In den Osterferien 1961 zogen wir von der Corneliusstraße nach Pempelfort. Damals begann das neue Schuljahr ja noch nach diesen Ferien, also musste ich nicht mittendrin wechseln. Mein Vater hatte das Eckhaus an der Tußmann-/Lennéstraße geplant und gebaut. Er war damals fest angestellter Architekt der Hirschbrauerei, die ihre Fabrik genau gegenüber hatte. Folgerichtig kam das „Düsselbräu“ (siehe Foto oben) als Brauereiausschank ins Erdgeschoss des Neubaus. Die Tußmannstraße war damals eine leicht schmuddelige, von der Arbeit geprägte Straße. Markant war und ist immer noch, dass die Enden zu den Brücken hin ansteigen, es also eine Tallage gibt. Direkt hinter den Wohnblocks und Fabriken auf der Ostseite lag der riesige Derendorfer Güterbahnhof. Nicht nur die Hirschbrauerei hatte so Gleisanschluss. Weil aber die Bahn dort größter Arbeitgeber war, wohnten auch viele Bahnbeamte auf der Tußmannstraße.

Meine Tante Thea und ihr Mann, der Onkel Walter, wohnten damals und schon seit ihrer Ankunft in Düsseldorf in der Jordanstraße gleich gegenüber vom St.Vinzenzkrankenhaus. Das wurde damals noch von Ordensschwestern betrieben und war ein düsterer Backsteinbau – ein bisschen wie ein Spukschloss – und rundum von einer hohen, dunklen Mauer umgeben. Ein Rest davon ist noch an der Ecke zur Jülicherstraße zu sehen. Wir Kinder waren schon vor unserem Umzug nach Pempelfort nicht selten bei Tante und Onkel zu Besuch und kannten uns also schon ein bisschen in der Gegend aus. Die Wohnhäuser von der Ecke zur Jülicher Brücke bis etwa auf Höhe der Jordanstraße nannte Tante Thea immer die „Bahnerhäuser“, weil es sich um Häuser handelte, die der Bahn gehörten und wo durchweg Bahnbeamte mit ihren Familien wohnten. Gegenüber an der Ecke zur Jordanstraße gab es bis weit in die Achtzigerjahre hinein eine Baulücke; das Brachland war von einem Holzzaun umgeben und diente den Kindern als Abenteuerspielplatz

Überhaupt hatte die Tußmannstraße wegen ihrer Nähe zum Güterbahnhof eine Menge abbekommen. Menschen, die vom Regime in KZs gesteckt wurden, zwang man auf der anderen Seite der Zoobrücke in die Viehwaggons; auch das Verladen von Rüstungsgütern fand dort statt, wo lange Zeit nach dem Ende des Güterbahnhofs die Verladehallen als Platz für Skater und Flohmärkte genutzt wurde. Parallel zur Tußmannstraße verliefen dagegen die Rangiergleise; der Ablaufhügel befand sich etwa auf Höhe der Jordanstraße unweit vom Stellwerk, wo u.a. mein späterer Schwiegervater Dienst tat. Rangiert wurde so: Der Zug mit den zu verteilenden Waggons wurde von Norden her langsam auf den Hügel geschoben. Dort lösten Rangierer die Kupplungen zwischen den Wagen, und die Beamten im Stellwerk stellten die Weichen so, dass die einzelnen Waggons oder Waggongruppe auf das jeweils vorgesehene Endgleis liefen. Todesmutige Rangierer setzten kurz vor dem Aufprallen auf die stehenden Wagen Bremsschuhe vor die Räder, Funken sprühten, es quietschte laut, und das ganze endete mit einem Knall, wenn die Puffer aufeinanderschlugen.

Natürlich hörten wir im fünften Stock des Wohnhauses an der Lennéstraße dieses Geräusch – je nach Windrichtung lauter und leiser. Aber man gewöhnte sich daran. Auch an das Blöken von Schafen, Quieken von Schweinen, Muhen der Kälber und Gackern der Hühner, die das Wochenende über in Viehwaggons darauf warteten, am Montag in den Schlachthof verschoben zu werden, wo sie getötet, geschlachtet und verarbeitet wurden.

Auch die Hirschbrauerei hatte in den Bombennächten ab 1942 etliche Treffer hinnehmen müssen. Tatsächlich aber waren das Brauhaus, der Eiskeller, die Picherei und die Stallungen weitestgehend unbeschädigt geblieben. Auch dies alles aus Backstein gemauert, mit der Zeit dunkel gealtert und teilweise mit grauem Putz versehen. Die Hälfte der Gebäude aber fehlte, und es gab bis Ende der Fünfzigerjahre kein Verwaltungsgebäude. Die Büros – u.a. das meines Vaters – fanden sich im angrenzenden Wohnhaus Tußmannstraße 63, wo heute der“Butch-Store“ untergebracht ist, im hinteren Teil der umgebauten Stallungen und sogar im Keller. Denn das gesamt Gelände war doppelt unterkellert. Als Kind ging ich einmal mit meinem Vater in diese Katakomben, die sich sogar bis unter die Gleise hinzogen.

Mein Vater war hauptsächlich dafür zuständig, die der Brauerei gehörenden Gastwirtschaften wiederherzustellen und zu renovieren. Außer dem besagten Wohnhaus errichtete er nur einen weiteren Neubau: das Verwaltungsgebäude der Hirschbrauerei. Einen dreigeschossigen, rot-blau verklinkerten und ausgesprochen schmucklosen Block, in dem auch die riesige Wohnung des Braumeisters Erich Päffgen und seiner Frau Resi untergebracht war. Die wirtschaftliche Leitung hatte sein Bruder Richard inne, der eine ebenfalls große Wohnung im erwähnten Haus Tußmannstraße 63 bewohnte. Dazu gehörte eine riesige Terrasse, die sich auf dem Dach der Wagenhalle befand, die über eine Toreinfahrt (heute das Schaufenster vom „Butch-Store“) erreichte.

Als wir dorthin zogen, hatte die Brauerei schon komplett auf Lkw umgestellt. Andere Düsseldorfer Brauereien, insbesondere Dietrich und Schlösser, fuhren ihre Fässer dagegen noch mit Pferdewagen aus, gezogen von strammen Kaltblütlern. Aber in der Hirschbrauerei setzte man auf die moderne Technik – jedenfalls teilweise. Das Sudhaus mit dem gigantischen Kupferkessel wurde noch so betrieben wie um die Jahrhundertwende, als die Hirschbrauerei hier gebaut hatte. Eine eigene Eismaschine zu bauen, war ein genialer Schachzug der Brauereileitung. Hier produzierte man Stangeneis für den Eigenbedarf, aber auch für den Verkauf. Und der lief im Sommer prächtig: Lieferwagen um Lieferwagen fuhr am Pförtner vorbei auf den Hof und ließ sich mit diesen rund anderthalb Meter langen Eisstangen mit quadratischem Querschnitt von 20 Zentimetern beladen. Mitte der Sechzigerjahre wurde im südlichsten Gebäude die modernste Anfüllanlage für Bügelflaschen eingebaut, die es in der Stadt gab.

Wie schon erwähnt: Es gab viele Baulücken, aber auch viele schnell und dreckig hingerotzte Wohnhäuser, die in die Brachen gepflanzt worden waren, auf denen früher prächtige Bürgerhäuser standen. Von denen sind im südlichen Teil der Tußmannstraße insgesamt kaum noch zehn erhalten. Sensationell aber der Neubau an der Ecke zur Augustastraße, der für seine Zeit das modernste war, was man sich denken konnte. Parallel und leicht versetzt zum Block an der Straße wurde im Innenhof ein fünfgeschossiges Appartementhaus errichtet, das einige Jahre später weltberühmt wurde, weil sich dort der RAF-Terrorist Christian Klar etliche Wochen versteckt hatte. Um die Ecke war ein todschickes Autohaus eingebaut, ein Bürotrakt überspannte die Einfahrt in den Hof. Nur eine Institution ist in diesem Block über die Jahre erhalten geblieben: die Aikido-Schule. Zuerst gab es im Untergeschoß einen Supermarkt, der sich aber nur wenige Jahre hielt. Schon ungefähr 1968 oder 1969 zog dann die Schule für japanische Kampfkunst dort ein, und ich erinnere mich noch, dass wir oft vor den Schaufenstern standen und den Sportlern beim Üben zuschauten.

Nicht mehr vorhanden ist der östliche Teil der großen Daimler-Benz-Niederlassung an der Schlossstraße. Dort war die Einfahrt für die Nutzfahrzeuge und die dazugehörige Werkstatthalle. Für uns war das immer nur „der Mercedes„. Die Werkstatt vom Autohaus Moll gleich nebenan – auch die spezialisiert auf Nutzfahrzeuge – hieß „der VW„. Und weil es diese zwei Autofirmen an der Tußmannstraße gab, hatten sich in den Sechzigerjahren diverse kleinere Werkstätten dort angesiedelt. Im Innenhof an der Jordanstraße gab es einen Vulkanisierbetrieb, der Reifen aufarbeitete und reparierte. In dem Gebäude, das inzwischen das „Spoerl“ beherbergt, hatte ein Autosattler seine Werkstatt. Gegenüber residierte eine freie Reparaturwerkstatt.

Der erste große Einschnitt war der Abriss der über viele Jahre leerstehenden Hirschbrauerei in den Achtzigerjahren. Zu der Zeit – mein Vater war 1967 gestorben, meine Mutter an Rosenmontag 1981 – lebte ich in der ehemals elterlichen Wohnung und konnte das traurige Ereignis über Wochen beobachten. Zuerst kam ein holländisches Unternehmen, das alle Maschinen demontierte und abtransportierte. Dann wurden die Gebäude auf der Gleisseite abgerissen, nur der markante Schornstein blieb noch eine Weile und wurde dann abgetragen. Schließlich riss man auch die uralten Stallungen samt Pförtnerloge ab, und schließlich musste auch das Verwaltungsgebäude, das damals kaum mehr als zwanzig Jahre gestanden hatte, dran glauben. Der erste moderne Wohnblock entstand als Vorläufer der ganzen Neubebauung des Derendorfer Güterbahnhofs, von dem heute nichts mehr zu sehen ist.

Früher war die Tußmannstraße vor Arbeitsbeginn und nach Feierabend eine sehr stille Straße mit wenig Verkehr. Tagsüber war sie dagegen brandgefährlich, weil massenhaft Lieferwagen, Lkw und auch Pkw mit teils deutlich überhöhter Geschwindigkeit die schnurgerade Straße entlang brausten. In den Sechzigerjahren wurden jedes Jahr mehrfach Kinder angefahren, die versucht hatten, die Fahrbahn zu überqueren. Heute zieht vor allem der REWE-Supermarkt auf dem ehemaligen Brauereigelände viele Leute an. Im ehemaligen Düsselbräu ist inzwischen das siebte oder achte hippe Restaurant untergekommen, und das Spoerl ist mittlerweile seit fast dreißig Jahren ein wunderbarer Ort und eine Institution. Die Gastronomie hat sich allerding eher am oberen Ende, aber der Ecke zur Moltkestraße versammelt.

Und obwohl sich in den vergangenen fünfzig Jahren die Bebauung und die Nutzung so sehr verändert hat, ist der Tußmannstraße (die übrigens nach einem Duisburger Baumeister aus dem 17. Jahrhundert benannt ist) doch im Wesentlichen ihr Charakter als Grenzstraße erhalten geblieben. Das ist irgendwie beruhigend.

2 Kommentare

  1. V. Manns am

    Eine coole Geschichte – auch aus Sicht meiner Kindheit.

    Bei der Famile Rudolf Paefgen (Tußmannstr. 63) ging ich in den 60ern aus und ein, da ich mit dem ältesten Sohn Norbert eng befreundet war und zur Schule ging.
    Die Dachterrasse war für uns im Sommer eine Kettcar- und Fahrradrennbahn – im Raum zwischen Waschküche und Ess- / Wohnzimmer gab es eine riesige Schaukel (und ein RIESIGES Gemälde). War ich zum Mittagstisch nach der Schule eingeladen, gab es IMMER Malzbier für uns. Im 2. Stock stand die Modelleisenbahn. Tolle Erinnerungen… 🙂

  2. Ja an die Paefgens kann ich mich auch noch gut erinnern,ich hatte aber mit Peter P.zu tun
    er war in meiner Klasse ,wir gingen beide in der Lenn’e str, zur Schule .
    Die Sensation war Peters motorisierter Gokart.
    Peters Mutter war eine ( in meiner Erinnerung)große staatliche Frau ich glaube sie war früher einmal Lehrerin .
    War wir mal zu Laut oder sonst irgendetwas Gans auch mal ne Ordentliche Backpfeife und nicht nur für Peter.
    I
    Ich hatte kürzlich eine Diskussion mit meiner Schwester. wir konnten und nicht einigen ob es zur Weihnachtszeit 10-20 kleine Tannenbäumchen die mit Glühlampen illuminiert waren.
    Meine Schwester,obwohl älter als ich,konnte sich nicht mehr erinnern.

    Auf jeden Fall war die Tussmannstr. unsere Spielplatz sovielmal Kinder wohnten damals in der Straße ,Sodas dass du immer jemanden getroffen hast,langweilig war uns nie.
    Ich würde gerne noch einmal hier wohnen ,aber ich fürchte das die Mieten heute sehr hoch sind.ist ja ein richtiges Innviertel geworden.
    Na ja ich würde mich freuen wenn jemand ähnliche Erinnerungen an die Tussmannstr. hat.