Noch bis weit in die Siebzigerjahre hinein war der Hafen für die meisten Düsseldorfer terra incognita. Weniger wegen seiner Funktion für die Schifffahrt, als vielmehr, weil hier ein Industriegebiet fernab jeder Wohnbebauung existierte. Nach dem zweiten Weltkrieg fanden hier bis 20.000 Menschen Arbeit – unter anderem in den Futtermittelfabriken und anderen Produktionsstätten (auf die wir in dieser Serie noch kommen werden). Außerdem war die Gegend nördlich der Bahnstrecke Düsseldorf-Neuss vom Rest der Stadt weitestgehend abgeschottet; lange Zeit kam man nur von der Gladbacher Straße aus sowie durch die Unterführung von Hamm aus ins Hafengebiet. Eine der wichtigsten und größten Produktionsanlagen betrieb die Papierfabrik Hermes & Cie. KG an der Fringsstraße. Dorthin war die Fabrik 1911 umgezogen und fertigte unter anderem die Verpackungskartons für Henkels Waschmittel Persil. 2008 war Schluss, und danach existierte die Fabrik über zehn Jahre lang als Brache und geheimnisumwitterter Ort für Abenteurer aller Art.

Google-Maps zeigt das Gelände noch mit allen Gebäuden der Papierfabrik Hermes

Google-Maps zeigt das Gelände noch mit allen Gebäuden der Papierfabrik Hermes

Während sich sogenannte „Urban Explorer“ an der schaurig-schönen Romantik eines „Lost Places“ berauschten und Graffiti-Künstler aus ganz Deutschland die Fabrik zur Galerie umfunktionierten, fanden viele subkulturelle Gruppen hier Platz ihre Aktivitäten, und ab etwa 2012 kamen immer mehr Jugendliche in den ausgedehnten Gebäudekomplex, um einfach unbehelligt unter sich sein zu können. Mit diesen Menschen kamen natürlich auch diejenigen, die Lust an der Zerstörung haben. Die gaben den leeren Hallen und Büros den Rest und schlugen kaputt, was sich kaputtschlagen ließ. Einige hatten anscheinend vor allem Spaß am Feuer, denn von 2015 bis zum Abriss ab dem Winter 2017/18 kam es in regelmäßigen Abständen zu Brandstiftungen; im extremsten Fall stand 2013 der gesamte Dachstuhl des Verwaltungsgebäudes in Flammen. Es kam zu vielen Unfällen; einmal fielen zwei Neugierige vom Dach mehr als zehn Meter tief durch einen Schacht und überlebten nach einer schwierigen Rettungsaktion mit Verletzungen. Schlimmer noch: 2017 wurde in der Hermes Fabrik eine junge Frau ermordet aufgefunden. Die Ursache für diese schlimmen Ereignisse waren die völlig unzureichenden Sicherungsmaßnahmen. Über all die Jahre kam man problemlos aufs Gelände und in die Gebäude, der Maschendrahtbauzaun hatte eher symbolische Bedeutung, ein Wachdienst existierte erst ganz gegen Ende der Papierfabrik.

Papierfabrik Schulte vor dem ersten Weltkrieg - mitten in ländlicher Lage

Papierfabrik Schulte vor dem ersten Weltkrieg – mitten in ländlicher Lage

Industriehistorisch betrachtet war die Hermes Papierfabrik im Düsseldorfer Hafen Nachfolger eines Korridors diverser gewerblicher Betriebe, der sich von Oberbilk – einem der umfangreichsten Industriegebiete der Stadt – über Bilk, immer in der Nähe der Bahnstrecken, bis auf die Lausward erstreckte. Dabei spielten zwei Papierhersteller mit gemeinsamer Wurzel eine wichtige Rolle. Die Papierfabrik Julius Schulte Söhne GmbH & Co. KG an der Fruchtstraße mitten in Bilk produziert noch heute auf gut 20.000 Quadratmetern Kartons und Spezialpapiere. Das Unternehmen ist direkter Nachfolger des ersten Unternehmens dieser Branche in Düsseldorf. Zu Beginn des ersten Booms von Papier als Allzweckprodukt um das Jahr 1860 herum gründeten die Brüder Julius und Friedrich jr. Schulte gemeinsam mit dem Kaufmann Otto Scheffen die erste Fabrik mit den damals modernen Maschinen der Papierherstellung. Unterstützt wurden die Brüder von ihrem Vater Friedrich sen., der allerdings nicht vor Ort war. Da der Laden anfangs nicht gut lief, wirkte auch Sohn Friedrich nicht in Düsseldorf, sondern hatte einen Job in Russland angenommen.

Der Stadtplan vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigt die vier Papierfabriken entlang der Düssel

Der Stadtplan vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigt die vier Papierfabriken entlang der Düssel

Erfolg stellte sich erst langsam ein, und das Unternehmen lebte zunächst eher vom Papiergroßhandel. Bald trat Otto Scheffen aus dem Unternehmen aus, und 1867 trennten sich auch die Brüder, weil Julius seine eigene Firma aufbauen wollte. Da existierte die erste gemeinsam errichtete Papierfabrik gerade einmal sechs Jahre; sie lag südlich der Düssel zwischen den Straßen, die heute Brunnen- und Merowingerstraße heißen. Vater und Sohn Friedrich zogen sich zunächst aus der Branche zurück und verkaufte den Betrieb an einen gewissen Dr. Bock, der die Fabrik unter eigenem Namen fortführte. Zu jener Zeit gab es südlich der Bahnlinie praktisch keine Bebauung, aber dank der Düssel Wasser, das zur Papierherstellung benötigt wurde. Und so entstanden zwischen 1860 und 1890 gleich vier Papierfabriken in dieser Region: die ursprünglich von den Schulte-Söhnen und an Dr. Bock verkaufte Anlage, die Fabrik von Gustav Eichhorn, der Betrieb der Schulte & Zinken GmbH (an der erneut Friedrich Schulte jr. beteiligt war) und ab 1886 die Produktionsstätte der Julius Schulte Söhne GmbH & Co. KG, die noch heute existiert. Alle vier Fabriken standen damals noch inmitten von Feldern und Wiesen, denn die Ausdehnung der Stadt über die Bahnlinie hinaus hatte noch nicht begonnen.

Altpapierfabrik Julius Schulte Söhne  (Foto: DBU)

Altpapierfabrik Julius Schulte Söhne (Foto: DBU)

Während die Fabrik an der Fruchtstraße bis heute existiert, wurden die anderen aus verschiedenen Gründen zu verschiedenen Zeitpunkten geschlossen. Auf das Gelände der Papierfabrik Schulte & Zinken (vormals Dr. Bock) mit der Adresse Suitbertusstraße 146 zog 1961 das legendäre Autohaus Auto Becker, dessen Wahrzeichen der Schlot des Maschinenhauses der alten Papierfabrik war. 1898 hatte Hugo Hermes das Unternehmen übernommen und zu großem Erfolg geführt, sodass die Anlagen in Bilk bald zu klein wurden. 1911 zog man daher in den Hafen zur Fringsstraße um – die inzwischen abgerissene Fabrik entstand. Die wurde zum Haus- und Hoflieferanten für die Henkel Cie., der mit Persil das erste Markenwaschmittel der Welt, das 1906 auf den Markt gekommen war. Über mehrere Jahrzehnte wurden deshalb im Düsseldorfer Hafen Persilkartons und andere Verpackungen für Henkel-Produkte hergestellt.

So werden die C-View Offices an Stelle der Hermes-Papierfabrik aussehen

So werden die C-View Offices an Stelle der Hermes-Papierfabrik aussehen

Die Produktion von Papier und Karton ist eine rohstoff- und energiehungrige Sache, ganz unabhängig davon, wie hoch der Anteil an Recycling-Material ist. Der wirtschaftliche Erfolg von Papierfabriken hängt deshalb nicht nur an der Auftragslage, sondern in ganz erheblichem Maße an den Kosten für geeignete Ausgangsprodukte und vor allem Energie. Nachdem Hermes 2003 an die Curtis 1000 Europe AG verkauft wurde und dieser zunächst auf Papier spezialisierte Konzern Probleme bekam, wurde 2008 die Produktion im Düsseldorfer Hafen eingestellt. Im Februar 2018 begannen die Abrissarbeiten. Inzwischen sind von den Gebäuden und Anlagen auf dem Grundstück keine Spuren mehr zu erkennen. C-View Offices heißt das Projekt, das Büroflächen zwischen der Hamburger Straße und dem Hafenbecken Lausward II bietet und schon 2020 von den ersten Mietern bezogen werden soll. Spätestens dann hat die Geschichte der Papierherstellung im Düsseldorfer Hafen ihr Ende gefunden, und nur noch die Papierfabrik Julius Schulte in Bilk ist in dieser Industrie in der Stadt tätig.

[Anmerkung: Die wechselvolle Geschichte der Düsseldorfer Papierfabriken ist kompliziert und wird in den einschlägigen Quellen nicht wirklich konsistent dargestellt; wir haben uns stark orientiert an einem Artikel im „Jan Wellem“ (Ausgabe 3/2011), der Zeitschrift des Heimatvereins Alde Düsseldorfer.]

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