Fotokopierer haben mich in jenen Jahren zutiefst fasziniert. Die Idee, von einem beliebigen Schriftstück beliebig viele Kopien anfertigen zu können, hatte in meinen Augen beinahe etwas mythisches. Und die Erfindung der Xerografie hielt ich für ebenso bedeutsam wie die des Buchdrucks. Aber schon vor der Erfindung ebendieser Xerografie hatte ich mit dem Kopieren zu tun. Ich erinnere mich noch sehr genau an den Geruch der Blaupausen im Büro meines Vaters. Der war Architekt, fest angestellt bei der Düsseldorfer Hirschbrauerei, wo er vor allem für den Wiederaufbau, die Renovierung und in seltenen Fällen auch den Neubau von Gaststätten war. Außer Kneipen hat er genau ein Wohnhaus (in das wir einzogen als ich gerade elf war) und das neue Verwaltungsgebäude der Brauerei an der Tussmannstraße geplant und als Bauleiter begleitet. Die großen Bögen aus einem pergamentähnlichen Material mit den blauen Linien und Beschriftungen rochen nach Essig, aber gleichzeitig auch irgendwie elektrisch. Das war übrigens bei den ersten Kopiergreäten auch so, denn die fertigten auch nur Blaupausen an.

Die Xerografie machte es möglich, Kopien von Dokumenten auf Normalpapier anzufertigen. Und das zu Kosten, die nur einen Bruchteil dessen betrugen, was für Blaupausen zu zahlen war. Das Patent zur Erfindung von 1938 wurde 1942 erteilt, aber erst 1959 kam der erste Fotokopierer aus Massenfertigung auf den Markt – und wurde ein gigantischer Erfolg. Die Firma Rank Xerox (vorher Xerox Corporation) baute diesen Erfolg mit immer neuen, immer besseren und schnelleren Maschine, die immer preiswerter kopierten, über die Sechzigerjahre so aus, dass aus dem kleinen Laden ein Weltkonzern wurde. Und weil Rank Xerox das Patent hielt und zunächst keine Lizenzen vergab, war die Firma Monopolist in Sachen Fotokopie. Die hieß in Deutschland übrigens von Amts wegen „Ablichtung“. So wurden Kopien auch in der Behörde genannt, in der zu jobben ich mehrere Jahre das Vergnügen hatte. Zunächst gab es keinen eigenen Kopierer im Amt, die Ablichtungen wurden extern bei einem Dienstleister angefertigt. Erst 1973 oder 1974 bekam das Schulkollegium beim Regierungspräsidenten ein eigenes Gerät, das in der Poststelle aufgebaut wurde und nur von zwei speziell geschulten Kollegen bedient werden durfte.

Ich lernte alles über den Umgang mit diesen Höllenmaschinen – vor allem die verschiedenen Techniken für den Umgang mit Papierstaus – bei meinem Job für das Irak-Projekt der Mannesmann Anlagenbau. Damals konnte man einen Xerox-Kopierer nicht kaufen, sondern nur mieten. Das brachte dem Unternehmen einen gleichmäßigen Strom Einnahmen und dem Mieter die Sicherheit, sich um die Funktionsfähigkeit des Kopierers nicht kümmern zu müssen. Allerdings lagen die Kosten für eine einzige DIN-A4-Kopie um 1975 herum bei fast einer Mark! Alle technischen Weiterentwicklungen führten aber nicht nur zur Verbesserung der Maschinen, sondern auch zu drastischen Kostensenkungen. Wohlgemerkt: Zu jener Zeit standen noch keine Kopierer in Schreibwarenläden und Uni- oder Stadtbibliotheken – Normalbürger hatten praktisch keinen Zugang zu den Geräten, es sei denn, sie arbeiteten bei einem Xerox-Mieter, der das Anfertigen von Kopien zu privaten Zwecken erlaubte.

Zwischendurch: Dreckige Rentenakten packen

Bevor es mich tatsächlich zu Rank Xerox verschlug, wirkte ich einen Sommer lang in den Katakomben eines gewaltigen Aktenlagers der Landesversicherungsanstalt auf der Ackerstraße, nahe beim Worringer Platz. Wer in jenen Jahren (in diesem Fall im Jahr 1978) einen Studenten- oder Aushilfsjob suchte, ging zum Arbeitsamt, das in einem düsteren Gebäude am Rande der Altstadt in unmittelbarer Nähe zur Kunstakademie residierte. Dort gab es eine spezielle Stelle für solche Zeitjobs. Man ging hin, kam dran, erzählte, was man so konnte und was man gerne täte, und erwähnte noch den angestrebten Zeitraum. Dann bekam man in der Regel drei, vier Angebote – vom Vermittler handschriftlich auf Formblätter geschrieben. Bei den angegebenen Firmen rief man an, fragte nach dem Verdienst und verabredete, falls passend, einen Termin. Nicht selten konnte man dann sofort anfangen, jedenfalls wenn man die Lohnsteuerkarte gleich dabei hatte.

Im Sommer 1978 war mein Geld knapp, weil ich kein Bafög mehr bekam. Also wollte ich die Kasse durch einen möglichst lukrativen Job auffüllen. Da hörte sich der Stundenlohn, den die Firma Rytina aus dem Stuttgarter Raum zu zahlen bereit war, ausgesprochen attraktiv an. Eine ganze Bande von Studenten, Lebenskünstlern und jungen Menschen im Übergang traf sich an einem Tag im Mai in einem vergammelten Büroraum in einem Hinterhof. Ein kleines, dynamisches Männlein mit schwarzen Haaren und einem zu warmen Jackett empfing uns und erzählte, was es mit den verschiedenen Jobs auf sich hätte. In den mehrstöckigen Kellern unter den Hinterhofgebäuden, so der Rytina-Angestellte, lagerten Hundertausende Rentenakten. Um Platz zu sparen und den Zugriff auf einzelne Dokumente zu erleichtern, sollten diese Akten nun aufbereitet und in einem modernen Fahrregallager untergebracht werden. Ein Teil der Aushilfen, vor allem die Frauen, hätten die Aufgabe, Akte für Akte aus dem alten Pappdeckel zu nehmen und in einen stabilen, modernen Hängeordner zu heften. Der andere Teil der Leute, also die Kerle, sollten die Akten aus den Kellern holen und die aufbereiteten Ordner dann in die neuen Aktenschränke hängen.

Nun ist ja der Staub auf Akten sprichwörtlich, aber was sich auf Heftern ablagert, die teilweise über 30 Jahre in einem Tiefkeller vor sich hin moderte, hat eine andere Qualität. Mäuse- und Rattendreck zählt da noch zu den weniger ekligen Dingen. Die Höhlen hatten eine Ordnung. In der untersten – ich meine mich zu erinnern, dass es drei Kellergeschosse gab – Etage lagerten die ältesten Jahrgänge. Das gab es Dokumente über Menschen, die um 1880 geboren wurden. Und je höher man kam, desto mehr Stücke pro Jahrgang gab es, sodass aus der Sortierung nur nach Jahrgang und Geburtsdatum eine nach Geburtsdatum un Alfabet des Nachnamens wurde. Wie man sich denken kann, enthielten die jüngsten Akten die Dokumente der Leute, die aktuell Rente kassierten.

Dreckig und anstrengend

Es war eine enorm dreckige und anstrengende Arbeit. Wir wirkten in Zweiterteams. Einer griff die Aktendeckel aus den Stahlregalen und übergab sie an den anderen, der die Dinger in spezielle dafür angefertigten Kunststoffkisten unterbrachte. Auf einen Hund – so nennt man bekanntlich die Rollbretter zum Transport von Möbeln – passte je eine Kiste, die Mutigen unter uns fuhren Türme von sechs, sieben Kisten übereinander. Das alles im Akkord. Es gab Tages- und Wochenziele, wurden die nicht erreicht, gab’s den Grundlohn, die Einhaltung der Ziele wurde mit einem Bonus belohnt, der bei Übererfüllung bis auf das Doppelte des Stundenlohns ansteigen konnte. Da wir alle zwar Bock auf Kohle, nicht aber auf Stress hatten, legten wir es immer nur darauf an, die Ziele zu erreichen. Wer als Streber versuchte, mehr zu schaffen, wurde kollektiv ausgebremst. Statt dessen bemühten wir uns um Spaß an der Arbeit. Wir fuhren wilde Rennen in den Gängen zwischen den Regalen auf unseren Rollbrettern. In den Räumen der Umhefterei war immer auch Alkohol im Spiel. Und die Pausen wurden soweit möglich ausgedehnt. Der Rytina-Mann, der seinen Vorgesetzten offensichtlich einen Endtermin versprochen hatte, der nur durch Übererfüllung der Planzahlen zu erreichen gewesen wäre, sah seine Felle wegschwimmen und wurde zickig.

Wer ein paar Minuten zu spät kam, wurde abgemahnt. Ein Kollege, der sich krankschreiben ließ, wurde gekündigt, und er stellte mehr Leute ein, die weniger verdienten und umso mehr schufteten, um wenigstens dieselbe Kohle zu kriegen wie wir. Das Klima war vergiftet. Es kam zu Kloppereien mit den Neulingen und schließlich zum Streik. Unser Chef neigte zur Transpiration – und zwar umso mehr, je doller er sich aufregte. Als er mitten im Streik – die Streber sorgten dafür, dass es wenigstens ein bisschen weiterging – im Sortierraum eine Besprechung abhielt, hielten mehrere von uns selbstgemalte Schilder hoch, auf denen stand „Wer schwitzt, brennt nicht“. Das brachte ihn aus der Fassung. Und vom nächsten Tag an stellte er alle Disziplinierungsmaßnahmen ein und ließ uns einfach machen wie wir wollten. Ja, ab diesem Zeitpunkt tauchte er nur noch freitags auf, um nach dem Rechten zu sehen, die Zahlen zu kontrollieren und den Wochenlohn auszuzahlen. Das alles mit dem Ergebnis, dass die Mannschaft beinahe doppelt so schnell arbeitete wie zuvor, dafür täglich ein bisschen kürzer, um ein wenig gemeinsame Freizeit mit ner Flaschen Bier in der Sonne auf dem Hof zu genießen. Außerdem holten wir so gut ein Drittel mehr Lohn raus als im Normalbetrieb. Am Ende waren wir drei Tage vor dem geplanten Zeitpunkt fertig. Der Schwitzemann von Rytina war glücklich, bedankte sich, und jeder aus der Stammmannschaft bekam eine Schlussprämie in Höhe von 100 Mark.

Ein wilder bunter Haufen

Es war ein wilder, bunter Haufen. Da gab es ein blutjunges Ehepaar vom Hellweg, beinahe klischeehafte Proleten, aber unheimlich lieb, die den Verdienst in die Anschaffung von zwei identischen Mofas anlegten. Oder den gut gekleideten älteren Gentleman, von dem niemand wusste, woher er kam und weshalb einen solchen Job angenommen hatte. Zwei Schwestern, die sich als Hippies verstanden und in Zelten am Rheinufer lebten. Einen altstadtbekannten Säufer und Maulhelden, der nach einer Stunde Arbeit erstmal eine Stunde pennen musste, was er im hintersten Winkel der untersten Etage auf von ihm persönlich dort gestapelten Altakten tat. Einen hochaggressiven jungen Mann, der sich während des Sommers entschied, zu den Bullen zu gehen, und der mir Jahre später bei der Räumung einer illegalen Hausbesetzerfete feindlich gegenüber stand. Die Theologiestudentin, die nur das Eine im Kopf hatte. Die wunderschöne, nach einem ganzen Jahr auf Ibiza braun gebrannte B. mit dem schweren Sprachfehler. Vier Monate dauerte der Job, und in der Zeit fand jede Woche mindestens eine Party oder ein Saufabend in der Altstadt statt. Von zwei Kollegen aus der Zeit weiß ich, das sie inzwischen gestorben sind. Das Pärchen aus Flingern – es hat insgesamt fünf Kinder – habe ich über die Jahre immer wieder mal getroffen. Bei drei Frauen weiß ich zumindest, dass sie noch in der Stadt sind. Ob die noch bestehende Firma Rytina dieselbe Firma Rytina von damals ist, weiß ich nicht. Und an den Namen unseres Vorgesetzten erinnere ich mich nicht.

Im Winter schlug mir mein Arbeitsvermittler dann einen Job vor, der nicht auf ein paar Monate begrenzt war. Auch wenn es keine feste Stelle sei, so wäre der Job erst zu Ende, wenn er wirklich komplett abgeschlossen sei. Und das könne gut ein Jahr dauern. Bei der Firma Rank Xerox werde eine Taskforce aus pfiffigen jungen Leute gebildet, die Vorarbeiten für eine computergestützte Verwaltung der Mietkopierer leisten sollten. Der Verdienst war bombig, das Mittagessen in der hervorragenden Kantine kostenlos. Genau wie die Produkte aus dem Heißgetränkeautomat. Zudem könnten wir natürlich jederzeit die Kopierer im Büro auch für private Zwecke nutzen. Dass es noch besser kommen sollte, wusste ich am Anfang noch nicht. Einsatzort war eines der Rank-Xerox-Gebäude, von denen es in und um Düsseldorf herum mehrere gab. Es lag in Heerdt an der Werftstraße und war mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen.

Stadtpläne und Postleitzahlen

Die Taskforce und den Job gab es nur, weil Xerox-Kopierer damals ausschließlich zu mieten waren. Denn es ging darum, die Standorte aller Maschinen EDV-mäßig zu erfassen, um anschließend eine individuelle Historie jeden einzelnen Geräts im Computer speichern zu können. Das sollte zu einer Optimierung von Vertrieb und Kundendienst führen. Zu diesem Zwecke sollte ganz Deutschland in Zellen aufgeteilt werden, in denen jeweils ungefähr dieselbe Anzahl Xerox-Kopierer stand. Basis waren die – damals noch mit vierstelligen Zahlen versehenen – Postleitgebiete. Zwar existierten PLZ-Gebiete, in denen nur eine Handvoll Maschinen betrieben wurden, aber außerhalb der Metropolen war die Verteilung schon recht gleichmäßig. Nur in den fünfzig größten Städten der Bundesrepublik funktionierte das Verfahren nicht. Also sollten diese Orte ebenfalls nach Gerätezahl in Zellen geteilt werden. Dazu musste zunächst festgestellt werden, wo welche Geräte aufgestellt waren. Das war in langen Listen verzeichnet, die jeweils den Standort sowie die Seriennummer des Kopierers enthielten und aus der existierenden EDV stammten.

Unsere Aufgabe war es nun, Eintrag für Eintrag nachzusehen, in welcher Zelle sich einer der aufgeführten Standorte befand, um der jeweiligen Maschine die entsprechende Nummer beizufügen. Und das ging so. Jeweils drei Leute bildeten ein Team. Jeweils ein Teammitglied stand an der Wandtafel, an die der jeweilige Stadtplan geheftet worden war. In diesem Plan waren die (provisorisch festgelegten) Zellen innerhalb des Ortes markiert. Abwechselnd nannte einer der beiden anderen Kollegen eine Adresse aus der Liste, der Kollege bzw. die Kollegin – denn wir waren ziemlich gleich viele Männer und Frauen – suchte den Standort und gab die Zellennummer zurück. Während die Nummer verzeichnet wurde, nannte der andere Listenmensch die nächste Adresse. Und so weiter. Weil die Arbeit am Plan ausgesprochen viel Konzentration erforderte, wurde im Team etwa alle halbe Stunde durchgewechselt.

[Fortsetzung folgt…]

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