Wir müssen reden. Ja, Sie. Sie und ich und noch mehr. Wir müssen über die Ursachen von Brexit reden, über die Front National in Frankreich, Geert Wilders in Holland, die AfD, und den Mythos der Schuldenfreiheit, der höchstens noch in ein Computerspiel gehört, und damit über Politik auch in Düsseldorf. Oder glauben Sie auch, dass der Brexit und die womöglich schlimmen Folgen vom Himmel kam wie der viele Regen? Oder dass die Altersarmut, die nicht droht, sondern da ist, einfach so kam. Dann glauben Sie auch, dass der Haushalt, der Etat der Stadt (2,4 Milliarden €), der Etat Deutschlands genauso funktionieren wie der kleine Haushalt einer schwäbischen Hausfrau. Wir müssen also dringend reden.

Wir müssen reden über „marktkonforme Demokratie“ (Merkel), zwei Begriffe, die einander ausschließen, reden über Schuldenfreiheit und Schulden, müssen reden über Wirtschaft, Ökonomie, von der die meisten Menschen sagen, davon hätten sie keine Ahnung – aber trotzdem hat „die schwarze Null“ Schäuble eine erstaunliche Beliebtheit im Politbarometer. Es gibt viele marktkonforme Aussagen von sogenannten Wirtschaftswissenschaftlern und Politikern, die meist nicht hinterfragt werden und von vielen Journalisten kommentarlos oder gar zustimmend wiedergegeben werden. Wir müssen reden – darüber, warum plötzlich so wenig Geld in der Stadtkasse ist, und warum dennoch so viel gebaut werden muss, und warum so viel über „Schuldenfreiheit“ geredet wird – und was das mit dem Brexit zu tun hat. Und mit Ihnen, ja: Mit Ihnen.

Ein zum Beispiel vielfach gebrauchtes neoliberales Argument auch in Düsseldorf, etwa von den FDP-Politikern Neuenhaus, Strack-Zimmermann oder auch Nachwuchspolitikern wie Mirko Rohloff, ist: Keine Schulden, denn unsere Kinder müssen diese Schulden bezahlen.

Gegenfrage dazu: Welche Schulden bezahlen die Kinder denn jetzt, die Kinder, die jetzt zur Schule gehen? Die SchülerInnen haben seit mehr als 10 Jahren die „Schuldenfreiheit“ bezahlt mit dreckigen und maroden Toiletten, mit fehlenden Klassenräumen, mit fehlenden Schulen (Gesamtschulen vor allem) … Die Schülerinnen haben mit Mangel das bezahlt, was eine „Schuldenbremse“ verursacht hat, nämlich einen gigantischen Investitionsstau – allerdings gab es beim Tunnelbau keinen Stau. Abstrakt formuliert: SchülerInnen haben bezahlt für eine neoliberale Ideologie des Sparens an sozialer Infrastruktur zum Wohle des Bürgers, während bei anderen teuren Projekten keineswegs gespart wurde. (Gleich mal für die CDU-Anhänger: Von den hochgelobten 30 Millionen im „Masterplan Schulen“ kamen 17 Millionen vom Land und ausgeben wurden tatsächlich in Düsseldorf um ie 10 bis 11 Millionen €.)

Wohnungsbau, Neoliberalismus und Ursachen

Bleiben wir noch bei Düsseldorf, das Sie und Ich besser kennen als England: Die Stadtverwaltung (die politische Spitze) hat sich von 2000 bis 2014 verweigert, aus eigenen Mitteln bezahlbare Wohnungen zu bauen, obwohl dies dringend nötig gewesen wäre auch für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Statt dessen ließ sich die Stadt von der Städtischen Wohnungsgesellschaft (SWD) eine hohe Pacht für die von der SWD verwalteten – alten – Wohnungen bezahlen. Allerdings hatte seit langem die Hälfte, hatten rund 50 Prozent der Haushalte in Düsseldorf Anrecht auf eine Sozialwohnung, einen Wohnberechtigungsschein (WBS), hatten also ein Einkommen von maximal 28.924 Euro (eine Person) oder 40.712 Euro (2 Personen) – brutto wohlgemerkt.

Aber die Stadtspitze hat bis 2014 gespart – obwohl für Bürger, die Mittelschicht und die gering Verdienenden, die meisten Wohnungsmieten unbezahlbar blieben.

Jahrelang hat sich im Wohnungsausschuss und im Rat die CDU, vor allem in Person von Klaus Dieter Lukaschewski (CDU), gegen den Bau von bezahlbaren Wohnungen gesperrt, Lukaschewski hat im Wohnungsausschuss mehrfach wiederholt, es gäbe „ausreichend Wohnungen in allen Preisklassen“. Der Anteil von bezahlbaren Wohnungen in Düsseldorf lag da schon bei weniger als 20 Prozent.

Gebaut wurde schon, allerdings Wohnungen der gehobenen und obersten Preisklasse, bis hin zu Luxuswohnungen zu Preisen von 10.000 Euro und mehr – pro Quadratmeter. Wohnungen werden gebaut, die sich nur Menschen mit sechsstelligem Jahreseinkommen leisten können, Wohnungen werden aufwändig renoviert, gekauft von Fonds und Versicherungen – Wohnungen als Geldanlage.

Luxuswohnungen haben wir also genug. Aber jetzt fehlen Zigtausende bezahlbare und Sozialwohnungen für mittlere und niedrige Einkommen. Die SPD-Grüne-FDP Stadtspitze soll es jetzt ausbügeln. Aber es sollen ja mit der SWD oder einer Tochtergesellschaft (die schon gegründet wurde) Sozialwohnungen gebaut werden. Aber nach neoliberaler, „marktkonformer“ Ideologie ohne Schulden bitte, so die Neoliberalen. Und die Rücklagen der Stadt wurden von der CDU Stadtspitze zwischen 2000 und 2014 auf nahezu Null ausgegeben. Nun denn baut mal schön …

Investitionen und Schulden

In Deutschland wird, im Verhältnis zu Europa, sehr wenig vom Staat investiert. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), die „Schwarze Null“, hält den unerbittlichen Daumen auf den Ausgaben des Staates. Wir haben allerdings wegen der Sparpolitik einen Investitionsstau – jeder kennt inzwischen die maroden Brücken, über die keine großen LKW mehr fahren dürfen, und wir haben n Deutschland ein Problem mit dem quasi Staatsunternehmen Deutsche Bahn, weil zu wenig in Infrastruktur investiert wurde, etc etc

Börsenprofi Dirk Müller erläuterte auf einer Diskussionsveranstaltung das Thema Investitionen und Schulden – also nicht gerade ein Linker, der da redete: „Wir haben kein Schuldenproblem, wir haben ein Verteilungsproblem. Wenn jemand Schulden macht, entsteht dadurch bei jemand anderem ein Guthaben. Allen Schulden auf der Welt stehen genauso viele Guthaben gegenüber. Das Problem entsteht in der Ungleichverteilung.“ …. „Es gibt rund 5 Billionen Euro privates Vermögen, das ist ne Menge Zeug, das Problem ist, dass es extrem ungleich verteilt ist. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung besitzen mehr als 50, andere sagen mehr als 70 Prozent des privaten Vermögens, und die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat von diesem Geld nichts….“

LINK www.facebook.com/gds.blog/videos/1710865769178212/

Wenn aber Gewinne aus Unternehmen nicht in Investitionen fließen, fehlt es an Menschen, die ordentlich Gehälter haben, die Geld für ihren Konsum ausgeben, es fehlt an Investitionen in der Wirtschaft. Gehälter von Managern in zweistelliger Millionenhöhe fehlen bei Investitionen, das klingt einfach, stimmt aber. Und wenn Gewinne nicht investiert werden, sondern zum großen Teil in die Dividenden und in Managerboni gehen, können sie nicht in zukunftsweisende, Arbeitsplatz-erhaltende Investitionen gesteckt werden. Früher wurde der „shareholder value“ durchaus noch kritisiert …

Schulden stehen also immer auf der andere Seite Guthaben entgegen– bei der Bank, der Stadtsparkasse, bei Unternehmen …

Erinnern Sie sich an das Beispiel Schulden und unsere Kinder: Kinder zahlen für fehlende Investitionen mit fehlenden Klassen / Schulen, also mit schlechteren Möglichkeiten von Bildung.

Machte die Stadt (vernünftig begrenzte) Schulden, z.B. für neue Schulen, Klassenräume, sind das also Guthaben für die SchülerInnen und die Eltern. Denn die haben bessre Schulen, und Firmen, können bessere MitarbeiterInnen in die Stadt holen (die Steuern indirekt und direkt an die Stadt zahlen), weil die für ihre Kinder gute Bildungschancen sehen. Außerdem stehen de Schulen noch im Vermögenshaushalt der Stadt.

In der neoliberalen Ideologie heißt es vereinfacht: Weniger Staat, mehr privat. Bei Schulen heißt das: Private Schulen (es gibt immer mehr auch in Düsseldorf), oder mehr bezahlte Nachhilfestunden, weil die Schulen es nicht mehr leisten …

Die Frage ist also nicht, ob man Schulden macht, sondern: Was passiert, wenn keine Schulen etc gebaut werden mit Krediten. Sind da die Kosten auf lange Sicht nicht noch höher, vor allem für die Eltern, die Kinder ?

Billiglohnjobs, kleine Renten, Aufstocker

Wir müssen also reden – darüber, dass für die normal verdienenden Menschen immer weniger Geld, immer weniger Chancen, immer weniger Wohnungen und Jobs vorhanden sind.

Immer wieder werden, auch in Düsseldorf, die niedrigen Arbeitslosenzahlen gefeiert. Aber tatsächlich sind es immer mehr „Aufstocker“, die einen Job in einem Unternehmen haben, deren Lohn nicht reicht und die deshalb von der Allgemeinheit einen Zuschuss bekommen. Es gibt immer mehr Menschen, die nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauchen, aber bei der Arbeitsagentur unter der Rubrik „Unterbeschäftigung“ geführt werden. Heißt vereinfacht: Sie haben keinen regulären Job, von dem sie leben könnten. In Düsseldorf waren das im Mai 2016 insgesamt mehr als 30.000 Menschen. Und es gibt mehr als 34.000 „Bedarfsgemeinschaften“, heißt: Empfänger von Hartz IV. In der Arbeitsmarkt-Statistik ist unter „SGB II“ nachzulesen, wie viele Menschen Arbeitslosengeld II bekommen und damit wie viele Hartz IV.

LINK: www.arbeitsagentur.de/web/content/DE/dienststellen/rdnrw/duesseldorf/Agentur/ZahlenDatenFakten/Arbeitsmarkt/

Schuldenfreiheit, soziale Ungleichheit, Brexit und Düsseldorf

Und was hat das mit dem Brexit zu tun?

In England haben die Jungen für den Verbleib gestimmt, sie sahen in Europa ihre Zukunft, in einem Europa, das sich verändern muss, das sozialer werden muss. Die alten und jene, die sich in den wirtschaftlich schwachen Regionen abgehängt fühlen, haben für den Brexit gestimmt. Die EU als Sündenbock für die neoliberale Politik in ihrem Land, das ihnen immer weniger Jobs, immer weniger Chancen geboten hat.

Der Kolumnist Robert Misik fasst in der taz vom Wochenende 25./ 26. Juni unter der Überschrift „Das Volk gegen die da oben“ gut zusammen, was warum passierte:

„Neben der spezifisch britischen Emotionalität und der populistischen „Wir da unten gegen die da oben“-Mentalität gibt es aber noch einen dritten Grund, und der ist in gewissem Sinne der schlimmste, weil er fahrlässig selbst verschuldet ist und die Europäische Union zerstören kann, und der dafür verantwortlich ist, dass aus eurokritischen Minderheiten eine Mehrheit werden kann: die fatale Politik der Europäischen Union selbst.

Die Europäische Union wurde mehr und mehr zu einem neoliberalen Projekt, in dem „Marktfreiheit“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ die zentralen Glaubensartikel sind. In den vergangenen sechs Jahren kam dann noch eine flächendeckende Austeritätspolitik dazu, die vor allem in der Eurozone zu permanenter Stagnation und in den Krisennationen der Peripherie zu sozialen Katastrophen führte. … Europa ist kein Versprechen mehr – es ist eine Bedrohung.

Dafür sind die politischen und administrativen Eliten der Länder grosso modo selbst verantwortlich und besonders auch noch jene politische Strömung, die dem Kontinent seit Jahren ein „Ihr müssten den Gürtel enger schnallen“ verordnete.

Etwas salopp gesagt: Es sind Leute wie Wolfgang Schäuble und Co, die die Europäische Union an den Rand des Kollapses gebracht haben. …. Die Europäische Union ist jetzt an einen Wendepunkt. Wenn Merkel, Schäuble und Co glauben, man könnte so weitermachen, dann fliegt uns dieses Europa um die Ohren.“

LINK: www.taz.de/!5313212/

Auch bei uns hier in Düsseldorf sehen wir immer mehr Alte, die von ihrer Rente nicht mehr leben können, Aufstocker, die von ihrem Job nicht mehr leben können, Kinder, die von Hartz IV leben müssen …

Erst jetzt, angesichts der gesellschaftlich bedrohlichen Verteilung von Reichtum und Vermögen, beginnt zaghaft und verhalten etwas, das seit über 30 Jahren fehlt in Deutschland, Europa und auch in Düsseldorf: Eine Diskussion darüber, was die neoliberale Ideologie für die Bürger, für die Mitte der Gesellschaft gebracht hat: Nichts, allenfalls die Gefahr des Absturzes.

Es fehlt eine Diskussion über Neoliberalismus, über die Ideologie, die unsere Leben seit zig Jahren bestimmt, die Jobs, von denen man nicht leben kann, die hohen Mietpreise, die Altersarmut, die ungerechte Verteilung von Vermögen. In Deutschland und in Düsseldorf fehlt zudem eine „linke“ Theorie, eine Theoriebildung mit einer noch nicht zu sehenden Linken. Sowohl bei SPD wie den Grünen gibt es Ansätze. Aber das reicht nicht. Und die Linke in Düsseldorf ist nicht Gysi oder Wagenknecht…

Es gibt intelligente Mahner etwa beim Paritätischen Wohlfahrtsverband den Geschäftsführer Dr. Ulrich Schneider, der u.a. vor wachsender Altersarmut warnt, es gibt inzwischen sogar Artikel in der „Wirtschaftswoche“ oder sogar in der „Welt“, die kritisch die herrschende Ideologie des Neoliberalismus, des frei tobenden Kapitalismus beleuchten. Eines Kapitalismus, den manche Medien in der Bankenkrise 2008 noch als „Winchester-Kapitalismus“ bezeichneten.

Wir müssen reden

Wir müssen reden – nicht nur Sie und ich. Sie müssen mit Politikern reden, sie fragen, wie sie denn zur wachsenden Altersarmut, zu fehlenden Wohnungen, zur Anhäufung des Reichtums bei sehr wenigen stehen. Und auch mit ihren Nachbarn, Freunden reden.

Informieren Sie sich bei kritischen Ökonomen wie Professor Heiner Flassbeck und dem Blog „Makrokosmos“.

Na los – Sie müssen reden. Mit ihren Nachbarn, ihren Freunden, mit ihrem Bundestagsabgeordneten, mit der EU-Abgeordneten (die heißen anders, ich weiß), mit den Stadträtinnen und Räten, …..

Auch mit uns in NDOZ.de – am besten im Artikel, und nicht in Facebook.

(Autor Jo Achim Geschke)

ndoz

[Dieser ausführliche und wichtige Kommentar erschien zuerst in der Neuen Düsseldorfer Online-Zeitung NDOZ]

Ein Kommentar

  1. Das Maskottchen am

    Reden? Oder Handeln?
    Was hilft das Reden, wenn man zwar immer wieder feststellt, dass es so nicht weitergeht, aber keine Lösungen zu bieten hat?
    Alle mit denen ich rede wissen das es so nicht weiter geht, aber keiner weiss weiter. Nur die einfachen Geister kennen dann einfache Lösungen, was dabei rauskommt sieht man ja.

    Also: redet nicht über die Probleme, redet über die Lösungen und handelt da, wo ihr handeln könnt. Im Kleinen, in Eurer Umgebung, in der Nachbarschaft.