Wer sich wann den Begriff „Kahnakten“ ausgedacht hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls ist damit eine ungewöhnliche Fracht gemeint, die in der zweiten Jahreshälfte 1944 von Düsseldorf aus über den Rhein, den Wesel-Datteln- und den Mittellandkanal Richtung Helmstedt verschifft wurde … beziehungsweise verschifft werden sollte. Denn nur eines von zwei Binnenschiffen kam tatsächlich an. Nachdem klar war, dass die US-Truppen auf ihrem schnellen Vormarsch Richtung Osten bald den Rhein erreichen und auch überschreiten wurden, beschloss die Leitung des Staatsarchivs Düsseldorf seine Bestände im Landesinneren in Sicherheit zu bringen. Da die gewaltigen Mengen an Urkunden und Schriftstücken mangels Infrastruktur weder auf der Schiene, geschweige denn auf der Straße Richtung Niedersachen zu bringen waren, verfiel man auf den Plan sie per Binnenschiff wegzuschaffen.
Am 4. November verließ die Rhenus 39 mit rund 15 Tonnen Faszikeln, zum größten Teil nur notdürftig verpackt, die russische Zwangsarbeiter hatten an Bord schaffen müssen, den Düsseldorfer Hafen Richtung Norden. Die Fahrt des Frachtkahns wurde zu einer fast viermonatigen Odyssee, denn viele Kanalabschnitte waren nach Luftangriffen leergelaufen und Schleusen nicht mehr funktionsfähig. Zudem gab es schon auf dem Rhein und auch auf den weiteren Streckenabschnitten Eisgang. Erst am 15. Februar erreiche die Rhenus 39 Haldensleben in der Nähe von Braunschweig. Von dort aus sollten die Akten per Güterzug nach Grasleben bei Helmstedt gebracht und im dortigen Salzbergwerk gelagert werden.
Im Staatsarchiv wurden zu jener Zeit praktisch alle relevanten auf Papier verfügbaren Urkunden und Akten von Behörden, kirchlichen Einrichtungen und Stiftungen aus dem Rheinland und aus Westfalen, deren Entstehung bis weit zurück ins frühe Mittelalter reichte, aufbewahrt. Schon im frühen Herbst hatten die Archivleiter besonders wertvolle Teile des Bestands in die Feste Ehrenbreitstein schaffen lassen, weil sie davon ausgingen, dass die Alliierten solch historische Bauwerke nicht bombardieren würden – ein Irrtum wie sich herausstellte. Der Transport in weiter entferne Luftschutzschächte und aufgelassene Bergwerke schien die sicherere Lösung.
Obwohl nicht sicher war, dass die Rhenus 39 ihr Ziel erreicht hatte, versuchte man weitere Transporte zu starten – nun mit der Gewissheit, dass der Mittellandkanal fast auf voller Länge nicht befahrbar sein würde und die Schiffe einen gewaltigen Umweg über den Dortmund-Ems- und den Küstenkanal, Bremen und die Weser nehmen müssten. Am 15. Dezember 1944 begann man in Düsseldorf die Main 68 zu beladen. Dieses Mal waren es rund 20.000 Archivguteinheiten in 2.540 Aktenpaketen und 60 mit Archivgut gefüllten Säcken mit einem Gesamtgewicht von gut 25 Tonnen. Am 27. Dezember legte das Binnenschiff in Düsseldorf ab und erreichte Mitte März den Hafen in Hannover-Linden. Ausgerechnet am 15. März 1945 nahmen britische Bomber diesen Binnenhafen unter Beschuss und zerstörten ihn fast vollständig. Auch die Main 68 wurde getroffen und sank – mit ihr eine unvorstellbar große Menge an unwiderbringlichen Urkunden, mit der die Entwicklung des Rheinlandes und Westfalens bis zurück ins 10. Jahrhundert nachgezeichnet werden konnte.
Ein halbes Jahr später, also kurz nach Kriegsende konnte die versunkene Fracht geborgen werden. Man brachte sie zurück nach Düsseldorf, wo sie so gelagert wurden, dass die Schäden sich nicht ausweiteten. Erst 1976 war die Technik der Schadensanierung so weit fortgeschritten, dass man sich an die Restaurierung der Urkunden und Akten machen konnte. Noch heute wird an diesem Projekt gearbeitet, die völlige Fertigstellung ist nicht in Sicht. Beim Restaurieren stieß man übrigens auf sogenannten „Beuteakten“, also Schriftstücke, die aus Klöstern, Kirchen und Burgen gestohlen worden waren. Größere Mengen restaurierter Beuteakten konnten inzwischen den rechtmäßigen Besitzern, vor allem der katholischen Kirche und verschiedenen Mönchs- und Nonnenorden in den Niederlanden und Belgien zurückgegeben werden.
Einen Schwerpunkt der Restaurierungsarbeiten im Landesarchiv NRW bildet die Restaurierung der sogenannten Kahnakten. Diese wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Staatsarchiv Düsseldorf ausgelagert. Das dazu eingesetzte Schiff sank jedoch im März 1945 infolge eines Bombenangriffs im Hafen Hannover-Linden. Die Akten wurden erst ein halbes Jahr später als „übel riechende, zusammen gebackene, verschlammte Masse“ geborgen und sind bis heute Gegenstand des umfangreichsten und zeitaufwändigsten Projekts zur Rettung kriegsbeschädigten Archivgutes in der Bundesrepublik Deutschland. [Quelle: Landesarchiv NRW]
Hier eine Broschüre der NRW-Archive zum Thema als PDF zum Download.