Fußball ist ein wunderbarer Sport voller Varianten und Möglichkeiten. Leider weiß Otto Normal-Fan davon wenig oder kennt höchstens die Floskeln, die ihm minderbegabte Sprechpuppen der diversen Spochtversender vorkauen. Dabei leben wir seit ungefähr fünf Jahren in einer Phase massivster Veränderungen der Fußballtheorie. Sicher hat Fortuna-Trainer Friedhelm Funkel recht, wenn er sagt: Heute heißt es Umschaltspiel, früher Kontern – beides ist dasselbe. Und das, was man jetzt Pressing nennt, hat ein gewisser Ernst Happel in den frühen Achtzigerjahren erfunden und damals den HSV-Kickern eingebläut. Aber auch auf diesem Gebiet hat die Digitalisierung Einzug gefunden und zu erheblichem Erkenntnisgewinn geführt. Was die glorreiche Fortuna derzeit in der zweiten Bundesliga vorführt, ist lebendiger Beweis für den sportlichen Fortschritt im Fußball.

Schon lange geht es nicht mehr darum, ob mit einer Dreier- oder Viererkette verteidigt wird. Auch die Bedeutung der Doppelsechs oder des falschen Neuners ist nicht mehr wirklich groß. So wie der Libero und die Raute aus der Fußballtaktik verschwunden sind, so haben sind die Grenzen zwischen den klassischen und den modernen Systemen mittlerweile verwischt. Man kann auch sagen: System ist auf dem Platz. Damit tut sich die Mehrheit der medialen Berichterstatter schwer – allein schon beim Anordnen der Spielertäfelchen auf der grafischen Darstellung der Aufstellung einer Mannschaft. Was war das zum Beispiel, was F95-Funkel und seine Co-Trainer Kleine und Bellinghausen am vergangenen Samstag in Bielefeld haben spielen lassen? Im Sinne der Tradition hätte man es ein 3-5-2 nennen können, in der Realität kam aber die Formel 3-3-2-2 dem näher, was zu sehen war.

Hat die Fortuna in der zweiten Halbzeit wirklich nicht mehr so hoch gestanden? Kann man so einfach nicht sagen. Passender wäre es von einem weniger riskanten Pressing zu sprechen. Denn beim modernen, aggressiven Pressing wird der ballführende Gegner ja meist von zwei oder gar drei Spielern angelaufen. Was dazu führt, dass mindestens ein Gegner frei steht bzw. mehr Raum für die Ballannahme und Dribblings hat. Und damit kommen wir zu einem Schlüsselbegriff der modernen Fußballtaktik: Räume. Was sind denn Räume im Spiel? Schlicht und ergreifend der Platz auf dem Rasen, der im jeweiligen Moment nicht eindeutig unter Kontrolle der abwehrenden Mannschaft ist. Räume sind dazu da, sie zu besetzen – und zwar dynamisch. Je mehr Raum das angreifende Team hat, desto mehr Möglichkeiten ergeben sich in Richtung auf den Sechzehner und das Tor. Das gewählte System definiert den Plan für das Verengen, das Öffnen und das Kontrollieren von Räumen.

Fußball ist Fehlervermeidungssport

Grau ist alle Theorie? Ja, das stimmt bei einem Fehlervermeidungssport wie dem Fußball ganz sicher. Aber die Theorie hilft, das Geschehen auf dem Platz zu verstehen. Und deshalb empfehlen wir jedem, der den Fußball wirklich liebt, sich die Grundlagen der Taktiktheorie anzueignen und sich nach Möglichkeit regelmäßig auf den Stand der Technik zu bringen. Und das geht ohne großen Aufwand. Zwei Webseiten seien also den Freunden des getretenen Rundballs schwer ans Herz gelegt. Da ist einmal mit Spielverlagerung.de die Expertenseite schlechthin, die nicht nur brillante Analysen von Partien bringt, sondern Beiträge zur Entwicklung der Theorie und Praxis. Etwas bunter, leider aber die zweite Liga ignorierend, kommt Konzeptfußball daher.

Beide Websites sind so interessant, weil sie nicht bloß die Theorie vorführen, sondern sie bei praxisnahen Analysen real gespielter Begegnungen anwenden. Und die Autoren sehen, was von den sogenannten „Experten“ im TV – meist Ex-Profis, denen das Theoriefundament völlig fehlt – völlig ignoriert wird. Unter den Dutzenden Fernsehleuten, die inzwischen ihren Lebensunterhalt mit dem Besprechen von Fußball verdienen, gibt es vielleicht zwei Hände voll Kolleginnen und Kollegen, die über das theoretische Rüstzeug verfügen und nicht bloß irgendwelche „Fachbegriffe“ absondern. Das sieht bei den Fachleuten auf Spielverlagerung.de und Konzeptfußball ganz anders aus. Wer tiefer einsteigen will, findet auf Spielverlagerung.de übrigens eine ganze hervorragende Leseliste, die abzuarbeiten sich lohnt, will man das Spiel besser verstehen. Wem es der Mühe wert ist, die Sache in englischer Sprache zu sich zu nehmen, der findet auf Zonal Marking Analysen, die ihresgleichen suchen – dringende Empfehlung.

Veränderung aufgrund von Beobachtung

Nun ist es ja nicht so, dass sich dieser oder jener Trainer irgendwann einmal irgendetwas Neues ausdenkt. Jede Veränderung, jeder Fortschritt der Fußballtheorie ergibt sich aus der Beobachtung dessen, was gespielt wurde. Nehmen wir einmal ein taktisches Element, dass in der laufenden Saison einer der herausragenden Erfolgsfaktoren der wunderschönen Diva ist: maximale Flexibilität der Systeme und der Aufstellungen. Im Zeitalter der computergestützten Videoanalysen kann jeder Coach einen Gegner leicht ausrechnen, der in jeder Partie gleich auftritt oder maximal zwei verschiedene Systeme beherrscht. Wenn aber Funkel einen nominellen Außenverteidiger wie Jean Zimmer – wie in St. Pauli geschehen – zumindest temporär als Außenstürmer antreten lässt, dann hilft dem gegnerischen Trainer die Videoanalyse wenig. Oder: Wenn die F95-Coaches mitten in der laufenden Partie die Umstellung vom 3-5-1-1 auf ein altmodisches 4-4-2 anordnen, dann wird der Gegner zunächst verwirrt sein.

Basis für all das sind die individuellen Fähigkeiten und die sportliche Fitness der Spieler. Ein Beispiel: Die fittere Mannschaft – diese Saison war das fast immer die Fortuna – wird eben auch noch in den letzten zehn Minuten ein aggressives Gegenpressing spielen und Konter in Höchstgeschwindigkeit fahren können. Kicker, die innerhalb der 90 Minuten nicht an ihre Leistungsgrenzen gehen müssen, können bis zum Schlusspfiff die Konzentration halten; wer dagegen ab Minute 80 durchhängt, wird fast zwangsläufig Fehler machen. Und dann noch die vier großen B: Ballannahme, Balleroberung, Ballkontrolle und Ballbehauptung. Nur wer die Technik beherrscht, wird einen Ball auch unter schwierigen Bedingungen annehmen und ihn kontrolliert weiterverarbeiten können. Und nur wer mental stark ist, wird Bälle auch in aussichtsarmen Situationen erobern bzw. unter großem Druck behaupten können.

Mehr Spaß durch mehr Wissen

Das alles ist unter den wahren Experten, Fachleuten und Profis natürlich bekannt, weil hinreichend und wissenschaftlich erforscht. Damit hat der Fußball eine Phase seiner Entwicklung erreicht, die im American Football bereits vor gut 25 Jahren Allgemeingut wurde. Natürlich kann man als Zuschauer und Fan auch Spaß am Spiel haben, ohne das alles zu wissen, aber Freunde des geworfenen Eierballs wissen, dass so richtig Freude erst aufkommt, wenn man die Spielzüge im College Football und in der NFL ohne Anleitung durch Kommentatoren zumindest ansatzweise entschlüsseln kann. Weil Fortuna Düsseldorf in der Spielzeit 2017/18 ein derart auffälliges Beispiel für die beschriebenen Fortschritte ist, kann auch der normale F95-Fan noch mehr Vergnügen am Auftreten des Teams haben, wenn er sich ein ganz klein wenig Theorie anliest.

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