Bericht · Wer eine Aufführung der musikalischen Avantgarde hört und sieht, wer miterlebt, wie Streicher ihre Instrumente schlagen oder Pianisten ihre Flügel peinigen, der braucht ein großes Herz. Für die Musik im Allgemeinen und für deren inneres Wesen allemal. Denn was Komponisten und Interpreten dem Klang und seinen Hörern zumuten, ist ein Auseinandernehmen von Klängen, ein Vordringen in Abstraktionen und ein Verlassen von Hörgewohnheiten, dass dem Klassikliebhaber Hören und Sehen vergeht. Doch sein Herz zu weiten und zu öffnen, lohnt sich. Schon dann, wenn dem Zuschauer ein kleiner Blick hinter die Kulissen der Abstraktion und des Zergliederns vermittelt wird. Und erst recht dann, wenn er von einem Meister des Fachs eine Führung durch den Raum hinter der Bühne erhält. So geschehen vergangenen am Freitagabend (2. Juli 2021) im Düsseldorfer Klangraum 61 auf der Mettmanner Straße in Flingern beim Werkstattkonzert mit dem Ausnahme-Cellisten Othello Liesmann. [Lesezeit ca. 6 min]

„Othello, hast du einen neuen Klang für mich?“, fragte ihn hin und wieder der Komponist Helmut Lachenmann. Darum geht es bei der neuen Musik: andersartige Klänge zu finden, Harmonien zu durchbrechen, Material zu sammeln und zum Kern dessen vorzustoßen, was Musik ist und sein kann. Das macht die Musikstücke vordergründig spröde, unzugänglich, aber gleichzeitig geheimnisvoll. Mit Anleitung und der Bereitschaft, neue Wege des Musikerlebens zu erkunden, kann es passieren, dass man im Schaben, Kratzen, plötzlichen Aufjaulen und leisen Klopfen eine neue Form von Schönheit entdeckt – die des überraschenden Blicks auf die Ursprünge von Tönen, Tempi, Rhythmen und Kontrapunkt.

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Eröffnet hatte Liesmann das Konzert mit einer eigens von ihm hierfür in Auftrag gegebenen Komposition des Düsseldorfer Künstlers Johannes Sandberger. In seinem Begleittext zu dem Stück „Facetten“ sagt Sandberger, er habe mit seiner Komposition ein breites Spektrum menschlicher Emotionen streifen wollen: Da treffe beispielsweise Zartes überraschend auf plötzliche heftige Ausbrüche und Klangexplosionen – eine aufbrausende Melodiephrase kehre langsamer, verträumt mit gezupften Tönen wieder, unverhofft klängen manche Stellen nach leiser Ironie oder in gemischten Taktarten auch unerwartet heiter tänzerisch. Lässt sich Tönendes besser beschreiben?

Johannes Sandberger vor dem Klangraum Mettmanner Str. 61  (Foto: K. Buck für TD)

Johannes Sandberger vor dem Klangraum Mettmanner Str. 61 (Foto: K. Buck für TD)

Miro Dobrowolny, selbst Komponist, Dirigent und künstlerischer Leiter des weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannten Art Ensemble NRW, betreibt den Klangraum 61 bereits seit 2013. Das Art Ensemble, ein Zusammenschluss von rund dreißig Musikern, besteht schon seit gut dreißig Jahren. Im Klangraum Mettmanner Straße 61, einem von außen eher unscheinbar anmutenden Ladenlokal, fanden bis dato etwa sechzig Konzerte und Salons neuer Musik statt. Und das Klangraum-Festival, in dessen Rahmen das Werkstattkonzert live wie online erlebbar war, gibt es schon im achten Jahr. Mit ihren Aufführungen bespielen Dobrowolny und das Ensemble in wechselnden Zusammensetzungen auch das Palais Wittgenstein, die Berger- und die Neanderkirche. Die meisten der Konzerte stehen auf dem Youtube-Kanal Klangraum 61 zur Verfügung.

Liesmann sammelt sich im Rampenlicht  (Foto: K. Buck für TD)

Liesmann sammelt sich im Rampenlicht (Foto: K. Buck für TD)

Was Liesmann als musikalische Beispiele inklusive ihrer Entstehungsgeschichten vortrug und spielte, ist im Mitschnitt des Werkstattkonzerts zu sehen, und es gibt sowohl dem Neuling in neuer Musik, als auch dem Kenner und Liebhaber spannende Einsichten in das Terrain. Etwa die entwaffnend schaurig-ernsthafte Szene, die Liesmann wunderbar authentisch wiedergab (25:30). Wo nämlich der Komponist Bernd Alois Zimmermann, einer der konsequentesten Klang-Sezierer neuer Musik, Liesmanns Cello-Kollegen Siegfried Palm korrekt in Schlips und Kragen gekleidet besuchte, um ihm das fehlende Abschlussstück seines Kompositionswerks zu überreichen, die „Vier kurzen Studien für Violoncello“ von 1970. In denen legte Zimmermann das Surrogat einer musikalischen Theorie vor, die Stücke handeln statt von Tönen nur von Abstraktionen. Das klingt so, wie wenn ein Astrophysiker die Krümmung der Zeit oder das koboldhafte, extrem flüchtige Erscheinen von Higgs-Bosonen zu erklären versucht. Gut erzählt, kriegt man für Sekundenbruchteile eine Ahnung dessen, was da stattfindet. Immerhin spielte Othello Liesmann diese verzaubernd andersartigen Etüden gleich zwei Mal, im Mitschnitt ab 27:00.

Wer das gesehen hat, weiß, was Othello Liesmann meint, wenn er sagt: „Das Unentdeckte ist mein Motiv.“ Liesmann, in einem Monat achtzig Jahre alt und mit Hunderten von Konzerten und Künstlerbegegnungen auf den Schultern, plant derzeit eine ganz persönliche Retrospektive auf die letzten rund fünf Dekaden neuer Musik. Sein nächstes Projekt heißt „Zeitzeuge“, Liesmann wird es zusammen mit dem Düsseldorfer Art Ensemble NRW und dem Klangraum 61 aufsetzen. Die Veranstaltungsreihe soll alle Stationen der Neuen Musik in der Bundesrepublik mit erzählten Hintergründen und Klangbeispielen abschreiten, angefangen im Jahr 1963 mit den internationalen Ferienkursen für Neue Musik auf der Mathildenhöhe und in der Stadthalle in Darmstadt (die gibts übrigens heute noch).

Nur für Eingeweihte lesbar: Eine Partitur für das wohlstrukturierte Violoncello  (Foto: K. Buck für TD)

Nur für Eingeweihte lesbar: Eine Partitur für das wohlstrukturierte Violoncello (Foto: K. Buck für TD)

Darmstadt war damals der Nabel der Welt und die Ideenwerkstatt für neue Musik mit Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Maurizio Kagel, Luciano Berio, Luigi Nono, Bernd Alois Zimmermann oder John Cage. Parallel zu Darmstadt traf sich die Szene in Köln, wo der WDR Liesmann zufolge einem barocken Mäzen gleich die neue Musik großartig unterstützte. „John Cage hatte ich nicht mehr im Hessischen erlebt“, sagt Liesmann, „aber in Köln hat er oft bei mir auf dem Sofa gesessen. Unvergesslich ein Konzert damals auf der Burg Hengebach in Heimbach (Eifel), auf dem ich sein Stück 4´33´´ auf dem Cello ’spielte‘, und das mangels eines Dirigenten oder andersartig Einsichtigen erst nach unglaublich langen neun Minuten unfassbar vollkommener Stille endete, als ein draußen vorbeiknatterndes Motorrad das Band zerriss.“ Anfangs habe Liesmann John Cage gar nicht verstanden, aber „persönlich mochte ich ihn sehr gerne.“ Nur seine Philosophie habe ihm anfangs nichts gesagt. Cages „Alles ist Kunst“, was auch Joseph Beuys ähnlich vertrat, bedeutete Liesmann zufolge, dass die Zuhörer bei 4`33„ plötzlich doch etwas hörten im Saal. Also sei es Kunst, wenn die Besucher trotz musikalischer Stille doch etwas registrieren – wie bei Beuys, der wusste: „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Die Zusammenhänge zwischen Beuys und Cage, verspricht Liesmann, werde er in seinem „Zeitzeuge“-Projekt ausführlich aufarbeiten.

John Cage: 4'33'' / Petrenko · Berliner Philharmoniker

Auf die Frage, warum Neue Musik nicht Pop ist, antwortet Liesmann trocken: „Popmusik ist, was gefällt, das kann stinklangweilig sein, manchmal ist was Interessantes dabei. Aber die gehen um Gottes Willen keine Experimente ein. Wenn Sie heutige Popmusik nehmen: Die arbeitet mit dem Material von vor 300 Jahren. Nach wie vor die Kadenz, obwohl es seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Zwölftonmusik gibt. Die Popmusik bedient, die neue Musik forscht. Die sucht neue Klänge. Komponieren heißt, neues Material zu einem Kunstwerk zusammenfügen. Obwohl ich nichts gegen Popmusik habe. Ich habe ja auch nichts gegen Softeis. Es schmeckt mir halt nicht.“

Miro Dobrowolny mit Liesmann kurz vor Programmstart (Foto: K. Buck für TD)

Miro Dobrowolny mit Liesmann kurz vor Programmstart (Foto: K. Buck für TD)

Insgesamt stimmen nach Auffassung des Cellisten schon lange die Relationen nicht mehr, weil alles wie beim Rundfunk immer nur nach den Einschaltquoten schielt. „Ich bin mit dem Cello um die ganze Welt gereist, ich habe in der Carnegie Hall gespielt, im Teatro de Bologna, in Novosibirsk oder am Tschaikowsky-Konservatorium in Sankt Petersburg. Das war dann meistens das Goethe-Institut. Aber heute hat sich die Politik verschoben. Bis zur Wiedervereinigung hatte man noch das Gefühl, dass Kunst einen Stellenwert besaß. Dann wurde das rigoros runtergefahren, und wer am lautesten schrie, bekam den größten Batzen. Und apropos Massengeschmack: Einschaltquoten sind ja eigentlich Ausschaltquoten – Herz und Verstand bleiben bei hohen Zugriffszahlen meist ohne Strom.“

Parallelen zum Pop sieht Liesmann auch in der öffentlichen Förderpolitik. Wenn nur ausreichend unterstützt werde, was als Großkunst gelte und gemeinhin gefalle, komme die meist klein gelassene Kunst, insbesondere die Neue Musik, zu kurz. Daher ein kleiner Tipp im Anschluss: Das Düsseldorfer Publikum und insbesondere in dieser Stadt ansässige Sponsoren sind gut beraten, der hier vor oft viel zu kleinem Publikum vorgetragenen Klangkunst mehr Aufmerksamkeit und Förderung zu schenken. Hochburg hierzulande war einmal die südlich Düsseldorf gelegene Vorstadt Köln. Heute könnte die Landeshauptstadt diese Lücke füllen. Die Künstler sowie wichtige Projekte und Vorhaben sind da, die Förderung in homöopathischen Dosen auch. Jetzt fehlt nur noch ein initialer Impuls, um nach Kraftwerk und den Hosen wieder ein neues, hochwertiges musikalisches Zeichen zu setzen.

Hier der Mitschnitt des Werkkonzerts mit Othello Liesmann am 2. Juli 2021 im Klangraum 61:

Online Cello! Lecturekonzert mit Othello Liesmann

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