Karneval im Rheinland hatte schon immer auch etwas mit sexuellen Abenteuern zu tun, das steht fest. Denn was sonst schlägt der Karnevalssänger Dietmar Kivel in seinem Schlager „Du darfst mich lieben für drei tolle Tage“ von 1951 vor, wenn er anfügt „Nur nach dem Namen frag mich bitte, bitte nicht“? Es geht um Promiskuität, um das schnelle Abenteuer, den One-Night-Stand oder auch den Quickie hinter den Brettern einer Baustelle in den Jahren des Wiederaufbaus. Daran hat sich über die Jahre wenig geändert. Immer schon und immer noch machen gerade jüngere Leute beim Karneval in Düsseldorf und Köln und den anderen Hochburgen des rheinischen Winterbrauchtums beim Straßenkarneval mit, um wechselnden Geschlechtsverkehr zu haben. Das gilt übrigens ebenfalls immer schon für Leute beiderlei Geschlechts. Und davon soll in einer Handvoll Anekdoten, Erinnerungen und Geschichten die Rede sein. Wen das ein oder andere Verzällchen im Folgenden nicht wahr ist, dann ist es in bester Absicht erfunden und repräsentativ für die jeweilige Zeit. Die Ähnlichkeit der genannten Figuren mit lebenden oder toten Menschen ist dabei unvermeidbar, auch beabsichtigt, aber durchweg nett gemeint.

Kivel, Dietmar - Du darfst mich lieben für drei tolle Tage

1952: Beginnen wir mit einem jungen Mann von etwa 25 Jahren, der nach sieben Jahren Kriegsgefangenschaft zurück nach Deutschland kommt und absolut zufällig in Düsseldorf landet. Erwin, nennen wir ihn einmal so, arbeitet auf dem Bau und hat keine Braut. Genauer: Er hat überhaupt noch keine sexuellen Erfahrungen. Ein rheinischer Kollege rät ihm, sich an Altweiber in die Altstadt zu begeben, da wäre schwer was los. Erwin gerät in eine Gruppe Gleichaltriger, sechs junge Damen und vier befreundete Herren, die direkt am Jan Wellem bei bestem Wetter kräftig schunkeln und Alt aus Flaschen trinken. Außerdem kreist eine Flasche Chantré, und alle rauchen ununterbrochen Zigaretten. Am frühen Nachmittag sind alle einigermaßen beschwipst. Einer der Kerle schlägt vor, in seiner Bude weiter zu feiern. So landen alle in einer Baracke auf dem Gelände einer Baufirma in Lörick. Die Gesellschaft hockt sich in den Aufenthaltsraum, einer schaltet das Radio ein, und bald bilden sich Paare, die zur Musik aus dem Rundfunk tanzen. Erwin hat ein Auge auf die Kleine mit den pechschwarzen Haaren und dem kecken Blick geworfen und fordert sie ein ums andere Mal auf. Jemand hat eine Pulle Steinhäger besorgt, und Erwin und Ingrid trinken Brüderschaft. Draußen wird es dunkel. Im Raum brennen nur ein paar Kerzen. Mitbewohner sind dazugekommen, haben Frauen mitgebracht, alle sind mehr oder weniger betrunken. Einige schlafen auf dem Boden oder im Sitzen, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Ein Liebespärchen kuschelt sich auf der durchgesessenen Couch unterm Fenster aneinander. Komm, sagt Ingrid zu Erwin und führt ihn in einen der Schlafsäle. Sie lieben sich, und Ingrid ist eine gute Lehrmeisterin. Erwin schläft ein, und als er im Morgengrauen wieder erwacht, ist seine Karnevalsliebe weg. Er wird sie nie wiedersehen.

1960: Erwin hat im Sommer 1952 Annie kennengelernt. Sie haben geheiratet, weil sie gleich beim ersten Mal schwanger geworden ist. Auch Annie kommt aus dem Osten, aus der Nähe von Elbing. Beide fühlen sich aber inzwischen in Düsseldorf ganz zuhause. Erwin hat eine tolle Anstellung in einem Architektenbüro gefunden und sich zum Bauzeichner weitergebildet. Beide lieben den Karneval und gehen mit ihren drei Kindern jedes Jahr zum Kö-Karneval und natürlich zum Rosenmontagszug. Dieses Jahr haben sie sich mit drei befreundeten Ehepaaren verabredet, um am Karnevalssamstag ein bisschen gemeinsam zu feiern. Man trifft sich bei den Hofmanns, weil die einen Fernseher haben. Erwin war vor Jahren ziemlich in Hannelore verschossen, die Frau seines Freundes Peter Hofmann. Dass Annie wiederum den Egon sehr anziehend findet, Hannelores Schwager, der mit ihrer Schwester Hilde verheiratet ist, ahnt Erwin nicht. Die Kinder spielen zusammen und feiern ihre eigene Party. Die Erwachsenen sitzen wie die Hühner auf der Stange dicht an dicht auf dem Sofa. Die Männer trinken natürlich Bier, für die Damen gibt es Weißwein. Dann kommen die unvermeidlichen Schnäpse und Liköre auf den Tisch, und die Stimmung lockert sich. Peter schlägt ein Spiel vor, bei dem der Verlierer einen Korn auf Ex trinken muss. Danach ein Pfänderspiel. Die Hemmungen fallen, und dann haben sich neue Paare gebildet, die auf den Sesseln miteinander knutschen und auf der Couch. Egon befummelt Annie, Erwin hat seine Hand im Schlüpfer von Hannelore und Hilde ist mit ihrem Schwager sogar im Schlafzimmer verschwunden. Im Radio laufen Schunkellieder, und nach Aschermittwoch hat keiner je wieder über diese Party gesprochen.

1967: Michael, der Sohn von Erwin und Annie, geht zum ersten Mal ohne die Eltern zum Kö-Karneval. Zusammen mit den Jungs aus dem Häuserblock, angeführt von Gerhard, der ist schon siebzehn. Die Älteren haben Flachmänner mit Doppelkorn dabei, Michael mit seinen dreizehn Jahren hat noch nie Alkohol getrunken. Das wird sich ändern. Außerdem, hat Gerhard gesagt, könne man sich in der Menge ganz prima an – wie er es ausdrückt – „Weiber“ ranschmeißen, die würden eh nicht merken, wenn man sie befummelt. Man hat sich um vier getroffen und ins Getümmel geworfen, ein Dutzend Burschen voller Tatendrang. Dann haben sie zu viert im Eingang zur Lichtburg zwei Mädchen in die Ecke gedrückt und verlangen gebützt zu werden. Die jungen Frauen wehren sich. Und was wie eine Neckerei beginnt, schlägt um. Gerhard und Uwe halten ihre Opfer fest, und die anderen holen sich die Küsse – nicht ohne ihre Hände auf die Brüste der Mädchen zu legen. In die Altstadt geht Michael nicht mehr mit. Die Großen erzählen an Aschermittwoch, der Gerhard habe auf dem leeren Grundstück vorne an der Ratinger „eine flachgelegt“.

1975: Michael hat mit neunzehn seine Jugendliebe Evelyn geheiratet, damit die von ihren Eltern wegkommt, weil ihre Mutter sie ständig verprügelt hat. Sie wohnen in Oberkassel auf der Schorlemerstraße in einer Dachwohnung und gehen gern im Viertel aus: Sassafras, Paul’s, Muggel. So auch am Karnevalssamstag diesen Jahres. Im Paul’s ist die Stimmung gut, wenn auch wenig karnevalistisch. Man hört die Musik, die sonst auch da läuft, man trinkt dasselbe, was man sonst auch dort trinkt, und kaum jemand ist verkleidet. Wie immer sitzen Evelyn und Michael an einem Tisch direkt neben dem Eingang. Gegen acht kommt ein Pärchen rein. Die beiden stellen sich dazu, und schnell kommt man ins Gespräch. Man findet sich sympathisch, und Peter und Ulli trinken auch gern in höherem Tempo. Michael verliebt sich sofort in Ulli, die so ganz anders ist als Evelyn: Groß und dunkelhaarig mit tiefbraunen Augen und einer sportlichen Figur. Aber am meisten hat es ihm ihr Lächeln angetan, das meist irgendwie spöttisch aussieht. Evelyn hat dagegen gleich Gemeinsamkeiten mit Peter entdeckt. Kurz vor eins verlässt man gemeinsam das Lokal und verabredet sich zum Rosenmontagszug. Auf der Bolkerstraße, von der Menge an die Wand bei der Auberge gedrückt, kommen sich die vier näher, paarweise, aber über Kreuz. Später landen sie in der Wohnung von Peter und Ulli. Man trinkt Sekt und bald knutschen die vier jungen Leute durcheinander. Michael schläft irgendwann Arm in Arm mit Ulli auf dem Sofa ein. Evelyn gesteht ihm eine Woche später, dass sie mit Peter geschlafen habe und dass sie ihn verlassen wird, weil Peter die Liebe ihres Lebens ist. Ulli und Michael haben auch zwei- oder dreimal Sex miteinander, um sich zu trösten, sehen sich dann aber nie wieder.

1984: Michael hat zwei Jahre nach der Scheidung Rita kennengelernt. Sie haben jetzt zwei Kinder und sind nicht verheiratet. Karneval bedeutete seitdem, mit den Sprösslingen ganz früh am Sonntag auf die Kö zu gehen, bevor es da wild wird, und den Rosenmontagszug an einem ruhigen Platz – zum Beispiel an der Berliner Allee Höhe Kreuzstraße oder sogar erst an der Kaiserstraße – zu gucken. Meist gibt es eine Party bei befreundeten Eltern am Samstag – alles sehr gesittet und spießig. Für dieses Jahr haben sich vier Elternpaare abgesprochen, gegenseitig auf die Kinder aufzupassen, damit die anderen an Karneval alleine ausgehen können. Michael und Rita haben sich mit Lis und Frank verabredet zum Ball am Freitag in den Rheinterrassen. Rita, die auch sonst lieber Hosen als Röcke trägt, geht als Sträfling. Lis, die einigermaßen eitel ist, hat sich schick gemacht, etwas doller geschminkt als üblich und eine kleine Narrenkappe in die Frisur gesteckt. Frank hat es bei einem Matrosenkäppi belassen und einer Stoffnelke im Knopfloch. Da hat sich Michael mehr Mühe gegeben: er trägt ein schwarzes Cape, einen Schlapphut und einen schweren Knotenstock. Sein Gesicht ist geschminkt wie das Phantom der Oper in diesem alten Film. Im Kuppelsaal spielt eine vielköpfige Band tanzbare Musik, Richtung Funk und Soul. Lis und Frank tanzen nicht, aber die beiden anderen schwofen mehrfach auf dem Parkett. Dann geht sich Rita die Nase pudern, und Michael holt sich einen Longdrink an der Bar. Da steht eine Frau, verkleidet als Robin Hood. Moosgrün und hauteng das Kostüm, das Hütchen keck auf den schwarzen Haaren. Sie lächelt Michael an, und der ist von den Socken, erkennt er doch in dieser Frau ein Ebenbild seiner Mutter. Später tanzt er den weiblichen Robin Hood mehrfach an. Er ist verliebt und kriegt wochenlang das Bild dieser Frau nicht aus dem Kopf.

1991: Olaf, der jüngere Bruder von Michael, ist wieder Single und hat dadurch ein schlimmes Hormonproblem. Dabei ist er der romantischere der beiden Brüder. Er muss sich verliebt haben, um scharf auf eine Frau zu sein. An Altweiber ist er morgens mit Jürgen verabredet. Der ist im Außendienst bei einem Fotokopiererhersteller mit Büros in Heerdt. Sie treffen sich um zehn am Burgplatz, denn Jürgen hat gesagt, im Schlösser an der Ratinger seien seine Kollegen und da gehe es immer tierisch ab. Außerdem gäbe es da ein paar Kolleginnen, die nicht in festen Händen seien, da wäre sicher was für Olaf dabei. Aber vorher trinken sie ein paar Alt auf dem Marktplatz in der Menge, die den Sturm der Möhnen aufs Rathaus feiern. Später im Schlösser-Saal, der eigentlich ein Hof mit Kopfsteinpflaster ist, ungeheizt, zugig und übelriechend, geraten sie dann die Gruppe der Kollegen. Zufällig landet Olaf neben Helen, einer Engländerin, und verliebt sich. Sie findet ihn auch ganz nett. Mit steigendem Alkoholspiegel schmachtet er sie immer mehr an. Man fährt rüber ins Bürohaus und feiert weiter, Olaf immer an Helens Seite, die deutlich weniger betrunken ist als er. Gegen vier sagt sie nur: Komm, zu mir nachhause. Sie sieht sich aus. Sie zieht ihn aus. Kaum liegt er nackt in ihrem Bett, schläft er ein – das Saufen hat ihn impotent gemacht.

2002: Rita und Michael haben sich getrennt. Er lebt allein in einem winzigen Appartement draußen in Hassels und ist dauerhaft deprimiert. Weil er aber dazu neigt, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, beschließt er, es dieses Jahr im Karneval so richtig krachen zu lassen. Mit seinem alten Kumpel Rolf will er von Altweiber bis Rosenmontag um die Häuser ziehen. Als Hippie hat er sich verkleidet mit Pluderhose, Batikhemd, Stirnband und Langhaarperücke. Am Sonntag gehen sie mittags auf die Kö, später dann in die Pinte, wo sie zwei Plätze ganz hinten bei den Klos finden. Zwei Frauen, die noch ein bisschen älter sind als Michael und Rolf mit ihren fast fünfzig Jahren, gesellen sich dazu. Irgendwann ist die Kneipe so voll, dass sie sich kaum noch bewegen können. Die hübschere der beiden Ladys sitzt neben Michael, nimmt seine linke Hand und führte sie sich zwischen ihre Beine. Ganz feucht ist sie, und Michael tut, was er kann. Später holt sie ihm auf dem Damenklo einen runter.

2011: Tatsächlich ist aus Olaf und Helen dann doch noch ein Paar geworden. Jürgen hat sie vor gut fünfzehn Jahren ein paar Mal zusammengebracht, und irgendwann hat es bei beiden gefunkt. Karneval haben sie seit jenem Jahr nie wieder wirklich mitgemacht, sondern sind meist nach Holland an die See geflüchtet. Aber in diesem Jahr haben sie beide Lust auf den Straßenkarneval. Olaf geht als Bär, das passt zu seiner Figur, und Helen hat sich als Hühnchen verkleidet. Sie schunkeln auf dem Marktplatz an Altweiber, sie ziehen am Sonntag ein paar Mal um die Kö, und am Rosenmontag stehen sie an der Friedrichstraße, haben Spaß, rufen „Helau“ und fühlen sich gut. Tagsüber trinken sie mäßig. Und am Aschermittwoch sind sie schon wieder ganz normal.

4 Kommentare

  1. mosterpoettchen am

    1952 „Chantrté“ von Ludwig Eckes 1953 eingeführt und nach dem Geburtsnamen seiner Ehefrau Marianne Chantré benannt