„Woher hast du den den Lutscher?” fragt Renate ihre kleine Schwester, aus deren Mund der grüne Stil der Zuckerkirsche rausschaut. Sie zieht den Lutscher raus, zeigt auf das große Mädchen, die mit zwei anderen Hüpfkästchen spielt und sagt: „Von Inge.“ Die dreht sich um und kommt die drei Schritte rüber. Renate sagt: „Warste wieder bei Überseekaffee klauen?“ – „Muss man nicht klauen, kriegste doch geschenkt.“ – „Ja, aber immer nur einen. Und ihr habt doch alle welche…“ Inge hebt die Hand: „Du kriegst gleich eine!“ Sie ist das Größte aller Kinder, aber nicht die Älteste. Ihr Bruder Wolfgang ist zum Beispiel älter, aber der spielt ja auch nicht mehr auf der Straße.

Höchstens Fußball – auf der Fahrbahn der Zimmerstraße, direkt vor der Einfahrt zur Kaffeefabrik Bommer. Da dürfen Siggi, Horsti und Ebse bloß zugucken, die großen Jungs lassen sie natürlich nicht mitspielen. Obwohl Ebse wirklich prima kicken kann. Als die Cornelius-Jungs im Sommer gegen die Hildebrandt-Truppe auf der Ballonwiese im Volksgarten ein Entscheidungsspiel gewonnen hatten, da hat Ebse vier der acht Tore geschossen. Da durfte er mitmachen. Ungerecht ist das, fanden die drei Freunde.

Siggi verschluckt sich dauernd an seiner Spucke. „Komm, nimm das Ding ruhig mal aus dem Mund,“ sagt Renate, „gilded trotzdem.“ Er spuckt das Ei in die Hand und betrachtet es ganz genau. Könnte sein, denkt er, dass sich die Schale schon auflöst. „Guck mal,“ sagt er zu Renate, „löst sich schon auf.“ Die Vorstellung, das rohe Eiweiß könne sich in seinen Rachen ergießen, lässt ihn erschaudern. „Quatsch,“ sagt die Freundin bloß, „ist doch aus Kalk. So wie der Speis von den Maurern. Da kannste Häuser mit bauen.“

Vorhin haben sie noch gesehen, wie die Männern den Mörtel auf der Baustelle an der großen Kreuzung hochgetragen haben. Einer steht immer an der Mischmaschine und gibt Kalk und Kies und Wasser hinein. Irgendwann dreht er den Behälter um und lässt den fertigen Speis in eine Blechwanne fließen. Wenn die Arbeiter kommen, stellen sie ihre Tragebehälter ab, und der Mann an der Maschine füllt sie auf. Dann nehmen sie die Dinger, die aussehen wie Formen für den Marnorkuchen, den die Mutter oft backt, auf die Schultern. Vorne ist ein Griff, und mit der rechten Hand halten sie so den Behälter in der Waage. Sie haben einen Weg aus Brettern angelegt. Der führt vom Mischer quer über das Chaos der Steine und Geräte ins Haus hinein, von dem jetzt schon zwei Geschosse stehen. Hinten geht’s aufs Gerüst, wo die Maurer schon warten. Ab und an holt dann einer neue Ziegelsteine. Die kommen auf ein Brett und werden dort mit einem Stück Seil gesichert.

„Altmodischer Kram,“ sagt Siggis Vater immer, der ja Maurerpolier ist, aber eine Ausbildung als Betonbauer gemacht hat. „Beton hat Zukunft,“ hat er neulich beim Frühschoppen zu Herrn Schulz gesagt. Aber der hat widersprochen: „Stein auf Stein ist solider.“ Vater hat nur gelacht und Herrn Schulz einen Doppelkorn ausgegeben. So oft nimmt er seinen Jüngsten am Sonntag nicht mit in die Kneipe, wo er hingeht, während die meisten anderen Männer in der Kirche sind. „Aberglaube,“ nennt er das, und Weihnachten wird in Siggis Familie nur gefeiert, weil die Mutter darauf besteht. Dann gehen sie auch alle in die evangelische Kirche an der Friedenstraße, die mitten zwischen den Wohnhäusern leicht nach hinten versetzt steht. Siggi friert da immer und langweilt sich, aber Mutti ist dann immer ganz gefühlig und weint sogar ein bisschen. „Um die verlorene Heimt,“ sagt sie dann.

Sein Vater leitet gerade das Gießen der Decken eines Neubaus an der Oststraße. Siggi hat ihn da auch schon besucht, durfte aber nicht mit hoch: „Zu gefährlich,“ hat der Vater gesagt und ihm dann genau erklärt wie das geht. Dass da zuerst die Eisenflechter kommen und die Monieriesen an die richtige Stelle und in die richtige Form bringen. Dass dann die Kanten durch Bretter angelegt werden. Dann kommt der Betonmischer. „Da trägt aber keiner das Zeug auf dem Buckel hoch,“ hat Vati ergänzt. An der Baustelle hat man einen Kran aufgebaut. Der hat einen speziellen Behälter für den Beton am Haken. „Passen genau zweieinhalb Kubikmeter rein,“ hat Siggi gelernt. Und wenn der Eimer – so nennt Vati das Ding – oben ist, öffnet der Vorarbeiter den Verschluss, und der Zement fließt zwischen die Eisen. „Muss schnell gehen. Und man muss genau arbeiten,“ hat der Vater betont, und Siggi hat gemerkt, dass er sehr stolz auf seine Arbeit ist. „Wir Arbeiter bauen die Stadt wieder auf,“ sagt er oft. Und Siggi findet, das stimmt.

Er findet komisch, dass die Spucke am Ei ganz schnell trocknet. Dann fühlt sich die Schale auch wieder ganz hart an. Vielleicht hätte er das Ei abwaschen sollen bevor er es in den Mund nimmt. Aber das ist jetzt auch egal. „Weiter?“ fragt er Renate, die ihn ja begleitet. „Gut, auf zur zweiten Runde,“ sagt die Freundin, und Klein-Elke fängt sofort wieder an zu flennen.

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