Aus dem Büro und aus der Bar drang Stimmengewirr. Immer lauter. Die ersten Flaschen und Gläser klirrten. Dann trat jemand die Doppelflügeltür auf, und sieben, acht wilde Kerle stürmten die Tanzfläche. Udo hatte gerade das Pult mit dem Plattenspieler übernommen, weil ich eine Pause zum Knutschen mit Susanne nutzen wollte. Die Mädchen kreischten, einer von meinen Kumpeln brüllte die Eindringlinge an. Aber die reagierten darauf nicht, sondern begannen ihre Arbeit. Systematisch zerschlugen sie die Spiegelwand, kickten die Stühle umher und zuletzt zerlegte ein großer Dunkelhäutiger die Musikanlage, hinter der Udo sich verschanzt hatte. Später, ein paar Tage nach der Mondlandung, erwischten sie mich nachts auf der Blücherstraße. Die Narbe am Hinterkopf kann ich noch heute ertasten.
In den sechziger Jahren beherrschten drei Tanzschulen die Stadt. Während die Ehrgeizigen zu Dresen gingen und die Sache sportlich betrachteten, besuchte der Nachwuchs besserer Kreise die Tanzschule von Kaiser an der Jacobistraße. Auch diejenigen, die den Aufstieg in diese besseren Kreise anstrebten, entschieden sich für vK, wie der Schuppen kurz genannt wurde. Und wir jungen Wilden, die wir eher den Stones als den Beatles anhingen, die Altstadtgänger und Aktiven des Düsseldorfer Schulhandballs, wir waren natürlich bei Kaechele. Tatsächlich waren die Tanzschulen in den Jahren von etwa 1965 bis 1972 durchweg Ersatz für Jugendzentren. Für uns Normaljugendliche aus Pempelfort gab es neben Kaechele nur einen weiteren Treffpunkt, an dem wir ungestört rumhängen, dummes Zeug reden und rauchen konnten: die Pommesbude vom Chinesen An auf der Liebigstraße, den wir natürlich Mao nannten. Treffen wir uns nachher beim Mao? hieß es. Im Winter bot das Eisstadion mit seinen Laufzeiten, in denen aktuelle Musik gespielt wurde, eine Alternative. Da konnte man ein Mädchen fragen: Läufst du mit mir? Sie dann später auf eine Schale Pommes einladen und auf den Bänken ganz hinten an der zweiten Eisfläche bisschen knutschen.
Statt Jugendzentrum
Aber das Zentrum unseres sozialen Lebens dieser Jahre war die Tanzschule Kaechele an der Sternstraße, auf halbem Weg zwischen unserem Viertel und der Altstadt. Gerd Kaechele, der Inhaber, hatte volles Verständnis für unsere Bedürfnisse, und auch wenn das, was wir hörten, überhaupt nicht seine Musik war, überließ er uns zweimal die Wochen den Plattenspieler. Und damit auch ängstliche Eltern beruhigt blieben, hießen die Veranstaltungen ganz konservativ Tanztee und Tanzparty. Außerdem konnten auch nur Leute mitfeiern, die zumindest den Grundkurs in dieser Tanzschule absolviert hatten. Das führte dazu, dass wirklich viel getanzt wurde bei diesen wöchentlichen Feten. Ja, niemand hatte ein Problem damit, bei passendem Rhythmus mit der Perle einen flotten Foxtrott aufs Parkett zu legen. Zudem fand Kaechele selbst immer die neustens Trends seiner Kunst und brachte uns beispielsweise La Bamba bei. Dieser Rundtanz hatte auch den Vorteil, dass man den Geschlechtspartner der Wahl mit einem Kuss in den Kreis holte. Und natürlich war auch Klammerblues erlaubt.
Die Zugangsbeschränkung, eine Kundenbindungsmaßnahme würde man das heute nennen, brachte aber auch Ärger mit sich. Denn die Prolls, die blieben draußen. In jenen Jahren zerfiel die Welt der Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr in zwei Lager: Arbeiter und Oberschüler. Das hatte meist auch, aber nicht ausschließlich mit der Herkunft zu tun. Immerhin wurde das Land noch ganz im Geiste der Christdemokraten regiert, die an natürliche Grenzen zwischen den Klassen glaubten. Die Vertreter des Bürgertums hatten kein Interesse daran, dass Arbeiterkinder, womöglich auch noch Mädchen, aufs Gymnasium gingen, um das Abitur zu machen und zu studieren. Wer soll denn die Arbeit machen, hieß es, wenn alle bis in die Puppen rumstudieren? So war bis 1962, 1963 an Düsseldorfer Gymnasien noch ein nicht geringes Schulgeld zu entrichten – eine natürlich Schranke für die damals noch geringverdienenden und oft kinderreichen Familien. In meinem Jahrgang kamen die Burschen – ich war an einem reinen Jungen-Gymnasium – eher aus dem Mittelstand. Da waren viele Väter höhere Beamte oder selbstständig. Ja, in der Unterstufe hatten wir zwei Sprösslinge richtig reicher Eltern in der Klasse, die sich was darauf einbildeten, ihre Söhne auf eine ganz normale Schule zu schicken und nicht in ein privates Institut oder ein Internat.
Zeitalter der Rockerbanden
Arbeiterkinder machten keine Tanzkurse. Wenn die harten Jungs tanzten, dann Rock’n’Roll mit der Ische. Aber doch keinen Walzer, Cha-Cha oder Slowfox! Anzug und Krawatte waren für gut, wurden aber ungern getragen. Recht eigentlich gab es in dieser Zeit auch in Deutschland ein Mods-vs-Rocker-Problem. Was man Ende der Fünfziger noch Halbstarke genannt hatte, waren jetzt die Rocker. Eine der ersten Motorrad-Rocker-Banden der Gegen waren die Lacarda aus Neuss, die regelmäßig übern Rhein kamen, um eine Kirmes zu terrorisieren. Dann entstanden in Bilk die Prediger und später im Norden der Motoclan. Aber auch die Jugendbanden in den Vierteln, die sich keine schweren Maschinen leisten konnten, liefen unter diesem Etikett. Fast jeder Spielplatz in der Stadt hatte seine eigene Rockerbande. Bei uns war es der FC Rochus, wobei das F nicht für Fußball stand und auch nicht für Fight, den anglisiert waren wir damals noch nicht. Diese Truppe beherrschte den Spielplatz am Rochusmarkt, und wir machten bei Dunkelheit immer einen großen Bogen um den Ort. Gerüchte schwirrten umher, die Rocker würden erst zuschlagen und die Opfer dann mit Messerschnitten in Unterarm oder Stirn zeichnen. Zeitweise hieß es, die würden serienweise Mädchen vergewaltigen.
Später erfuhr ich, dass die FCR-Männer insgesamt lieber tranken und rauchten und ihre Anhängerinnen vernaschten als sich zu prügeln. Aber natürlich ging diese Bande keinem Streit aus dem Weg – genau wie die berüchtigten Kerle vom Hellweg oder die Truppen vom Fürstenplatz, von der Schmiedestraße und aus Heerdt. Der FC Rochus bestand damals aus etwa einem Dutzend Mitglieder, allesamt Lehrlinge oder Jungarbeiter zwischen sechzehn und Mitte Zwanzig. Darunter einer, der Arthur genannt wurde, ein baumlanger, starker Typ mit afrikanischen Wurzeln, der als Binnenschiffer arbeitete. Der war deswegen immer nur alle paar Wochen oder Monate in der Stadt und hatte dann viel Zeit. Wenn Arthur da war, dann war er der Boss. Ich kann mich nicht erinner, ob es damals einen offenen oder latenten Rassismus gegeben hat. Vermutlich nicht, denn die Menschen, denen man die Herkunft aus einer exotischen Weltgegend ansehen konnte, waren rar gesät. Immerhin hatten die älteren Leute gerade erst verdaut, dass Italiener, Spanier und Portugiesen nicht mehr bloß als Gastarbeiter kommen, um rasch wieder zu verschwinden, sondern sich bei uns niederließen, deutsche Frauen heirateten und sich teilweise sogar selbstständig machten.
Es muss Arthur gewesen sein, dem es besonders stank, keinen Zutritt zu den Partys der Tanzschule Kaechele zu haben. Vielleicht hielt er das für eine Art Apartheid-Politik, zumal weitere Kollegen mit migrantischen Hintergründen zur Bande zählten. Noch später erfuhr ich, dass alle FCR-Jungs tierisch neidisch darauf waren, dass bei uns Oberschülern die schärfsten Bräute zu finden waren. Denn hübsche Mädchen gab es in den Eckkneipen und der Altstadt damals nicht – da durften weibliche Jugendliche einfach nicht hin. Zumal die Düsseldorfer Altstadt damals noch ein schmuddeliger und gefährlicher Ort war, an dem Binnenschiffer, Wandergesellen, Motorradrocker und allerlei Klein- und Großkriminelle in den Wirtschaften hockten. Auch das Rotlichtmillieu war zu jener Zeit dort noch aktiv vertreten. Jedenfalls wurde aus dem Neid der Rocker Wut, die irgendwann explodierte.
Gigolos für den Abschlussball
Das Tanzschulen-Massaker wird im März oder April 1969 stattgefunden haben. Ich weiß noch, dass es nicht mehr Winter, aber auch noch nicht Sommer war. Meinen ersten Kurs hatte ich im Frühjahr des Vorjahres absolviert, kurz nach meiner Rückkehr aus England. Und weil es mir Spaß gemacht hatte, besuchte ich anschließend den Kurs der nächsten Stufe. Und natürlich auch, um so das Feierangebot der Tanzschule Kaechele nutzen zu können. Ein großer Teil des Kreises aus Schulfreunden, alten Kumpeln und Jungs und Mädchen aus der Nachbarschaft war dabei. Wir mochten den Chef, und er mochte uns. Meinen Schulfreund Udo, ein paar Klassenkameraden und mich konnte er besonders gut leiden und machte uns im Herbst 1968 ein Angebot, das wir nicht ablehnen konnten. Gerd Kaechele hielt regelmäßig Tanzkurse in einem Internet für höhere Töchter unter Nonnenherrschaft in Geilenkirchen ab. Dort brachten die Reichen und Einflussreichen aus dem Bundesland ihrer Damen unter.
Für einen Abschlussball fehlten aber die Herren. So wurden wir als Gigolos engagiert. Der Deal war, dass wir für Getränke für unsere Damen und uns selbst nicht zahlen mussten, und dafür aber jeweils um die zugeteilte Dame kümmern mussten. Udo und ich hatten Glück, denn Jutta und Gisela waren hübsch, klug und feiertüchtig. Während meine Tischdame Gisela aus dem Haus eines damals sehr prominenten Richters stammte, wurde Udos Mädchen nicht ohne Grund Bier-Jutta genannt, stellte sie sich uns doch als Erbin eines berühmten Brauereiimperiums heraus. Kaechele hatte den Saal so mit Tischen und Stühlen bestückt, dass ein möglichst großer Abstand zwischen Eltern und Kindern bestand. Natürlich mussten wir auch die Mutter der jeweiligen Tischdame auffordern. Da hatte ich Glück, denn Gisela war in Begleitung zweier Onkel da, die sich eher an den ausgeschenkten Wein von Rhein und Ahr hielten.
Ich weiß nicht, ob das, was Gisela und mir zustieß, als Verliebtsein bezeichnen kann, aber wir kamen uns über den Abend doch sehr nah. Und hielten Kontakt. Zum Abschied schenkte sie mir ihre Halskette, an der eine gefasste Münze baumelte. Und ich gab ihr als Gegengeschenk den Kaugummiring, den ich damals am kleinen Finger trug. Als um Mitternacht zum Aufbruch gedrängt wurde, führte ich sie in die hinterste Ecke der Garderobe im Keller hinter einen Vorhang, und wir küssten uns lang und intensiv. Über fast ein Jahr schrieben wir uns wöchentlich Briefe, sahen uns aber nur einmal wieder, denn für die Schülerinnen des Instituts war es völlig unmöglich, ohne Nonnenbewachung oder Begleitung der Eltern irgend wohin zu kommen. Im Sommer der Mondlandung war Gisela aber mit einem der Onkel unterwegs, der damals schon beim Schlussball teilgenommen hatte. Es war ein Samstagmorgen. Das Telefon schellte. Da ist eine Gisela für dich, sagte meine Mutter. Du, ich bin hier am Museum. Hab eine Stunde Zeit. Treffen wir uns? Keine Ahnung wie es mir gelang, in weniger als zwanzig Minuten am Schloss Jägerhof zu sein, wo damals die Kunstsammlung untergebracht war. Wir umarmten uns. Komm, sagte ich, lass uns woanders hin gehen. Ja, sagte Gisela, aber um zwei muss ich wieder hier sein, da holt mich der Onkel ab. Wir spazierten eng umschlungen die Reitallee entlang, durch die Unterführung in den andern Teil des Hofgartens, durch den Ehrenhof bis in den kleinen Garten neben der Rheinterasse, den wir Mäusepark nannten. Auch heute noch ist dies ein Ort, an den sich kaum je jemand verirrt. Hier können Verliebte immer noch in Ruhe auf der Bank sitzen und lieb zueinander sein.
[Hinweis: Dies ist eine Geschichte, keine Dokumentation. Sie basiert auf Situationen, die tatsächlich stattgefunden haben, beschreibt aber auch Szenen, die es nie gegeben hat. Die Namen sind teilweise verändert, die Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen aber unvermeidlich.]