Über viele Jahre war die Rethelstraße vor allem als Einkaufsstraße bekannt. Dann entdeckte der hiesige Boulevard den pittoresken Bordellbesitzer Wollersheim und erhob ihn zum Promi. Plötzlich war die ganze lange Straße öffentlich nur noch bekannt für den Puff in den Hausnummer 73 bis 77. Ja, die quotengeilen Blättern entblödeten sich nicht, ausdauernd über die anderen B- und C-Promis zu berichten, die „beim Berti“ ein- und ausgingen, vergaßen aber zu erwähnen, dass dieser wegen räuberischer Entführung vorbestraft war. Jetzt ist „der Berti“ genauso pleite wie seine Bordelle, wo man nun das eher geschmacklose Inventar verkloppt – jeden Donnerstag von vier bis acht. Wird also Zeit, von der anderen Rethelstraße zu erzählen, dieser brodelnden Einkaufsmeile der wohlhabenden Bürger aus dem sogenannten „Zooviertel„.
Diese Funktion nimmt der Unterlauf der Straße schon seit gut und gerne sechzig Jahren ein. In unmittelbarer Nähe des Derendorfer Güterbahnhofs gelegen hatte die Rethelstraße in den Bombenächten des Weltkriegs schwer was abbekommen, und nordöstlich der Zoobrücke hatte man in den späten Vierziger- und anfangs der Fünfzigerjahre viele schmucklose Mietshäuser hingeklotzt, die fast alle ein Ladengeschäft ins Erdgeschoss gepflanzt kriegten. So kamen gleich die Bäckerei Cölven, das Früchtehaus am Zoo und der Metzger, der heute Waggershauser heißt, hierher. Bis weit in die Siebzigerjahre hinein war die Straße an der zweigeteilt – denn ab Hausnummer 101 gab es praktisch keine Passanten mehr. Und dass nicht, weil ja schon damals ein verruchtes Stückchen Rotlicht dort angebracht war. Wir Jungs der Sechzigerjahre, die wir gern die Fernsehserie „77 Sunset Strip“ sahen, sangen gern und laut „Siebenundsiebzig Rethel-Street“, wenn wir von Pempelfort rüber ins Zooviertel marschierten – zum Beispiel, um im Eisstadion bei den Laufzeiten ein bisschen schlittschuhzulaufen.
Mein Revier als Zeitschriftenausträger
Meine persönliche Beziehung zur Rethelstraße war ein paar Jahre lang deutlich intensiver. Ab 1968 war das Viertel, das von ebendieser Rethelstraße, der Lindemannstraße und der Grafenberger Allee begrenzt war, mein Revier – ich trug dort nämlich Zeitschriften aus. Meistens am Freitag belud ich mein Fahrrad mit zwei altmodischen Aktentasche voller Illustrierte des Bauer-Verlags; die Palette reichte von der Klamottenpostille „Neue Mode“ über „Quick“ und „Bunte“ bis zum Softpornoblättchen „Praline„. Hinzu kam die Masse der Fernsehzeitschrift „TV Hören und Sehen„. Die Adressen der Abonnenten hatte ich auf kleinen Pappkarten, auf denen ich jeweils anzukreuzen hatte, wenn jemand seine Magazine bekommen und vor allem dafür bezahlt hatte! Denn das war die Grundlage der Abrechnung: In einem unwirtlichen Büro an der Geistenstraße hausten zwei strenge, um nicht zu sagen; bösartige Mitarbeiter dieses Zeitschriftenvertriebs und kontrollierten. Sie nahmen die Zahlen der gelieferten Magazine, zogen die Remittenden ab, checkten, ob das Ergebnis mit den Kreuzchen auf den Karten übereinstimmte und schimpften. Sie schimpften immer: zu viele Remittenden, falsche Summen und was auch immer.
Dabei brachten Versuche, den Vertrieb zu bescheißen gar nichts. Denn ich verdiente quasi Provision: Ich nahm die Ladenpreise ein, musste aber nur den Vertriebspreis abgeben. Pro „TV Hören und Sehen“ – ich werde es nie vergessen – kam ich auf satte 11 Pfennig! Wichtig war es, nett zu den Kunden zu sein, denn die Summe der Trinkgelder war meist höher als die der Provisionen. Und wenn es mir – selten genug! – gelang, einer Oma zum Beispiel ein „Praline“-Abo anzudrehen, bekam ich sage-und-schreibe 2 Mark dafür. Ja, es waren vorwiegend ältere Damen, meist Witwen, die ich belieferte. Dazu jede Menge Leute, denen man die Abos angedreht hatte und die sich ständig versuchten zu drücken. Da klingelte ich bei hartnäckigen Verweigerern auch schon mal ein paar Minuten lang sturm… Zu den Abnehmern zählte nicht nur die merkwürdige Pension an der Ecke Lindemann-/Hebbelstraße und ein paar Arztpraxen und Frisöre, sondern eben auch der Puff auf der Rethelstraße 77. Das war natürlich lange bevor „der Berti“ seine Karriere als Haarstylist an den Nagel gehängt, aus Köln ins schönere Düsseldorf gekommen war und auf Nutten umgesattelt hatte.
Der Puff als Kunde
Meine Kontaktperson war die Wirtschafterin, die in schmucker Kittelschürze in der großen Küche im Erdgeschoss wirkte. Da gab es einen Tisch für locker zwölf Personen sowie ein schickes Plüschsofa, und die Jalousie vor dem Fenster zur Straße war immer geschlossen. Das Bordell war Großabnehmer – denn die fröhliche Dame mittleren Alters nahm die Hefte für alle im Hause tätigen Prostituierten entgegen. Die „Praline“ war übrigens nicht dabei, dafür aber fünf- oder sechsmal „Neue Mode“ und satte zehn „TV Hören und Sehen“. Weil es aber im Puff das fetteste Trinkgeld gab, legte ich diese Station gern ans Ende meiner Tour. Auch weil ich dort regelmäßig bewirtet wurde. Im Sommer gab’s mindestens Cola oder Sinalco, im Winter Kakao, dazu immer auch eine Stulle, ein Stück Kuchen oder einfach nur Plätzchen. Nicht selten saßen schon zwei, drei Arbeiterinnen auf dem Sofa, wenn ich kam, und meistens kamen andere Damen auf ein Tässchen Kaffee runter. Es war sehr nett in der Rethelstraße 77 bevor „der Berti“ das Regime übernahm.
War ich das Gros der Blätter losgeworden, belohnte ich mich in aller Regel selbst. Am Knick der Rethelstraße gab es zwei Läden meines Vertrauens: Eines war die Hussel-Filiale, die in der Weihnachtszeit die allerbesten Spitzkuchen der Welt verkaufte. Da musste ich mir Woche für Woche eine knisternde Zellophantüte voller süßer und schokoladenummantelter Lebkuchenbrocken leisten. Gleich nebenan hatte eine damals schon etwas ältere Dame einen Plattenladen, der – wenn ich’s richtig erinnere – aus ihrem Schreibwarengeschäft hervorgegangen war. Das Sortiment war grandios, und man konnte mit ihr über die neusten Erzeugnisse der fortschrittlichen Rockmusik schön fachsimpeln. In sechs von acht Wochen gingen dort meine Einkünfte der jeweiligen Tour über den Tresen – immer reichte es für eine LP, manchmal saß noch ein Sonderangebot drin. Aber letztlich war es ja auch die Motivation, die mich zu dieser blöden Arbeit trieb: Platten kaufen!
Armes Wohnen auf der Rethelstraße
Kaum acht Jahre nach meiner letzten Zeitschriftenrunde landete ich wieder auf der Rethelstraße. Zusammen mit A. bezog ich eine Wohnung in der ersten Etage der Hausnummer 141. Damals war noch kein Miethai auf die Idee gekommen, jede Bruchbude kernzusanieren, um sie dann für die dreifache Miete zu verticken. Also mussten wir für drei Zimmer, Küche, Bad auf rund 70 Quadratmetern im Jahr 1979 nicht einmal 200 Mark pro Monat an den Eigentümer überweisen. Natürlich war die Bude einigermaßen angeranzt, aber auch ziemlich gemütlich. Wir wohnten also mitten auf der Einkaufsmeile und konnten aus dem Wohnzimmer gut beobachten, wie die vom Konsum Besessenen an den Schaufenster vorbei hetzten, um ja nicht zu wenig einzukaufen. Manchmal hingen wir mit Bierflaschen in den Händen eine Stunde auf der Fensterbank und lästerten über die Leute da unten.
Natürlich profitierten wir auch teilweise von der Fülle der Einkaufsmöglichkeiten. Zwar reichte unsere Budget eigentlich nicht aus, um regelmäßig bei Cölven Brot und Kuchen zu erwerbe, auch die Metzgerei Waggershauser war eigentlich eine Nummer zu teuer aus, von „der Apotheke“ – so nannten wir das Früchtehaus am Zoo gleich gegenüber – ganz zu schweigen. Da war denn doch eher der Konsum gleich nebenan eher das Ziel der Gänge mit dem Einkaufsnetz. Gern aber frequentierte ich den Schreibwarenladen Weniger, der eben nicht nur Papier, Stifte & Co. bot, sondern ein enorm umfangreiches Angebot an deutschen und internationalen Zeitungen und Zeitschriften, sondern ein gewisses Sortiment an Spielwaren. Oft ging ich zum Schmökern in den Magazinen hinein, und nie hat irgendwer auch nur ein einziges Wort dagegen gesagt. Unsere Kippen kauften wir anfangs im kleinen Tabakladen schräg gegenüber. Aber nachdem mich die Inhabern zweimal blöd angemacht hatte, wechselte ich zur Konkurrenz oben an der Ecke zur Weseler Straße.
Die zweitbesten Frikadellen der Stadt
Zumal es um die Ecke eine Pommesbude gab, in der man die mit Abstand zweitleckersten Frikadellen der Stadt bekam (die leckersten konnte man nur in der Kotlettbud am Dreieck kriegen). In den zwei Jahren, die wir dort wohnten, gab es gut und gerne einmal die Woche Frikadellen mit Pommes zum Abendessen. Weil die ganze Zeit über der Abfluss an der Spüle in unserer Küche nicht richtig funktionierte, konnten wir eben oft nicht kochen. Oder abwaschen. Oder beides. Dafür funktionierte der Kühlschrank, der immer gut gefüllt war mit leckerem Tuborg sowie dem einen oder anderen Weißwein. Apropos: Vermutlich war es die Ankunft von Jaques Weindepot in einem der Hinterhöfe, der die gnadenlose Gentrifizierung der Rethelstraße einläutete. Denn ab Ende der Siebzigerjahre verdrängten junge Besserverdiener alle Couleur die alteingesessenen Reichen im Zooviertel und brachten ihre – damals schön öko-schicken – Ansprüche mit.
Zwar ändert sich die Belegschaft der Straße immer wieder, aber seit vielen Jahren ist es vorwiegend teuer hier. Trotzdem konnten sich einige Institutionen halten. Alle voran der Fotoservice am Zoo, ein klassischer Fotoladen, wo man früher die Filme hinbrachte, um eine Woche später die Abzüge zu holen. Highlight dieses winzigen Ladens mit eigenem Labor war, dass dort auch Diapositive selbst hergestellt wurden! Ja, man beherrschte den Ektachrome-Prozess, und das konnten damals nicht viele Labors in der Stadt von sich behaupten. Es ist ein Wunder, dass dieser Laden den Übergang ins digitale Knipszeitalter unbehelligt überstanden hat. Immerhin hat man sehr früh den Service angeboten, digitale Bilder zu drucken, und eine digitale Passfotostation hat man dort schon lange.
Gleich nebenan gibt es seit über 55 Jahren die Kneipe, die weit einiger Zeit „Frankenheim am Zoo“ heißt. In unserer Zeit dort gab es eine Phase, in der wir dort regelmäßig einkehrte, unsere Bierchen tranken und mit anderen Gästen quatschten. So lernten wir einmal zwei Exil-Bulgaren kennen, die unbedingt ein oder mehrere Firmen mit uns eröffnen wollten. Je später der Arbeit und je höher der Promillepegel, desto unschärfer wurden die Geschäftsmodelle; ganz saubere Ideen war eh nicht darunter. Weiter Richtung Brehmplatz gibt es immer noch das Ristorante La Brisella, in dem ich tatsächlich nur einmal in meinem Leben speiste – und weil es mir bei diesem einen mal nicht geschmeckt hat, hab ich’s dann gelassen. In den Siebzigerjahren und später lief dem Laden der Ruf voraus, dass dort die heimlichen Herrscher der DEG tagten. Tatsächlich verkehrten dort alle Spieler und Funktionäre, die nicht gern beim Kreutzer am Eisstadion miteinander in Mauschelgesprächen gesehen werden wollten. Da war das Palatini schon eher was für mich.
Das Paradies hieß Palatini
Tatsächlich habe ich die Rethelstraße nachweisbar zum ersten Mal betreten, um bei Palatini ein Eis zu essen. Ich muss fünf Jahre alt gewesen sein und mit meinem Vater unterwegs, der uns Kinder bisweilen zu seinen Baustellen mitnahm. Auf irgendeiner Rückfahrt bog er am Brehmplatz ab, parkte auf der rechten Straßenseite und betrat mit mir das Eiscafé Palatini. Ja, Palatini war ein Eiscafé, keine Eisdiele. Das Palatini an der Rethelstraße war so sehr italienisches Eiscafé wie es in Deutschland überhaupt ein Eiscafé sein konnte. Und das änderte sich bis weit in die Achtzigerjahre hinein nicht. Auch weil sich weder die Einrichtung, noch das Angebot großartig änderte. Noch heute, unter neuer Leitung, hat dieses Eiscafé einen Charme, den keine andere Gastronomie dieser Art auch nur haben kann. Die Eiskarte konnte ich über viele Jahre auswendig, und für das Cassata hätte ich töten können – zumal es das kaum woanders gab.
Benannt ist die Straße übrigens nicht eindeutig, denn es gab ZWEI Historienmaler von Bedeutung in Düsseldorf: Alfred und seinen jüngeren Bruder Otto – letzterer ein Mitglied der berühmten Düsseldorfer Malerschule des 19. Jahrhunderts, die den weltumspannenden Ruf der Düsseldorfer Kunstakademie bergündete, den diese heute noch genießt.
Es gibt noch viele andere Erinnerungen an die Rethelstraße, die sich über knapp sechzig Jahre angesammelt haben. An der Ecke zur Weseler Straße baute ich meinen ersten kleinen Motorradunfall. Am 11. September 2001 diskutierte ich im Jaques Weindepot zusammen mit meinem Freund, dem großen Uwe, die Geschehnisse in New York. Mitte der Achtzigerjahre kaufte ich beim Kratzler meine erste Funkarmbanduhr, weil die woanders noch nicht zu haben war. Ganz am anderen Ende, gleich an der Grafenberger Allee holte mir ein Knochendoktor anno 1999 eine Metallplatte aus dem rechten Bein, die ich beinahe vergessen hätte. In der Schulschwimmhalle der Realschule ein paar Häuser weiter lernte ich dank meiner großartigen Lehrerin, Frau Lehmann, mit neun endlich das Schwimmen. In der Sennhütte, die an der Zoobrücke klebt, kam es Mitte der Neunzigerjahre zusammen mit einem ebenfalls vom Liebeskummer geplagten Kumpel zu einem derart schlimmen Besäufnis, dass ich diese ungewöhnliche Kneipe nie wieder betreten konnte, ohne Brechreiz zu bekommen.
Und jetzt erheben sich jenseits der Gleise plötzlich gewalttätige Wohntürme, die Schatten werfen auf die Rethelstraße, in denen neue Besserverdiener wohnen werden, die einen neuen Gentrifizierungsschub auf die Einkaufsmeile bringen werden. Vermutlich wird aus dem „Frankenheim am Zoo“ dann irgendwann auch so eine hippe Cocktailbar im Manhattan-Stil.
Ein Kommentar
Sehr nett beschrieben.
Die meisten Geschäfte sind immer noch da.