Unser Vater war überzeugter Europäer. Vermutlich als Folge seiner im Krieg verlorenen Jugend. Drei Jahre hatte er als „zwangsarbeitender“ Kriegsgefangener bei einer Familie in Cockley Cley, Norfolk, verbracht und bezeichnete diese Zeit als einer der schönsten seines Lebens. Man hatte ihn wie einen Ziehsohn aufgenommen, und wäre seine Sehnsucht nach der Familie nicht so groß gewesen, wer weiß, vielleicht wäre er dort geblieben – wie nicht wenige deutsche Prisoners of War; zum Beispiel der legendäre Torwart von Manchester City, Bert Trautmann. Tatsächlich schwärmte er Zeit seines kurzen Lebens (er starb im Juni 1967 mit nur 43 Jahren) für Großbritannien und alles, was mit dem Vereinten Königreich zu tun hatte. Das erlebten wir besonders intensiv im Jahr 1965 als er die ganze Familie zur britischen Wirtschaftsausstellung in den Messehallen – damals noch zwischen Fischerstraße und Rheinterrassen – mitnahm.

Britische Ingenieurskunst

Uns Jungen begeisterte er dabei vor allem für die urbritische Hovercraft-Technik; er selbst ließ sich damals einen Austin 1800 zeigen, den er als Familienkutsche in Betracht gezogen hatte. Damals wusste ich nicht im mindestens, was gerade Düsseldorf den Briten zu verdanken hat: Dass dieser schönste Ort am Rhein nämlich 1947 zur Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen gemacht worden war. Zwar waren dir Britischen Streitkräfte schon ab 1955 nicht mehr „Besatzer“, sondern hatten ihre vielen Truppenstandorte in NRW im Rahmen der NATO-Politik behalten. Auch in Düsseldorf gab es eine Menge britischer Soldaten, die mit ihren Familien vor allem im Umfeld des Nordparks lebten.

Im Gegensatz zum Standort Rheindahlen, den man nur „Little Britain“ nannte, war die Tommies in Düsseldorf nicht von der Bevölkerung abgeschottet. Zwar durften auch hier Nicht-Briten nicht im NAAFI einkaufen, aber wer einen kannte, der einen kannte, der ein Mitglied der British Army kannte, der konnte sich natürlich Sachen aus dem speziell für die Angehörigen der königlichen Streitkräfte eingerichteten Supermärkte mitbringen lassen. Wir kannten leider keinen, der einen kannte, sodass wir nie in den Genuss der britischen Produkte kamen, die unser Vater oft und gern beschrieb. So sehr er die Briten mochte, noch viel mehr war er ein großer Freund der USA. Er liebte die amerikanischen Musicals, allen voran „Porgy und Bess„, aber auch „Oklahoma!„.

The British Forces Broadcasting Service

Wir waren also auf eine positive Sicht auf die USA und das Vereinigte Königreich von klein auf gepolt. Da war es klar, dass etwa ab 1962 die BFBS unser Leib-und-Magen-Sender wurde, der fast rund um die Uhr aus dem alten Röhrenradio strömte, den wir in unserem Zimmer hatten. Okay, manchmal hörten wir auch Radio Luxemburg wegen der deutschen Hitparade, und später versuchten wir oft, die Piratensender reinzukriegen, die noch mehr aktuelle Popmusik brachten als die BFBS, vor allem Radio Caroline und Radio Veronica. Die BFBS aber war für uns nicht nur DIE Musikquelle, sondern auch ein Ohr in die Welt; hier liefen die Grüße der britischen Soldaten aus aller Welt zusammen, hier lernte man viele Dinge über Großbritannien, die sonst nicht verbreitet wurden.

Initialzündung unserer privaten Beatlemania war denn auch die erste Ausstrahlung von „I want to hold your hand“ in der BFBS im November 1963. Da war ich gerade elf Jahre alt geworden. „She loves you“ aus dem August desselben Jahres hatten wir noch nicht mitgekriegt, weil wir da vermutlich noch kein eigenes Radio hatten. Stattdessen verfügten wir über die ablegte Musiktruhe von Onkel Harald, bei der aber der Radioempfang nicht funktionierte. Dafür hatte das Tonmöbel aber einen Zehnplattenwechsler, auf dem wir die Schallplatten – also ausschließlich Singles – abspielten, die wir gekauft oder geklaut hatten. Platten zu klauen war in jenen Jahren Volkssport unter den Schülern, und so manche Sammlung kostete den Inhaber keinen Pfennig.

Brieffreundschaften

Auch unsere Schule, das Leibniz-Gymnasium an der Scharnhorststraße war sehr british minded. So wurde über den Englischunterricht angeboten, Adressen für Brieffreundschaften mit Schülern in England zu beschaffen – wovon mein Bruder und ich natürlich Gebrauch machten. Leider sind die Briefe alle verlorengegangen. Ich weiß nur noch, dass meine Brieffreundin Sheila hieß und in Lemington Spa wohnte, einem Kurort in Warwickshire, während die Schreibfreundin meines Bruders aus Coventry war. Über die beiden Mädchen waren wir natürlich über alles, was sich in der Popmusik tat, auf dem Laufenden. Einmal schickte uns die eine ein ganzes Paket mit Beatles-Kram: Fotos, Miniplakate, Autogrammkarten (ohne Autogramme) und ja, auch eine Single, die mit „Can’t buy me love“ und „You can’t do that“ auf der B-Seite.

Mir fiel Englisch in der Schule sehr leicht. Und weil ich Spaß an dieser Fremdsprache hatte, verstand ich auch die Texte ganz gut und konnte die weniger sprachbegabten Kollegen über die Inhalte der Songs informieren. Außerdem begann ich, englische Literatur, genauer: englischsprachige Literatur zu lesen. Mein Programm war allerdings deutlich stärker durch US-Schriftsteller dominiert, zumal unser Vater beim Bücherclub vorwiegend Titel wie „Früchte des Zorns“ und „Jenseits von Eden“ von John Steinbeck bestellte. Dafür aber hörte ich mit Begeisterung Hörspiele der BBC, die von der BFBS zu unmöglichen Zeiten ausgestrahlt wurden. Und natürlich war ich auf der Straße als Queen Elizabeth II. im Mai 1965 Düsseldorf besuchte. An den Rheinterrassen, wo es an der Schlange zum Rheinwerft geht, kam ich ihr auf Armeslänge nahe.

Monate in Woking

Während mein Bruder 1966 im Rahmen eines Schüleraustauschs nach Schweden ging und sein Partner Lars-Göran ein paar Wochen bei uns lebte, wollte ich unbedingt nach England. Zum Glück war das Leibniz-Gymnasium auch in dieser Hinsicht sehr rührig. Also bewarb ich mich – mit ausdrücklicher Unterstützung meines Vaters – im Sommer 1966 für einen solchen deutsch-britischen Austausch … und wurde angenommen. Ausgangspunkt für das Programm waren die besonders engen Beziehung zwischen Düsseldorf und der späteren Partnerstadt Reading (ab 1988) in Surrey; alle Partnerschulen lagen in der Nähe; ich wurde der Grammar School for Boys in Woking zugeteilt. Noch vor den Osterferien kam Dave Clarke zu uns – mein Vater lernte ihn also noch kennen und unternahm zahlreiche Ausflüge mit uns.

Nur wenige Tage nach der Beerdigung meines Vaters reiste ich mit der Gruppe der Austauschschüler und in Begleitung eines Lehrers nach England. Die Familie Clarke lebte in einer Reihenhaussiedlung gut zwanzig Busminuten außerhalb von Woking, die zum Dorf Bisley zählte. Unsere Bushaltstelle war nach einem alten Gasthof benannt, der dort schon seit Jahrhunderten existierte und „The Hen and Chicken“ hieß. Sofern wir nicht in unserer Eigenschaft als Schüler mit dem Bus fuhren, kauften wir immer Fahrscheine nach dem Muster „one and a half to The Hen and Chicken“, obwohl wir beide schon hätten voll zahlen müssen.

Normal People

Unsere Schule (die es heute nicht mehr gibt…) war eine sehr traditionelle Grammar School in einem sehr traditionellen Gebäude aus Backstein mit dunklen Räumen, die meisten braun gestrichen oder mit Holz vertäfelt. In den Klassen standen altmodische Pulte, und natürlich gab es eine Schuluniform, genauer gesagt: Ein Jackett und ein Schlips. Beides zog man erst nach dem Betreten der Schule an; jeder hatte einen eigenen Spin, in dem sogar zwei Sakkos in Dunkelgrün hingen: das zweite hieß Lunch Jackett und wurde zum Essen getragen – dementsprechend sah das auch aus. Der Speisesaal hatte eine Bühne, auf der die Tische der Lehrer standen, während wir an langen Tischreihen saßen. Es war wie im Film: Zu jedem Tisch gehörte eine wechselnde Mannschaft, die das Essen für die Kollegen holte und servierte. Gegessen wurde erst, wenn der Direktor die Mahlzeit freigab.

Natürlich wurde ich in der Schule herumgereicht, wobei die Lehrer fast immer nach der Nachkriegszeit fragten und die Schüler nach dem Wembley-Tor. So wurde ich bekannt wie ein bunter Hund unter den rund 800 Schülern und rasch Teil der Gemeinschaft. Vor allem natürlich unseres Jahrgangs, der sich den Sommer über nachmittags so oft es ging im Freibad traf. Dort stießen dann die Mädchen der befreundeten Girls School zu uns. Irgendwer hatte immer ein Kofferradio dabei, und so hörten wir in den heißen Tagen Hits wie „Itchycoo Park“ von den Small Faces und „We love you“ von den Stones. Mit dem Bummelzug brauchte man eine knappe Stunde nach London. Im Schritttempo holperte die Eisenbahn durch die südöstlichen Vororte, damals durchgehend schmutzig und leicht baufällig. Ab Victoria Station ging’s dann mit der Tube oder dem Bus weiter. Dave kannte sich ganz gut, deshalb ließen uns die Eltern auch nach Wunsch in die Metropole fahren.

Die Clarkes waren eine mittelständische Familie, aber nicht besonders typisch für den britischen Mittelstand. Was Mr. Clarke, der hieß Maurice mit Vornamen, beruflich tat, weiß ich nicht. Dass dabei ein bescheidener Wohlstand zusammenkam, war offensichtlich: das Haus war für eine vierköpfige Familie recht groß, neu und komfortabel, es gab zwei Autos, und im Urlaub fuhr man nach Frankreich – was damals für eine englische Familie seeehr ungewöhnlich war. Man kann sagen: Die Clarkes waren einigermaßen frankophil – vielleicht lag es daran, dass Ms. Clarke sehr gut kochen konnte; die kulinarischen Grausamkeiten, von denen andere Austauschschüler zu berichten wussten, blieben mir erspart.

London und der Rest

Wir durften sogar zu einem Konzert; das fand statt im legendären Roundhouse, und eine der sieben oder acht Bands, die dort auftraten, war Pink Floyd, die gerade mit „See Emily Play“ in den Charts waren. Ich erinnere mich ansonsten noch an Arthur Brown und die Keef Hartley Band. Es kann sich um eine Art Minifestival gehandelt haben, weil es schon am frühen Nachmittag losging. Selbstverständlich zogen wir auch zur damals weltberühmten Carnaby Road und stöberten in den Plattenläden von Soho. Die ganzen Sehenswürdigkeiten bekamen wir bei mehreren gemeinsamen Ausflügen aller Austauschschüler nach London verabreicht. Wichtig war aber für uns nicht, den Tower, die St. Pauls Cathedral und die Houses of Parliament gesehen zu haben, sondern möglichst viele Souvenirs mit dem Union Jack zu erwerben.

Bei uns auf dem Land gab es an jedem Wochenende gesellschaftliche Anlässe, bei denen sich die Nachbarschaft traf. Ein paar Mal waren wir beim Cricket (dessen Regeln ich nie verstand) oder bei irgendwelchen Kirchenfesten oder einfach bei großen Picknicks in den Parks der Gegend. Wie mein Vater Dave nahmen auch seine Eltern mich mit auf diverse Ausflüge, wobei mir besonders eine mehrtägige Reise an die Südküste im Gedächtnis geblieben ist, weil wir auch nach Brighton kamen, wo ich die berühmte Promenade und Pier kennenlernte, die für die Schlachten zwischen den Mods und den Rockers 1964 mehr berüchtigt als berühmt geworden war. Und ja, es gab auch eine winzige Liebelei mit Stephanie, der Tochter einer befreundeten Familie, die es mir erlaubte, im Auto meinen Arm um sie zu legen.

Englische Kultur

Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass ich vor allem die englische Kultur kennengelernt hatte, die ja nur ein Aspekt davon ist, was das Vereinigte Königreich ausmacht. Aber meine Sympathie für Großbritannien habe ich nie verloren. Für meinen Vater war dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Briten und Deutschen ein wichtiges Zeichen für ein friedliches Europa. Auch wenn er mit einige anderen Staaten Kerneuropas zu Lebzeiten wenig zu tun hatte, suchte er jede Gelegenheit, eine Grenze zu überwinden. Belgien war ein Land, das er sehr liebte und zu dem er berufsbedingt verschiedene Verbindungen hatte. Natürlich gehörten Ausflüge in die Niederlande zum festen Programm. Wenn wir bei der Stiefoma in Nordfriesland waren, fuhren wir natürlich immer auch nach Dänemark. Und in den Alpen, die mein Vater in seiner Eigenschaft als leidenschaftlicher Autofahrer wegen der Pässe sehr mochte, machte er sich einen Spaß daraus, zwischen Bayern, Österreich und der Schweiz hin und her zu wechseln. Nur nach Frankreich kam er, soweit ich weiß, nie.

Ich bin sicher, dass die Drohung des Brexit meinen Vater traurig und wütend gemacht hätte. Er hätte sie vermutlich als schlimmen Rückfall in die Zeiten des Nationalismus verstanden. Denn genau das ist es, was die ganzen antieuropäischen Tendenzen ausmacht: Sie sind die Ausgeburten nationalistischer Hirnstörungen, die man für längst überwunden gehalten hat. Also hoffe ich immer noch, dass es am Ende nicht zum Brexit kommt. So wie ich mir eine Wiedergeburt Europas wünsche – nicht mehr als Wirtschaftsunion, sondern als friedlicher Verbund von Staaten auf der Basis gemeinsamer kultureller Traditionen und Werte.