Ein lautes Knattern springt von hinten durch die Corneliusstraße. Siggi dreht sich um und sieht das schwere Motorrad mit Beiwagen, das gerade durch die Unterführung braust. Der hat sicher sechzig Sachen drauf. Denkt Siggi. Das Motorrad hat nun Renate und Siggi überholt und vor dem Cafe Friedchen angehalten. Der Fahrer stellt das Gespann an der Bordsteinkante ab und klettert vom Sitz. Im Beiwagen hockt ein großer schwarzer Schäferhund. Der Mann trägt einen bodenlangen Ledermantel und eine Ledermütze. Jetzt schiebt er die Schutzbrille hoch und schaut sich um. „Komm, Hasso“, ruft er, und der Hund springt aus dem Beiboot auf den Bürgersteig. Renate bleibt abrupt stehen, und auch Siggi hält an. Der größte Schäferhund, den sie je gesehen haben. Schwarz wie ein Rabe. Schüttelt sich und bellt plötzlich laut. Der Mann lacht, der Hund springt an ihm hoch. „Platz, Hasso.“ Der Hund gehorcht.

Der Mann zieht Mantel, Mütze und Brille aus und wirft alles in den Beiwagen. Er trägt einen recht eleganten hellgrauen Anzug. Dazu ein schwarzes Hemd und eine schmale, gelbe Krawatte. Er greift den Hund am Halsband. Der Hund ist so groß, daß sich sein Besitzer nicht einmal bücken muß, als er das Tier zur Tür des Cafes zieht. Renate starrt hinter Hund und Herrchen hinterher. Siggi sieht ihre Angst. Schweißperlen auf ihrer Oberlippe. Rote Flecken auf den Wangen. Sie zittert sogar ein bißchen. Mit einer Kopfbewegung zeigt er ihr, daß es weitergeht.

Wachtmeister Blümchen steht immer noch an der Ecke. Genau vor dem Eingang dieses Hauses. Ein hässliches Haus. Pissgelb, so nennt Dieter die Farbe der glatten Fassade. Fünf Stockwerke. In jeder Etage je fünf Fenster auf der Seite, die zur Corneliusstraße zeigt, und je vier Fenster auf der zur Oberbilker Allee liegenden Seite. Alle Fenster gleich groß und mit dem gleichen Abstand voneinander. In jedem Fenster rote Vorhänge. Manche Vorhänge sind zugezogen, manche nicht. Einige Fenster stehen offen, und in den Fenster, die Arme im Rahmen abgestützt, liegen Frauen und schauen auf die Straße. Die eigentliche Häuserecke ist im Erdgeschoß schräg abgeschnitten, die so entstandene Wand mit einer Doppeltür versehen, deren beide Flügel geöffnet sind. Dahinter sieht man den schweren, weinroten Vorhang.

Renate hält an und fasst Siggis Arm, so dass auch er zum Stehen kommt. „Komm. Spionieren.“ Siggi läßt sich mitziehen. Beide huschen in den Eingang. Nähern sich dem Schlitz im Vorhang. Im Halbdunkel sehen sie: Alles rot. Dunkelroter Teppichboden und dunkelrote Bespannung an den Wänden. Lampen mit rotem Licht geben ein bisschen Helligkeit. Rechts eine gepolsterte Bank. Darauf sitzen vier Frauen in Unterwäsche. Eine Frau blättert in einer Illustrierten, die anderen drei rauchen und reden halblaut miteinander. Renate und Siggi spüren je eine Hand auf ihren Schultern. „Neugierige Katzen kriegen was auf die Nase, nicht wahr.“ Sie drehen sich um und schauen ins Gesicht von Wachtmeister Blümchen, der sie sanft an den Schultern gefasst hat und sie an sich vorbei aus dem Eingang schiebt. „Studieren ist besser als Spionieren, nicht wahr. Und nun ab durch die Mitte. Geht spielen.“

Die Beiden laufen los. Bei Oma Müsch vorbei, die Ziellinie schon in Sichtweite. Die anderen kommen ihnen entgegengelaufen. Nur Klein-Eke nicht. Die hat jetzt eine Lutscher, sitzt auf der Eingangsstufe im Eckhaus zur Hildebrandtstraße und guckt sich die Sache aus verweinten Augen an.

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