Meinen Eltern, die aus Ostpreußen beziehungsweise Pommern stammen und 1948 ganz zufällig im Rheinland landeten, muss dieser ganze Karnevalsquatsch sehr merkwürdig vorgekommen sein, denn im Osten war derlei Treiben gänzlich unbekannt. Vielleicht haben sie mal ein paar Bilder vom Kölner Zoch in der Wochenschau gesehen, aber dann den Rosenmontagszug in Düsseldorf in echt zu erleben, muss sie beeindruckt haben. Nun war besonders mein Vater erheblich integrationswillig und wollte sich voll und ganz mit den Düsseldorfer Gepflogenheiten verbinden. Da kam ihm zugute, dass er den Brauereierben Erich Paefgen kennenlernte, und der war 1951 Prinz Karneval. So kam mein Vater nicht nur zu seinem Job als Haus- und Hofarchitekt der Hirschbrauerei, sondern auch mit dem hiesigen Brauchtum vertraut gemacht. In der Praxis des Winterbrauchtums hieß das: Die Eltern waren ein ums andere Mal zum Feiern aushäusig, und am Rosenmontag ging’s zur Ecke Adersstraße beim Hotel Eden.

Die Verkleidung meines Vaters [siehe Foto – Klick macht’s groß] bestand aus einer Narrenkappe und einer weißen Papiernelke am Mantel. meine Mutter steckte sich irgendwas an den Hut. Wir Jungs waren natürlich Cowboys. Gekauft waren Hut und Revolver, alles andere schneiderten und bastelten die Anverwandten. Der aufgemalte Schnurrbart musste sein. Kleinere Kinder wie meine Schwester steckte man gern in Clownskostüme, die aus extrem kratzigem Material geschneidert waren. Von den Wagen regnetes es Balkes (so sagt der ächte Düsseldorfer zu dem, was woander „Kamelle“ heißt), die wir Kinder aufsammelten. Dann ging’s nachhause, wo sich die Verwandtschaft traf, um zunächst Berliner zu vertilgen und sich am Bohnenkaffee augzuwärmen. Später gingen die Männer dann zu Bier und Schnaps über, während die Frauen dem süßen Wein und den noch süßeren Likörchen zusprachen. Was dann auf Kartoffelsalat und Würstchen hinauslief. Der schönste Karnevalstag für uns Kinder war aber der Samstag, an dem wir draußen wirklich Narrenfreiheit genossen. Wir marodierten durchs Viertel, spielten Cowboy und Indianer in dern Trümmergrundstücken und verlangten von durchfahrenden Autochauffeuren Narrenzoll.

Kein Alkohol macht’s auch nicht besser
Wie gesagt: Schon damals spielte der Alkohol als enthemmende Droge für Erwachsene eine wichtige Rolle im Karneval. Die Spitze der Enthemmung – dies belegen private Karnevalsfotos meines Vaters, die hier nicht gezeigt werden sollen… – war das Brüderschafttrinken zwischen Damen und Herren, die außerhalb der drei tollen Tage nicht zueinander gehörten. Natürlich wurde auch getanzt und bisweilen sogar geknutscht. Denn Sex gehört zum Karneval. Schließlich beginnt mit dem Aschermittwoch die Fastenzeit, in der jute Katholiken von jeder Fleischeslust Abstand zu nehmen haben. Stimmt übrigens nicht: Natürlich wurde in der fünften Jahreszeit auch damals schon wild rumgevögelt – eine Spitze bei den Geburten neun Monate nach den tollen Tagen war und ist im Rheinland immer zu beobachten. Ja, die Enthemmung suchte geradezu nach dem anonymen Sex; wie es in einem Karnevalsschlager so schön heißt: „Du darfst mich lieben für drei tolle Tage, aber nach dem Namen frag mich bitte, bitte nicht.“

Und heute? Vorhin fuhr ich mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof aus. Es war nicht leicht, den Waggon zu entern, denn es strömten mir Dutzende junger Leute entgegen, die sich auf den Weg zum Zoch machten. Drinnen musste ich mich dann fast übergeben – über allem schwebte ein süßlicher Duft, der aus buchstäblich Hunderten winziger Schnapsflaschen stammte, die den Boden bedeckten. Anscheinend lassen sich die Narren als Konsumenten in der Karnevalszeit besonders gut verarschen. Bei den Spirituosen in den 0,1- oder gar 0,05-Liter-Fläschchen handelt es sich ja um übelsten Fusel, der mit künstlichen Obstaromen und viel Zucker „lecker“ gemacht wird. Für ein solches Fläschchen zahlen die Doofen am Büdchen und im Supermarkt je einen Euro, was einen Literpreis von 100 Euro für dieses widerliche Brühe ergibt. Schnäppchenjäger kaufen diesen Schnaps, der gern mal Namen trägt wie „Schlüpferstürmer“ oder einfach „Ficken“, bei der Metro palettenweise, sodass sie nur 30 Euro pro Liter berappen müssen. Und Sparfüchsen machen sich Mix. Dabei wird möglichst süße Limo im Verhältnis 1:1 mit dem billigsten Wodka oder Korn versetzte, den man kriegen kann.

Deshalb ist die Frage nach dem Alkoholtransport auch eine der entscheidensten logistischen Herausforderungen im Karneval. Für nur einen Euro kann man sich aber einfach einen Einkaufswagen am, Supermarkt ziehen und später einfach irgendwo stehen lassen. Kostüme, in denen sich Schnaps und Mix unterbringen lassen, werden bevorzugt.

Kostüme aus Kinderarbeitshand
Als ich am Mittwoch mit dem Pkw von der Südbrücke Richtung Rheinufertunnel kam, gab es Stau auf der Völklinger Straße. Einen Stau, den es hier vormittags gegen 11 Uhr nie gibt. Erst hinter der Kreuzung mit der Fährstraße erkannte ich die Uhrsache: Dutzende Autos stauten sich zurück aus der Einfahrt zum Parkplatz der Firma Deiters – ja, genau, dieses Kostümmonopolisten aus Frechen, der allen fanatsieschwachen Menschen, die sich verkleiden wollen, billigsten Kram für kleines Geld vertickt. Eben auch diese immergleichen Flauschoveralls mit Kapuzen, an denen Ohren befestigt sind. Wo diese Dinger hergestellt werden, interessiert keine Sau, aber Machart und Preis deuten auf asiatische Sweatshops hin – Kinderarbeit inklusive.

Diese verschiedenfarbigen Anzüge, die bisweilen Tiere vorstellen sollen, sind aber auch soooo praktisch. Karneval findet bekanntlich im Winter statt, da isses kalt, da will man warm bleiben. Auch wenn der Plüsch von minderwertigster Qualität ist und bei trockenem Wetter für elektrostatische Feuewerke sorgt – Hauptsache gewärmt. Dass man die Pelle komplett ausziehen muss, um pinkeln zu können, führt gern mal dazu, dass der Träger / die Trägerin einfach laufen lässt. Denn der Overall wird eh nach Aschermittwoch weggeschmissen; man kann sich ja im nächsten Jahr für 14 Euro (ALDI-Angebot zur Fastnacht 2015) einen neuen kaufen.

Zwischen den sozialen Schichten
Sozial saß der Düsseldorfer Karneval schon immer zwischen allen Stühlen. Als die schönste Stadt am Rhein noch ein Dorf war, trieb es nur das einfache Volk in den Fastelovent; man sagt, bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts sei der Volkskarneval sehr laut und vulgär gewesen. Dem setzte Jan Wellem gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts einen Saalkarneval nach venezianischem Muster entgegen – inspiriert vermutlich durch seine zweite Gattin, die vom Volk hochverehrte Anna Maria Luisa de Medici, die Maskenfeste dieser Art aus ihrer italienischen Heimat kannte. Weil aber der Pöbel wild auf den Straßen feierte und in den tollen Tagen jeglichen Respekt vor der Obrigkeit fallen ließ, wurde das Treiben in napoleonischer und später preussischer Zeit teilweise verboten oder wenigstens erschwert.

Die höfischen Feste aber, die wurden vom reichen Bürgertum ab etwa 1820 übernommen und organisiert. Der älteste Düsseldorfer Karnevalsverein entstand, und auch die Idee des Festkommitee Kölner Karneval wurde kopiert. Eine Verbindung zwischen der wüsten Feierei der Bauern und Fischer in der Altstadt und in den umliegenden Gemeinden (Bilk, Flingern, Gerresheim etc.) und diesem Saalkarneval bestand nicht. Und so blieb das auch. Noch heute kann man eine sehr genaue Trennlinie zwischen den Karnevalsvereinen erkennen, die zwischen dem wohlhabenden Bürgerkarneval und dem bäuerlich geprägten Dorfkarneval gezogen ist. Wie sich aus diesen Angaben ablesen lässt, hat es so etwas wie einen proletarischen oder Arbeiterkarneval nie gegeben. Das hat auch damit zu tun, dass das sogenannte „Winterbrauchtum“ im selben Maße katholisch geprägt ist wie das „Sommerbrauchtum“ der Schützenverein. Weil aber die Düsseldorfer Arbeiterschaft von Beginn an eher protestantisch war, fehlt die Verbindung. Übrigens: Für einen nennenswerten Anteil Protestanten an der hiesigen Bevölkerung sorgten erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die preussischen Garnisonsoldaten und später die zugewanderten Arbeiter aus dem Osten.

Heute ist die soziale Kluft auch im Straßenkarneval und vor allem im Fernsehen deutlich zu erkennen. Der Rosenmontagszug bestand traditionell aus den Festwagen der reichen Vereine und den Fußgruppen der armen Karnevalsklubs. Gesäumt wurden und werden die Straßen vom Pöbel, dem die Wohlstandsbürger Almosen in Form von Süßigkeiten zukommen lassen. So blieb das über viele Jahre bis weit in die Sechzigerjahre hinein. Dann kamen die Mottowagen auf, für die Düsseldorf dank Jaques Tilly seit 1983 berühmt ist. Im Prinzip handelt es sich um dreidimensionale Karikaturen, meist mit politischem Bezug. Das haben die Kölner übrigens nachgeahmt, können es aber nicht so richtig. Ebenfalls erst seit den Siebzigerjahren gibt es Wagen von Organisationen, die keine Karnevalsvereine sind – zum Glück sind bisher noch keine Reklamewagen für irgendwelche Markenartikel dabei. Noch jünger ist der Brauch, Promis zur Mitfahrt auf solchen Wagen einzuladen – vermutlich wurde das durch die Fernsehübertragungen motiviert, bei denen die Wagen am Burgplatz an den Kameras des WDR vorbeiziehen, wo dann zwei Leute als Sprecher das Geschehen kommentieren.

Karneval im Fernsehen
Das hört sich öde an und ist es auch. Kein vernunftbegaber Mensch kann verstehen, weshalb die Moderatoren – von Carmen Thomas über Manfred Breukmann bis zu diesem Riché – dermaßen abgefeiert werden. Prominent oder populär sind sie nämlich nur im Karnevalssumpf selbst. So ist denn auch das Komoderieren der Fernsehfrau / des Fernsehmanns mit einer „Größe“ des Düsseldorfer Karnevals eine Festival der Selbstreferenzialität. Man feiert sich selbst. Und – ähnlich wie beim modernen Soccer-Entertainment-Business – das Volk ist nur Kulisse. Norddeutsche Verwandte berichteten vor Jahren, sie würden sich die TV-Übertragungen der Züge immer angucken, weil sie so ermessen können, welches Glück es ist, nie nie nie live dabei sein zu müssen.

Die Spitze der Widerlichkeiten im rheinischen Karneval bilden aber die Fensehsitzungen aus Mainz, Köln und Düsseldorf. Unter WDR-Veteranten geht das Gerücht um, sowohl die Übertragungen der Züge, als auch von Sitzungen seien ursprünglich billiges Füllmaterial gewesen, als man noch nicht genug Programm gehabt habe. Mehrere der damsl führenden Fernsehleute in Köln seien aber aktive Karnevallisten gewesen, die dann ihr Privatvergnügen in die Kiste gehievt hätten. Dafür spricht, dass es das Schützenbrauchtum, das ja weite Teile Nord- und Westdeutschlands beherrscht, nie ins Fernsehen geschafft hat.
Aber so richtig quotenmächtig wurde das öffentliche Feiern erst mit der Gründung des ZDF, das zur Belästigung der Zuschauer mit der Meenzer Fassenacht führte. Denn dem ganzen kölschen Kram wollten die Lerchenberger etwas entgegensetzen. Obwohl die Fastnacht in Mainz außerhalb der vielen Dorf- und Vorortvereine keine Tradition hatte, wurde den Glotzern das Treiben der Reichen, Schönen und Berühmten im kurfürstlichen Saal als authentischer Karneval vorgeführt. Nach wenigen Jahren waren die Mainzer Fernsehsitzungen von A bis Z durchritualisiert, und die Vorzeigekarnevalisten à la Heinz Neger und Margit Sponheimer wurden noch mumifiziert auf die Bühnen geschoben, um ihr sentimentales Zeuch auf die Nation ablassen zu können.

Aus dem ganzen spießigen, treudeutschen und wohlanständigem Bürgerscheiß stach eigentlich nur Herbert Bonewitz hervor, der aus Büttenreden kabarettistische Lesungen machte und als eigentlicher Begründer des anderen Karnevals gelten kann. Denn so sehr die rheinischen Karnevalisten immer darauf herumreiten, wie fern der Obrigkeit, frech und fröhlich sie seien – der organisierte Karneval ist und bleibt eine reine bourgeoise Sache. Man nehme nur diesen „Orden wider den tierischen Ernst„, den die als nationalkonservativ verschrienen Aachener Karnevalisten jährlich und im TV an einen Promi vergeben – vorwiegend an konservative Politiker. Angeblich soll damit jemand geehrt werden, der in seiner politischen Betätigung (Es wurden übrigens auch schon mehrfach katholische Würdenträger ausgezeichnet…) alles nicht so eng sieht.

Aber die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1968er-Jahren haben auch im Karneval Spuren hinterlassen. Neben dem offiziellen, bürgerlichen Karneval entstand zuerst in Köln eine subkulturelle Variante, dort vor allem vorangetrieben durch die schwule Gemeinde. So wie der Karneval ursprünglich die Obrigkeit karikierte, vor allem das napoleonische und preussische Miliär, so karikierten die neuen Karnevalisten in ihren Stunksitzungen den traditionellen Karneval. Wo im klassischen Saalkarneval mehr oder weniger begabte Mädchen im Stile spießiger Fernsehballete herumhüpfen, was den Vorsitzenden des Elferrats immer zu sexistischen Sprüchen reizt, da turnen in Stunksitzungen Freizeittransvestiten zur Musik auf der Bühne. Gerade in den Achtzigerjahren räucherten die kritischen Karnevalisten den Muff aus Bürgersentimentalitäten und Herrenwitzen drastisch aus.

Schluss mit lustig
Dank des Promikults des Fernsehens und der ganzen Comedian-Flut sind beides Seiten längst zusammengewachsen: Komiker werden Büttenredner, Büttenredner zu Comedians, und alles Politische haben alle Beteiligten – Ausnahmen wie Tilly Mottowagen mal übersehen – dem Karneval längst ausgetrieben. Seit vielen Jahren geht es nur noch um Sehen-und-Gesehen-Werden bei den oberen Tausend und Partymachen beim Jungvolk in den Kneipen und auf den Straßen. Fröhlich ist da wenig, lustig gar nichts. Und vom anarchischen Geist der Fastnacht kann besonders in Düsseldorf schon lange nicht mehr die Rede sein.

Leider wirkt der Sog der Altstadt als Paradies der Kampftrinker, Partymacher und Junggesellenabschieden inzwischen auf Jungmassen aus großer Entfernung, die gerade den Rosenmontag als ultimativen Rauslasstag begreifen. Sie reisen früh an und haben schon bei der Ankunft am Hbf zwischen neun und elf alle Lampen an. Die Testosteronopfer stecken bis zum Anschlag voller Geilheit und Aggression, die Mädchen sind bis zur Widerlichkeit besoffen und werden sich an die Vergewaltigungen am Nachmittag später nicht mehr erinnern. Düsseldorfer sind am Zugweg längst in der Minderheit, schon am Donnerstag leert sich die Stadt, weil weite Bevölkerungskreise den tödlichen Tagen entfliehen wollen.

Dabei würden wir Düsseldorfer so gern mal wieder richtig schön feiern. Ich erinnere mich an herrliche Sonntage beim Kö-Treiben, wo noch nicht alles mit Wahnsinnlautsprechern beschallt wurde, aus denen vorzugsweise kölsches Liedgut strömte, sondern die Menschen gemeinsam laut Karnevalslieder sangen. Besonders gern denke ich an ein paar Male beim Gerresheimer Veedelszoch, wo an jeder Ecke eine Wagen mit Musik stand und wir auf den Gehwegen tanzten. An tolle Privatfeten, wo jeder verkleidet war und alle Spaß hatten ohne sich ins Koma zu saufen. An die legendären Eiskellerbälle in der Kunstakademie, wo keiner ohne selbstgemachtes Kostüm kam, wo überall völlig anarchisch und bis an den Rand der Orgie gefeiert wurde – ohne jede Schlägerei. An Rosenmontage in Altstadtkneipen, ans Karnevalseislaufen im Eisstadion und und und… Alles weg. Und deshalb ist der Düsseldorfer Karneval am Arsch.

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