie ganz milde. Kurz und gut: Ihre Eltern versprachen uns erhebliche Finanzmittel, sollte unsere gemeinsame Wohnung eine eheliche sein – so mit Kirche und Standesamt. Wir gingen den Schritt, und ich war im Alter von 20 Jahren Ehemann und Kunststudent. Meine Gattin, eine gelernte Buchhändlerin, die damals nicht einmal 600 DM netto verdiente, ging aufs Abendgymnasium, um das Abitur nachzuholen – etwas, was ihr die Eltern ebenfalls verboten hatten.

Finanziell kamen wir nur über die Runden, weil wir sehr bescheiden lebten und ich auch während des Semesters immer wieder wochenweise jobbte. Inzwischen hatte ich die Büroarbeit an und für sich für mich entdeckt, dort auch einige Fertigkeiten entwickelt, sodass ich bei einer Behörde (Schullkollegium beim Regierungspräsidenten) und Mannesmann (zunächst Mannesmann Export, später Anlagenbau) auf Zuruf arbeiten konnte und dann auch recht ordentlich verdiente. Vor wenigen Jahren gestand mit die Ex-Gattin, dass sie damals trotzdem total sauer darauf war, dass ich ja eigentlich ein Faulenzerleben führte an der Akademie, während sie tagsüber für kleine Mark bei einem Kleinstverlag (Eremitenpresse, Fortunastraße) schuftete und abends zur Schule ging. Ganz unrecht hatte sie auch nicht, weil sich – wie in der vierten Folge geschildert – der reale Arbeitsaufwand im Studium damals in sehr engen Grenzen hielt.

Einhorn, Zweihorn, Dreihorn
Der mittägliche Besuch wenigstens eines Lokals auf der Ratinger Straße gehörte zum Normalprogramm. Besonders im Einhorn waren ab etwa 12 Uhr die Kunststudenten unter sich. Wer wenig Geld hatte, hielt sich über Stunden an einem Glas Alt oder iner Cola fest. Wer reiche Eltern hatte, gab Runde um Runde, damit die armen Mäuse es auch gut hatten. Wichtig war es, immer ein bisschen Geld für die Flipper übrig zu haben. Die standen ganz hinten im Lokal, gleich neben der Tür zum Hof, wo sich die Klos befanden. Abends war das Höfchen mit dem speziellen Geruch Übergabeort für Substanzen, und gekifft wurde nicht drinnen, sondern da. Ein Highlight des Einhorns war die optimal bestückte Musicbox – die Platten darin reichten von den Rockhits jener Zeit (Stones, Doors etc.) über obskure Jazzscheiben bis zu französischen Chansons der Sechzigerjahre. Jede Clique hatte tagsüber ihren Stammtisch, aber etwa 18 Uhr löste sich die Ordnung auf, und das typische Leben auf der Ratinger Straße begann.

1973 war die Uel (die mein Vater als Mitarbeiter der Düsseldorfer Hirschbrauerei in den Fünfzigerjahren ebenso wieder nutzbar gemacht hatte wie das Kreuherreneck und rund 20 weitere Altstadtkneipen, die von der Hirschbrauerei verpachtet wurden) der rustikalste Laden auf der Rättemanteng, aber der mit dem preiswertesten Essen: Himmel und Ähd mit jebroten Bloodworsch gab’s für um die drei Mark. Aber die Pissrinne im Männerklo der Uel war der stinkendste Ort auf dem Planeten. Ansonsten gingen wir tagsüber nur hin, wenn wir Abwechslung vom schwierigen Mensaessen der Akademie suchten. Dafür war diese Wirtschaft dann abends DER Ort für alle Künstler Düsseldorfs. Alle Tische besetzt, quicke, aber maulfaule Kellner, genauso viel Wein wie Bier, laute Gespräche, geschmiedete Pläne. Und man wechselte in der Zeit bis zur Polizeistunde um ein Uhr mehrmals die Tische, um sich überall mal eingemischt zu haben.

In jenem Jahr war der Ratinger Hof dagegen relativ künstlerfrei. Der Laden war eher was für Späthippies und Lederrocker, belegt mit zerlumpten Orientteppichen, darauf wacklige Stühle an merkwürdigen Tischen und zwei erheblich verschlissene Sofas. Nur den Stammtisch in der Ecke unter dem Fenster rechts vom Eingang, den gab es, und der blieb ja auch so lange des den Ratinger Hof als den „Hof“ gab. Andererseits war der Hof tagsüber die Schnittstelle zwischen Studenten der Geisteswissenschaften von der Uni und den Kunststudenten. Abends gingen wir da nicht hin, weil die Musik scheiße war. Außerdem war das Alt einen Groschen teurer als in der Uel und im Einhorn.

Durch die Klassen
Unter den Kunststudenten war ich also der Spießer. Unter den Studenten, denen ich bei den Jobs begegnete, war ich dagegen quasi der Underground-Typ. Das lag vor allem an meinem Outfit. Später sagte mir mein Freund P:, ich seit kleidungstechnisch schon 1973/74 Punk gewesen. Da könnte er recht haben. Allerdings war ungepflegte Kleidung ein Stück weit Kunststudentenattitüde dieser Ära- Da gab es Holger O., der Tag für Tag und Woche für Woche im immergleichen, ölverschmierten Monteursoverall herumlief und entsprechend roch. Da waren bodenlang ausgeleierte Pullover angesagt, Cordhosen, bei denen die Cordrippen bereits abgerieben waren, und selbstgenähtes – auch bei den Herren. Ich hatte eine Vorliebe für Sachen mit Löchern. Meine Mutter konnte sich darüber aufregen; meinen dunkelblauen Lieblings-Nikki nannte sie das „Sternenbanner“, weil er gleichmäßig durchlöchert war und das weiße Unterhemd durchschien. Im Sommer trug ich gern ein goldgelbes Turnhemd zur speckigen Jeans, das Teil der vorgeschriebenen Sportkleidung des Leibniz-Gymnasiums war. Oder weiße Malerlatzhosen, die am Ende der warmen Jahreszeit eben nicht mehr weiß waren.

Zum Akademiealltag gehörte es, anderen Klassen einen Besuch abzustatten. Besonders wenn man Insasse einer derart langweiligen Klasse wie der von Frau Professor Neumann war. Häufig drückte ich mich in den sechs oder sieben Räumen im Erdgeschoss herum, die von der Beuys-Klasse okkupiert waren. Dort waren immer viele Leute, und es wurde hauptsächlich diskutiert. Ganz anders die Atmosphäre in der Bobek-Klasse, in der es von reichen Töchtern aus kulturintensiven Elternhäusern nur so wimmelte. Dort lernte ich unter anderem die ungleichen Schwestern kennen; die eine wurde später Geliebte und Assistentin des Professors, die andere konnte toll malen. Überhaupt: Trotz meines Status‘ als Ehemann war ich an Kommilitoninnen immer interessiert. Draußen in der Düsseldorfer Normalwelt hieß es immer: Die schönsten Frauen studieren an der Kunstakademie. Das stimmte, sagte aber nicht alles: Die Mehrheit der Kunststudentinnen war ausgesprochen klug und interessant, was ihre Attraktivität noch erhöhte.

Dann bekam Alfonso Hüppi die Professur und eine eigene Klasse, und dort wurde ich Stammgast. Sein Klassenraum lag schräg gegenüber der Klasse Neumann und war alles in allem mehr eine Art Jugendzentrum als ein Malereiklasse. Das lag auch daran, dass die Hüppi-Schüler allesamt sehr vielseitig interessiert waren und die Akademie nicht unbedingt für künstlerische Aktivitäten nutzten. In der Hüppi-Klasse konnte man: Quatschen, plaudern, reden, zuhören, dösen, Bier trinken, kochen und essen, Feten feiern, Schach spielen, basteln, aus dem Fenster gucken, schmusen und knutschen und zur Not ne Runde pennen. Einer der gemütlichsten und humansten Orten, die ich in meinem Leben je kennengelernt habe. Und der Platz, an dem ich mich unsterblich in J. verliebte. Aber das ist wieder eine andere Geschichte…

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