Der Wortschatz meiner Familie wird außerhalb der Hochsprache aus zwei Quellen gespeist: dem, was meine Eltern aus Ostpreußen und Pommern mitbrachten, und dem, was sich über die hoch im Norden lebende Verwandtschaft einschlich. Dass die Familie zufällig im schönsten Städtchen am Rhen landete, führte dagegen nicht zu rheinischen Lehnwörtern; die kamen erst später. Besonders viel Einfluss nahm bei der Invasion des Norddeutschen der Onkel Fietsche aus Hamburg, der zweite Mann von Tante Lisbeth, die eine Kriegerwitwe war.

Fietsche stammte aus einer alten Altonaer Dynastie von Ladenbesitzern mit Hang zum Entertainment. Sein Vater hatte zum Beispiel ein angesehenes Geschäft für Seilereiwaren und hat nebenbei ein wenig erfolgreiches Brettspiel erfunden (dessen Regeln nie jemand kapierte). Der Onkel war bis zu seinem Rücken Fernfahrer, und immer wenn ich den wunderbaren Film „Nachts auf den Straßen“ mit Hans Albers sehe, muss ich an ihn denken. Anscheinend verdiente er gut, denn er konnte sich einen Mercedes leisten; genaue gesagt: einen 170 DS, der noch sehr nach Vorkrieg aussah. Uns Kinder amüsierte Onkel Fietsche gern mit derben Späßen und Sprüchen, und bisweilen führte er seine Clownsnummer auf.

Da meine kleine Schwester Angst vor ihm hatte, wenn er grell geschminkt mit Rothaatperücke und Ringelhemd im Wohnzimmer umhersprang, war sie oft kurz vor dem Weinen. Und dann sagte Onkel Fietsche mit seiner normalen Stimme: „Nu zieh ma nich so’ne Flunsch.“ So kam das Wort zu uns und verfestigte sich rasch. Bis ich es dieser Tage nachschlug, war mir nicht bewusst, dass dieser Ausdruck weithin bekannt und gebräuchlich ist – vermutlich in ganz Deutschland nördlich des Main. Wenn man nun „Flunsch“ in der Bildersuche eingibt, erscheinen haufenweise Fotos der Kanzlerin. Deren nach unten gebogenen Mundwinkel sind anscheinend archetypisch für ne Flunsch.

Dabei hängt „Flunsch“ etymologisch mit „Flennen“ zusammen, dem eher abwertend gemeinten Synonym für „Weinen“. Soll sagen: Die Flunsch steht – wie beim Beispiel meiner Schwester – vor dem Flennen. Apropos: Bei uns sagte man statt „Flennen“ eher „Bratschen“, wenn man der weinenden Person zu verstehen geben wollte, dass man dessen Tränenfluss für überflüssig hielt. So, und dafür finde ich im großen Internet keine Erklärung. Möglicherweise stammt es aus Pommern, weil mein Vater es mit Vorliebe benutzte. Vielleicht ist es aber auch einfach ausgestorben. Statt dessen sagt man heute ja her: „Heul hier nicht rum!“ – wenn einer nach dem Ziehen einer Flunsch beginnt zu kriesche

2 Kommentare

  1. Bratschen ist mir auch noch in Erinnerung.
    Nur kann es dann eher weniger aus Pommern stammen, denn dahin habe ich keinerlei Verbindung.
    Na ja, und die Flunsch ist eh bekannt..