Tatsächlich ging ich in diesem ersten Semester jeden Tag in die Akademie. Das Schönste daran war der Weg. Ich wohnte damals immer noch in der Mansarde bei meiner Mutter, durchquerte also Pempelfort, die Sternstraße entlang und durch den Hofgarten. Da sah ich dann schon das merkwürdige Gebäude, diesen erdfarbenen Riegel mit den drei Treppenhäusern. Weder in der Kunstschule, noch im Klassenraum 1 fühlte ich mich zuhause. Schlimmer war es nur noch bei Vorlesungen. Die fanden entweder in der Aula statt oder im dumpfen Hörsäälchen ganz hinten. Egal wer da dozierte, ich verstand nichts und schlief meist ein. Mittags spazierte ich durch die Altstadt, und wenn ich ein bisschen Geld übrig hatte, leistete ich mir eine Schweinebrötchen oder ein Bier im Einhorn. Ich kannte niemanden in der Akademie, und niemand kannte mich. Es gab auch keinen einzigen Kommilitonen oder Kommilitonin, die mich wirklich interessierte. Die waren ja alle schon Künstler – wenigstens in Sachen Attitüde, Kleidung und Gesprächsstoff. Auch mit meiner künstlerischen Arbeit gibg es nicht voran, eher im Gegenteil. Wie auch in den richtigen Klassen üblich gab Frau Schiff uns Korrekturen. So nannte man es, wenn man der Professorin Arbeiten vorlegte und dazu Feedback bekam. Bei meinen schlimmen Bildern verdrehte sie meist die Augen und wusste nicht so recht, etwas zu sagen.

Akademieprofessorin Beate Schiff

Dieses Foto fand ich auf der Website der Uni Wuppertal; ganz rechts ist Beate Schiff zu sehen wie sie damals aussah

Gegen Ende des Semesters, es muss um Weihnachten herum gewesen sein, wurde sie geradezu wütend und sagte mit Dinge, für die ich ewig dankbar sein müsste, die mich aber damals zutiefst deprimierend: „Gehen Sie doch mal raus! Sie können ja gar nicht gucken! Die Bilder da draußen, sehen sie die denn nicht? Die Menschen, die Situationen, die Farben, das Licht! Gehen Sie doch mal durch die Altstadt oder durch die Schadowstraße. Und dann schreiben sie mal genau auf, was Sie gesehen haben. Vielleicht wird es dann besser mit ihrer Malerei.“ Ja, das hätte ich tun sollen. Und das Studium dann sofort beenden und irgendwas in Richtung Schriftstellerei oder Journalismus studieren. Aber ich war so vernarrt in die Idee, in die Vorstellung, Kunststudent zu sein, wollte genau dieses Image, und blieb. Professorin Schiff hatte mir klar gemacht, dass sie mich kein zweites Semester im Orientierungsbereich haben wollte. Also musste ich mir einen Professor oder eine Professorin suchen, die mich in ihre Klasse aufnahm. Denn das war notwendig: Keine Klasse, kein Kunststudium.

Auf der Suche nach der neuen Klasse
Also begann ich, systematisch alle Klassen abzuklappern und mich über die jeweiligen Professoren schlau zu machen. Es gab drei Geschmacksrichtungen bei den Klassen. Erstens die Klassen, bei denen die Studenten ihren Prof wie einen Guru betrachteten. Zweitens die Klasse Beuys. Und drittens die Klassen, in den die Studenten ihr Ding machten und sich nicht weiter am Professor störten. Natürlich hätte ich in die Beuys-Klasse wechseln können, immatrikuliert war ich ja, und nach wie vor nahm Beuys jeden auf. Aber die Situation mit über 200 Studenten in der Klasse brachte es mit sich, dass nur ein kleiner Teil überhaupt in der Akademie arbeiten konnte. Wobei, um es mal ganz klar zu sagen, maximal ein Drittel der Beuys-Schüler überhaupt aktiv künstlerisch arbeiteten. Ich war gern in der Beuys-Klasse, ich fand die Beuys-Schüler im Vergleich zum vorwiegend arroganten Rest der Kommilitonen erfrischend normal, feierwillig und lebensfroh. Da ich aber tatsächlich Kunst machen wollte und also einen Arbeitsplatz brauchte, kam die Beuys-Klasse eben nicht in Frage. Trotzdem würde ich mich immer noch als Beuys-Schüler bezeichnen, weil ich in den Akademiejahren mehr von Beuys gelernt habe als von meinen Professorinnen.

So landete ich in der Klasse Neumann. Professorin Ellen Neumann war eine rundliche Frau mittleren Alters mit einer frechen Kurzhaarfrisur in Grau, temperamentvoll, manchmal aufbrausend oder lauthals lachend, die weder in der Kunstgeschichte, noch in der Geschichte der Akademie größere Spuren hinterlassen hat. Damals sagte man, sie habe den Job nur bekommen, weil sie mit einem anderen Professor, also einem prominenteren, eine Liebesbeziehung habe. In Wahrheit gehörte sie einfach zu den Professoren, die nicht wegen ihres überragenden künstlerischen Rufs dort lehrten, sondern weil sie eben besonders gute Dozenten waren. Weil sie aber keine Promi war, sammelten sich bei ihr die Studenten fürs Lehramt, die ohnehin keinen Schwerpunkt auf die eigene Arbeit legten und die etwas neben der Spur arbeitenden für die es keinen passenden Prof gab. So fand sich in Raum 16, einem der wenigen Klassenräume, die nach Süden hinaus gingen, also direkt neben dem mittleren Treppenhaus lagen, ein bunter Haufen ganz unterschiedlicher Leute. Da fühlte ich mich gleich wohl, weil es in der Klasse Neumann eben nicht vor fertigen Künstlern nur so wimmelte, sondern die Mehrheit – so wie ich – auf der Suche nach der Kunst waren.

Soziales Gemeinschaftsleben statt künstlerischer Einsamkeit
Das war mir alles angemessen. So wurde ich im Sommersemester 1972 in der Akademie heimisch. Natürlich kannte ich jetzt auch die kleinen und großen Geheimnisse, kannte die Wege und Räume, hatte mich an die merkwürdigen Umgangsfromen gewöhnt und sah die Chance, wirklich einen eigenen Weg in die Kunst zu finden. Und so vielleicht auch um das blöde Lehramt herumzukommen. Das ich ja nur anstrebte, weil ich mir ein Leben als freischaffender Künstler nicht vorstellen konnte, weil ich Angst vor dem Scheitern und der Armut hatte und vielleicht auch, weil mir insgeheim klar war, dass ich einfach nicht begabt genug war. So „vergaß“ ich auch, das Studium für ein zweites Fach aufzunehmen. Denn um wirklich Lehrer werden zu können, müsste ich ja neben der Kunst ein zweites Fach studieren und ein entsprechendes Examen ablegen. Die Vorstellung aber, auch noch in die Uni zu müssen (die ja damals noch über ganz Düsseldorf hinweg verstreut war), gefiel mir gar nicht.

Zumal ich ja auch noch für meinen Lebensunterhalt sorgen musste. Im Jahr nach dem Abitur bekam ich ziemlich genau 220 DM Waisenrente, die ich komplett meiner Mutter überließ, die außerdem für mich Kindergeld bekam. Dafür durfte ich die 130 DM, die ich ab dem Sommersemester 1972 an Bafög bekam, als Taschengeld behalten. Übrigens: Ich zählte zu den allerersten Studenten, die dieses Bafög als Vollzuschauss erhielten, den man nicht zurückzahlen musste. Gerade im Herbst 1971 hatte die Sozialliberale Koalition diese Förderung eingeführt, die das Honnefer Modell anlöste, bei dem Ausschüsse festlegten, ob jemand was bekam oder nicht. Von den 170 DM Bafög musste ich aber (außer Miete und Essen beim Muttern) alles bezahlen; bei einem Bierpreis von 80 Pfennig pro Alt und einer Mark fürs Schweinebrötchen blieb da nicht viel. Deshalb jobbte ich nicht nur in allen Semesterferien, sondern – falls sich etwas anbot – auch während des Semesters.

Dafür verbrachte ich aber fast die ganze Zeit in der Akademie, in der Nähe der Akademie oder zusammen mit anderen Akademiestudenten. Unsere Meile war die Ratinger Straße, die damals ohnehin fest in der Hand der Kunststudenten war. Während man am speißigen Füchschen mit den schlecht riechenden alten Männern rasch vorbeiging, waren das Einhorn und die Uel feste Stationen: morgens, mittags, abends und auch nachts. Der Ratinger Hof war dagegen was für Hippies und Linksradikale, die dort auf verschlissenen Sofas hockten, sich die Kante gaben und schwierige Diskussionen führten. Erst so ab 1974 ging ich dann auch mal in den Hof, der 1976 und 1977 so etwas wie mein Wohnzimmer wurde.

Die Entdeckung der Malerei
Mein Freund Jörg, ja, der hatte schon als Teenager „richtig“ gemalt, also mit Farben aus der Tube auf Leinwand – in „Essig und Öl“ wie ich es ausdrückte. Das konnte ich mir nicht leisten und hatte auch eine Heidenangst vor diesem Material. Mehr aus Zufall belegte ich im Sommersemester 1972 einen Kurs in Maltechnik, der mir sehr viel Spaß machte und jede Furcht nahm. Wir lernten Kleilrahmen zu bespannen, die Leinwand zu grundieren, den Umgang mit Ölfarben und Terpentin, mit Acrylfarben und geeigneten Lösungsmitteln, mit Pinseln, Messern und Spachteln und wie man ein fertiges Genälde mit Firnis haltbar macht. Es roch da immer so gut, in der Malwerkstatt. Bis heute stimmt mich der Geruch von Terpentin fröhlich. Das Beste aber: Während des Kurses konnten mir mit dem Material rumsauen wie wir wollten. Ja, wir konnten die auf Kosten der Akademie bespannten Leinwände mit in die Klasse nehmen und daran arbeiten. Und ich staubte mit Genehmigung des Dozenten gleich ein ganzes Bündel nicht mehr so guter Pinsel ab. Professor Neumann, die meinen Eifer mit Wohlgefallen sah, versorgte mich mit Farbresten in ausgetrockneten Tuben; wie man die wieder brauchbar machte, hatte ich gerade gelernt.

Und so saß ich plötzlich auf einem Original-Akademie-Dreibeinhocker vor einer Original-Akademie-Staffelei, auf der eine weiße Leinwand von etwa 50 mal 50 Zentimetern stand. Und hatte keine Ahnung, was ich malen sollte. Über Wochen stand dieses Ensemble in meiner Arbeitsecke im Raum 16. Ich begann zu zeichnen. Meine Mansarde, unser Wohnzimmer, Szenen in der Kneipe, was ich draußen sah. In meinem persönlichen Stil. Kaufte mir einen ordentlichen Skizzenblock und eine Auswahl guter Bleistifte, und begann draußen zu zeichnen. Keine Menschen, nur Stilleben, Landschaften und Architektur. Und beschloss, den Wohnzimmerschrank meiner Mutter zu malen. Übertrug also eine Zeichnung auf die Leinwand und… Hatte keine Ahnung, wie weiter. „Sie haben Angst vor der weißen Leinwand“, sagte Ellen Neumann, „das ist ganz normal. Grundieren sie einfach in einer anderen Farbe.“ Das war ein guter Tipp, der mich bis fast ans Ende meiner Karriere als Kunstmaler begleiten sollte. Ich entwickelte einen rosagrauen, hässlichen und neutralen Farbton und färbte die Leinwand damit ein (im Bild sieht man die Farbe in dem Quadrat in der Tür, das ein Fenster darstellen soll). Dieser Ton war so unangenehm, dass ich anfing zu malen, um den zu überdecken, auszulöschen.

Aber malen konnte ich ja gar nicht. Walter Rabbe hieß ein Kommilitone in der Klasse, der großer Dalì-Fan war, aber auch den deutschen Romantikern anhing, Caspar David Friedrich zum Beispiel. Und der konnte malen! Fotografisch exakt. Schicht um Schicht lasierend bis noch das kleinste Stückchen Himmel Tiefe bekam. Der geradezu ein Fanatiker in Sachen Maltechnik war und alle Tricks konnte. Oder Petra Musebrink, damals fast eine Generation älter als wir anderen, die von der Gebrauchskunst her kam, aber eben auch alles fotorealistisch malen und zeichen konnte. Genau wie unegfähr die Hälft der Mitschüler. Also beschloss ich, so zu malen, wie ich es wollte und konnte und mich einen Dreck darum zu scheren, ob das auch so eindrucksvoll sei wie die feinstteiligen Gemälde von Walter. Jedes Lob, das ich von Frau Neumann bekam, bestärkte mich in diesem Weg. Ich entwickelte einen Blick für Dinge und Szenen, den sie „lakonisch“ nannte, und kam so zu Bildern, die einfach so für sich standen. Ich hatte die Malerei für mich entdeckt!

[Das Bild, im Original etwa 30 Zentimeter breit, ist Teil einer Serie von Ölbildern mit Interieurs aus dem Jahr 1972; eines davon kaufte Akademiedirektor Kricke während des Rundgangs 1973 für den Bestand der Sammlung der Akademie an – ich bekam 200 DM dafür…]

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