Vor Jahren war dies noch eines der auffälligsten Grabmale in diesem Teil des Düsseldorfer Nordfriedhofs: Ein strahlend weißer Marmor, der ein junges Mädchen im Engelsgewand mit einer Blume in der Hand zeigt. Da lebten ihre Eltern noch. Jetzt war ich nach gut zwei Jahren wieder einmal da, weil das Grab meiner Eltern unweit zu finden ist. Die Ruhestätte ist verwildert, der Stein bemoost. Dort ist meine erste Liebe begraben. Inka hieß sie, und sie war auf derselben Volksschule wie ich. Aber als wir beide, wenn auch in verschiedene Klassen, im Schuljahr 1962/1963 die hochmoderne Gemeinschaftsschule an der Lennéstraße in Pempelfort besuchten, kannten wir uns noch gar nicht. Erst im übernächsten Schuljahr, in dem ich täglich durch die Annastraße zum Leibnizgymnasium ging, wurden wir aufeinander aufmerksam. Fingen an, uns zu begrüßen und auch irgendwann miteinander zu reden. Sie wohtne gegenüber des kleinen Spielplatzes, der damals an der Kreuzung zwischen der Euler- und der Jülicher Straße existierte.

Ich weiß gar nicht, auf welche Schule sie ging. Und obwohl wir erst zwölf waren, hatten unsere Begegnungen beinahe den Charakter von Rendezvous‘. Manchmal spazierte ich nachmittags wie zufällig zum Spielplatz, und genau so zufällig erschien Inka. Wir setzten uns aufs Mäuerchen und unterhielten uns. Sie war strohblond und trug manchmal Zöpfe, im Mund eine Zahnklammer. Ab dem Herbst 1965 sah ich sie nicht mehr. Da ich damals ihren Nachnamen noch nicht kannte, vermutete ich, dass sie mit ihren Eltern fortgezogen sei. Und dann saß sie eines Tages, es wird im April oder Mai gewesen sein, wieder auf unserem Stammplatz. Sie hatte Krücken dabei, und als ich näherkam, sah ich, dass man ihr einen Unterschenkel amputiert hatte.

Sie lachte mich an und bedeutete mir, mich zu ihr zu setzen. Du willst bestimmt wissen, was mit mir passiert ist, sagte sie. Ich nickte. Und dann berichtete sie, dass sie schon das ganze Jahr über Schmerzen in dem Bein gehabt habe, dass sie deshalb den Balletunterrichte hatte aufgeben müssen und dass die Ärzte im Winter eine sehr seltene Knochenkrankheit diagnostiziert hätten. Da seien Schienen- und Wadenbein rechts schon stark zerfressen gewesen sein. Leider habe sie sich bei einem ersten Eingriff eine schwere Infektion gefangen, und man habe beschlossen, den Unterschenkel – wie sie sagte – abzunehmen.

Man kann sicher nicht sagen, dass Inka die Sache leicht nahm, aber weil sie ein optimistischer, fröhlicher Mensch war, hatte sie sich auf das neue Leben mit nur einem Bein und an Krücken eingestellt. Wir trafen uns den Sommer über nun fast täglich und machten Spaziergänge. Ich lernte, mich ihrem Tempo anzupassen und zu erkennen, wenn sie eine Pause brauchte. Oft wanderten wir die Jülicher Straße hoch, am Vinzenz-Krankenhaus vorbei und über die Brücke zum kleinen Park an der Buschermühle. Dort hatten wir unsere Lieblingsbank, wo man uns nicht sah. Und dort gaben wir uns den ersten Kuss. Irgendwann im Oktober berichtete sie, dass sie noch einmal ins Krankenhaus müsse und danach in Kur, weil man ihr eine Prothese anpassen würde.

Inzwischen hatte ich ihre Eltern kennengelernt, weil ich sie nun öfter von zuhause abholte. Sie war weg, und ich hatte gehofft, wenigstens eine Postkarte von ihr zu bekommen, aber da kam nichts. Ich traute mich nicht, ihre Eltern zu fragen. Und über den Winter hinweg dachte ich immer weniger an Inka. Auch weil ich im Konfimandenunterricht ein Mädchen aus der Nachbarschaft getroffen hatte, und wir gingen zusammen.

Viel später erst sollte ich erfahren, was geschehen war. Im Juni 1967 starb mein Vater, und im selben Monat noch ging ich für zwei Trimester als Austauschschüler nach England. Kam erst nach dem Schuljahreswechsel wieder. Und besuchte sofort zusammen mit meiner Mutter das Grab des Vaters. Natürlich kamen wir auch an diesem strahlend weißen Grabstein mit der Mädchenfigur vorbei. Ich sagte noch zu meiner Mutter: Die sieht aus wie meine Freundin, du weißt schon, die mit dem amputierten Bein. Ging näher heran und las: Inka St. 3.5.1953 – 19.4.1967. Seitdem schaue ich immer bei ihr vorbei, wenn ich die Ruhestätte meiner Eltern besuche. Und jetzt fürchte ich, dass ihr Grab irgendwann eingeebnet werden wird, weil sich niemand mehr kümmert. Vielleicht sollte ich bei der Friedhofsverwaltung nachfragen. Vielleicht sollte ich die Pflege ihres Grabes übernehmen.

Ein Kommentar

  1. Angelika am

    Ja, bitte kümmern Sie sich um die Grabstätte. Sie ist so liebevoll gestaltet und die Geschichte dazu ist die Ihre.