Sie treffen sich jeden zweiten Freitag im Monat um 19 Uhr „unorganisiert“ auf dem Fürstenplatz, um für knapp anderthalb Stunden die Innenstadt ein Stück weit dem Autoverkehr abzutrotzen und friedlich für sich zu erobern. „Critical Mass“ nennt sich die weltweite Bewegung, die auch in Düsseldorf seit mehreren Jahren mehr und mehr Fuß, sprich: Rad fasst. Dass diese Tour in der Tat „völlig unorganisiert“ und ohne Anmeldung bei den Behörden und der Polizei als spontane Radtour vonstatten geht, ermöglicht der § 27 StVO, wonach einem für andere Verkehrsteilnehmer erkennbarer geschlossener Verband von mehr als 15 Fahrrädern verkehrstechnisch und rechtlich der Status eines einzelnen Fahrzeugs zukommt, der – wie auch etwa ein Sattelzug – geschlossen die Kreuzung überqueren darf, auch wenn die Ampel inzwischen Rot zeigt. Überdies entfällt für einen solchen Verband jegliche Radwegbenutzungspflicht nach § 2 Abs. 4 StVO, wobei die Teilnehmer zusätzlich paarweise nebeneinander eine ganze Fahrbahnbreite für sich beanspruchen dürfen.

Zwei Stunden lang fahrradgerechte Stadt

September 2014 - Start Helmholtzstraße

September 2014 – Start Helmholtzstraße

Gestern gab es einen neuen Rekord der Düsseldorfer Critical Mass zu verzeichnen: 153 Teilnehmer starteten bei frühlingshaften Temperaturen am bisher wärmsten Tag des Jahres gutgelaunt mit Musikbegleitung und lautem Geklingel vom Fürstenplatz aus Richtung Innenstadt. Autofahrer mussten des öfteren länger vor der Ampel warten, bis der Fahrrad-Pulk die Kreuzung überquert hatte. Fußgänger staunten häufig nicht schlecht über das für ihre ansonsten eher als „autogerecht“ berüchtigte Stadt ungewohnt massive Fahrradaufkommen. Manche klatschten, winkten und riefen den TeilnehmerInnen aufmunternd zu und auch aus den Straßencafes und –kneipen kam immer wieder fröhlicher Beifall. Sogar manche Automobilisten, die ja nun warten mussten, nickten belustigt oder unterstützen hupend und lachend das Peloton der Radler.

Kaum Probleme
Der eine oder die andere unverbesserliche PS-CholerikerIn konnte, wie üblich, nur durch sanften Druck der Ordner-Radler im einen oder anderen Fall daran gehindert werden, mit ihrem Fahrzeug verkehrswidrig in den geschlossenen Pulk einzuschwenken, diesen gefährlich zu kreuzen oder die TeilnehmerInnen auf andere Art zu nötigen. In der Regel konnten die blitzschnellen Ordner jedoch solche Situationen freundlich deeskalieren und auch die Kreuzungen jeweils ohne Mühe für die Radler freihalten.

Rund ums Fahrradbarometer

Ehrenrunde beim Fahrradbarometer am Rheinufer

Ehrenrunde beim Fahrradbarometer am Rheinufer

Die Route wird jeweils unterschiedlich – geheim – im Vorfeld zusammengestellt und geht einmal weit nach Oberkassel hinein oder schwenkt ein anderes Mal tief in den Osten nach Eller oder Wersten. Am Ende wird aber stets die Innenstadt in verschiedene Richtungen auf den großen Autotrassen durchquert. Rund 15 bis 20 Kilometer weit wird gemächlich aber stetig geradelt, abgebremst jeweils nur, wenn die Spitze vor einer rote Ampel haltmachen muss.

Gestern ging es am Rheinufer vor dem Kit am „Fahrradbarometer“ vorbei, wo es für die TeilnehmerInnen Ehrensache war, mindestens eine Zusatzrunde zu drehen und damit den Zähler in die Höhe zu
jubeln. Dass einmal laut klingelnd die Kö entlang geradelt wird, gehört zum Understatement jeder Tour, ebenso wie übermütig mit ohrenbetäubendem Lärm durch die eine oder andere Bahnunterführung und am Ende zurück zum Fürstenplatz.

„Steigender Zuspruch“
Auch Daniela O. ist „von Anfang an mit dabei“ und war diesmal wieder als Ordnerin aktiv. „Es geht bergauf. Wir werden immer mehr“, meint sie begeistert und hofft, „dass es irgendwann einmal viertausend Radler wie in Hamburg sein werden, wo es zwanzig Minuten dauert, bis die eine Kreuzung überquert haben.“ Insgesamt „spürt“ Daniela „steigenden Zuspruch zu diesem friedlichen Protest“.

[© Günther A. Classen / Fotos: TextUnion]

8 Kommentare

  1. Lese das gerade fast vor dem Fahrrad Barometer(kannte ich noch nicht) Auf dem kurzen Weg vom Schlachthof bis hier hab ich mich mindestens 5 mal über auf dem Radweg parkende Karren geärgert

    • Günther A. Classen am

      Hi,

      ist ja auch der übliche Alibi-Unfug. Kostet jede Menge Geld und bringt nichts, als Radfahrern und Fußgängern zu zeigen: „Hier fahren Radfahrer“. Aaaaah, ja!

      Bei rücksichtslosen Radwegparkern hilft nur böse Blockwart-Selbsthilfe: Foto und per E-Mail anzeigen.

      Gerade die Überwachung des Parkverkehrs, insbesondere des behindernden Parkverkehrs gehört schließlich zu den vornehmsten Aufgaben des Städtischen Ordnungsdienstes.

  2. Danke für den sehr zutreffenden Artikel; macht richtig Lust auf Kritische Masse. Als Mitradelnde der ersten Stunde empfinde ich allerdings zwei Kleinigkeiten anders:

    Die Route wird jeweils unterschiedlich – geheim – im Vorfeld zusammengestellt

    Die Route wird während der Fahrt spontan und gemeinsam entwickelt. Wer mitbestimmen möchte fährt einfach nach Vorne und bringt sich ein. Es gibt keine „Chefs“, die im Vorfeld eine Strecke planen.

    In der Regel konnten die blitzschnellen Ordner jedoch solche Situationen freundlich deeskalieren und auch die Kreuzungen jeweils ohne Mühe für die Radler freihalten.

    Wir haben auch keine festen „Ordner“. Eine Critical Mass ist darauf angewiesen, dass alle ein wenig mithelfen.
    Als neue_r Teilnehmer_in versteht man schnell, wie das Absichern von Kreuzungen funktioniert. Wenn eine Einmündung nicht gesichert ist, einfach dort anhalten und ggf. ein paar freundliche und deeskalierende Worte sagen (oder auf den „Geschlossenen Verband“ nach StVO hinweisen), wenn ein_e Autofahrer_in sich unrecht behandelt fühlt.

    In diesem Sinne sind alle Mitfahrenden irgendwie Ordner.
    Natürlich gibt es da engagierte und weniger engagierte, was es aber definitiv nicht gibt sind offizielle „Ordner“.

    Viele Grüße,

    Lena

    • Günther A. Classen am

      Danke, Lena, für den freundlichen Kommentar und die Korrekturen.

      „Die Route wird während der Fahrt spontan und gemeinsam entwickelt. Wer mitbestimmen möchte fährt einfach nach Vorne und bringt sich ein. Es gibt keine “Chefs”, die im Vorfeld eine Strecke planen.“

      ;-)))

      Beispielhaft, dass sich an der Spitze alle offensichtlich immer „spontan“ verständigen.

      Im täglichen Leben können sich häufig schon zwei Menschen nicht auf eine Richtung einigen. ;-)))

      • Hallo Günther.

        Du kannst dich gerne darüber ein wenig lustig machen. Mich würde dann aber interessieren, ob du auch mal ein Stück vorne mitgefahren bist…

        Lena.

        • Günther A. Classen am

          Hallo, Lena,

          vorne mitgefahren bin ich, nicht nur letzten Freitag.

          Mir schien das jedes Mal erstklassig „organisiert“, daher mein amüsierter Smiley. „Lustig“ gemacht, habe ich mich nicht, obwohl es meist lustig war.

          Dass Anarchie derart gut und selbstverständlich funktioniert, hat mich dann eher beeindruckt.

          Im Mai werde ich das jetzt natürlich einmal ganz aufmerksam beobachten.

          Grüße