Ehrlich gesagt: So ganz genau weiß ich nicht mehr, wie ich überhaupt in diese ganze Sache hineingeraten bin. Nach einer kurzen, wilden und am Ende frustrierenden Phase als SPD-Mitglied zu Zeiten der Willy-wählen-Kampagne hatten mich die Betongenossen erfolgreich rausgemobbt, sodass mir Parteipolitik verleidet war. Im Frühjahr 1979 hatte ich meinen Zivildienst beim AG Bildungsforum angetreten, nachdem ich mich über acht Jahre durch alle Instanzen in die Kriegsdienstverweigerung geklagt hatte. Wir waren drei Zivis, hatten viel Leerlauf und diskutierten viel. Eben auch über Politik. Und so kam es, dass mein Kollege Einar und ich beschlossen, doch mal bei der Gründungsversammlung der grünen Partei in Düsseldorf vorbeizuschauen. Als er, meine Lebensgefährtin und ich am 29. November 1979 die Aula der Werner-von-Siemens-Realschule verließen, war ich erster gewählter Schriftführer des grünen Kreisverbandes. Das hatte ich so nicht gewollt.
Zumal mir nicht im Entferntesten klar war, was das bedeutete, was ich nun zu tun hätte. Vermutlich lief es aber wie bei jeder Kaninchenzüchtervereinsgründung: Es werden sieben Bekloppte gesucht, die den Vorstand stellen, damit man den Verein eintragen kann. Zum Vorsitzenden oder stellvertretenden Vorsitzenden (daran erinnere ich mich nicht mehr genau) wurde der damalige Handelsblattjournalist Karl-Heinz Bonny gewählt. Der kam gern noch mit in die Altstadt. Bis zur Polizeistunde saßen wir zu sechst oder siebt im Musentempel an der Akademiestraße, um uns auszutauschen. Mit dem, was das Gedankengut der Grünen in der Gründungsphase ausmachte, war ich schon als Kind in Berührung gekommen; also mit diesen ganzen recht unterschiedlichen Positionen, die sich im Slogan der frühen Jahre so ausdrückte: ökologisch, gewaltfrei, basisdemokratisch, sozial – die sogenannten „vier Säulen“.Drei Menschen spielen bei meiner politischen Sozialisation die Hauptrollen. Mein Vater war parteipolitisch nicht festgelegt, war aber Pazifist und wählte SPD. Auf dem Leibniz-Gymnasium hatte ich das große Glück, dass Dr. Reinhold Feuerstein mein Biologielehrer war; der brachte uns die Tier- und Pflanzenwelt nahe, war Naturschützer und so in den Sechzigerjahren schon ein Grüner. Schließlich war es Joseph Beuys, der mich während meines Studiums an der Kunstakademie auf vielfältige Weise tief beeindruckt und beeinflusst hat. Als er – es wird 1972 oder 1973 gewesen sein – mit ein paar Studenten den Aaper Wald fegte, um so gegen die Erweiterung des Rochusclubgeländes zulasten von Bäumen zu protestieren, war ich dabei. Und im Büro seiner Aktion für direkte Demokratie durch Volksabstimmung an der Andreasstraße war ich Stammgast.
Der Raum 3 in der Kunstakademie, also Beuys‘ Atelier, wurde ja ab 1980 zu einem wichtigen Treffpunkt für die Grünen NRW. Hier fanden endlose Debatten um Inhalte, aber auch Diskussionen rund um die Organisation der Partei statt. Immer dabei: Die FIU-Bande aus Gelsenkirchen mit den Stüttgen-Brüdern an der Spitze. Aber so weit waren wir im November 1979 noch nicht. Weil sich die Gründungsmitglieder untereinander kaum kannten, also auch keine geschlossenen Gruppen aus anderen politischen Zusammenhängen dominierten, ging es in den ersten Wochen schlicht ums Kennenlernen, Austauschen und den Aufbau einer minimalen Organisation. Zu diesem Zweck richteten wir die „Informations- und Koordinationsgruppe“ ein, die über den Winter in unserer Wohnung in der Rethelstraße 141 tagte; mindestens wöchentlich. Irgendwann im Frühjahr, also nach der Gründung der Grünen NRW und der Partei auf Bundesebene, mieteten wir Räume im Haus Oberbilker Allee 17 als „Geschäftsstelle“. Es handelte sich um ein ehemalige Ladenlokal, das zu einer Wohnung umgebaut worden war. Im ehemaligen Verkaufsraum gab es einen großen Tisch, hier fanden nun die Diskussionen statt.Wortführer wurden hier rasch der Rechtsanwalt Jürgen Binder und Dieter Reichardt. Während Binder aus dem anthroposophischen Dunstkreist stammte, gehörte Reichardt nach eigenem Bekunden zur Frankfurter Spontiszene und gab sich linksradikal. Von den Angeklagten im RAF-Prozess sprach er nur als den „Gefangenen der Begegnung“. Außerdem war er einer der wenigen im Kreisverband, der sich überhaupt für Außenpolitik interessierte. Eng mit Jürgen Binder befreundet war Martin Schata, der zu jener Zeit auch in Düsseldorf aktiv war. Zu den Gründern zählten auch Brigitte Krenkers, Stephan Stüttgen und Herbert Schliffka. Ansonsten hatten sich bei den Düsseldorfer Grünen jede Menge Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, verschiedenen Alters und vor allem politisch extrem weit auseinanderliegend versammelt. Die Bandbreite reichte von Veteranen der Ostermarschbewegung über Altkommunisten bis hin zu Feministinnen und Naturschützern. Und da gab es das, was man vielleicht „Originale“ nennen könnte, also Menschen, die jenseits der bürgerlichen Norm lebten.
Zu denen zählte sich der Eisenbahn- und Verkehrsexperte Karl-Heinz Baumann mit seinem „Verkehrsclub Düsseldorf“ und eigenem Büro auf der Eintrachtstraße. Aber auch Reinhold Maigatte, der eine lange politische Biografie hatte und als Verkäufer in einem Gemüseladen an der Hoffeldstraße arbeitete. Dann gab es noch Bernd Bruns, der Mann mit dem Unimog, der bei vielen Demos als mobiles Büro diente. Bald stieß Hendrik Hendriks zu uns, der Wirt eines uns allen bekannten Cafés namens „Grüner Mond“ auf der Grafenberger Allee. Und noch ein wenig später Gerd Hübinger, von dem ich nie genau wusste, ob und was er beruflich tat; der besaß eine Reihe von Häusern in der Stadt, und zwischenzeitlich tagten wir dort in leerstehenden Wohnung am Fürstenwall und am Frankenplatz. Meine Lebensgefährtin und ich zählten zu den jüngsten Aktivisten – Binder und Reichardt waren zehn Jahre älter wie die meisten der altiven Mitglieder.Und plötzlich war Wahlkampf. An einem eiskalten Tag in Hersel am Rhein hatten sich die NRW-Grünen unter heftigsten Geburtsschmerzen gegründet. Alte K-Gruppen-Kader hatten auf vielfältige Weise versucht, die Macht zu übernehmen, aber die Garde der alten (im Wortsinn!) Ökologen hatten sich erfolgreich gewehrt; wir Düsseldorfer Delegierten immer irgendwie dazwischen. Nun sollten die Grünen also zur Landtagswahl im Mai 1980 antreten. Und ehe wir es richtig begriffen, waren meine Liebste und ich plötzlich Landtagskandidaten, also: Direktkandidaten ohne Absicherung auf der Landesliste. Niemand bei den Düsseldorfer Grünen hatte fundierte Erfahrungen in Sachen Wahlkampf, aber die NRW-Grünen hatten sich besonders durch die Aktivitäten der Ortsverbände im Ruhrgebiet (allen voran Bochum und Gelsenkirchen) rasch organisiert, sodass zumindest die Produktion und der Nachschub an Material – Plakate, Flyer, Aufkleber, Postkarten – gesichert war.
Das erste Büro des grünen Landesverbandes befand sich an der Ecke Cornelius-/Herzogstraße in einem ehemaligen Ladenlokal und verfügte über eine große Fläche hinter Schaufenstern im Erdgeschoss und mehrere Räume im Keller. Die Kandidatur hatte für mich einen angenehmen Nebeneffekt, den ich bekam Wahlkampfurlaub vom Zivildienst, was konkret bedeutete, dass meine Dienstzeit nach nur acht Monaten vorzeitig beendet war. So konnte ich mich den Grünen widmen und tat Dienst in der NRW-Geschäftsstelle. Wobei: So richtig wusste ich auch nicht, was zu tun war; ich betreute das Telefon und sprach mit den vielen Leuten, die einfach so im Laden vorbeischauten. Ansonsten waren wir viel unterwegs, hängten Plakate auf und standen an Infotischen den Wählerinnen und Wählern Rede und Antwort. Außerdem hatten meine Freundin und ich gemeinsam mit Bernd Kowol eine kleine Theatertruppe begründet, die samstags auf dem Schadowplatz lustige Shows gaben, die immer recht viele Zuschauer zogen.Am Wahltag hatten wir uns im Grünen Mond verabredet; Dieter Reichardt kam mit Zylinder auf dem Kopf. Die Prognosen damals waren noch nicht so genau wie heute, und nach den Umfragen war alles zwischen knapp 2 und deutlich über 5 Prozent möglich. Als dann vermeldet wurde, dass uns über 290.000 Menschen in NRW gewählt hatten und wir so auf ganz knapp uter 3 Prozent gekommen waren, überwog der Stolz auf das Ergebnis den Frust über den verpassten Einzug in den Landtag. Stolz konnten wir wirklich sein, denn wir waren wortwörtlich aus dem Nichts in den Wahlkampf gestartet. Wobei uns Printmedien und auch Fernsehen viel halfen, weil wir immer für ungewöhnliche Geschichten und Bilder gut waren. So kamen Hendrik, meine Liebste und ich in den Stern, der eine große Story über die Grünen brachte – wir posierten auf einer Autobahnbrücke, die mitten in der Pampa bei Köln stand, aber mangels Autobahn nicht gebraucht wurde.
Kaum war die Landtagswahl vorbei, stürzten wir uns in die Kampagne zur Bundestagswahl 1980 – mit Joseph Beuys als NRW-Spitzenkandidaten. Die fand am 5. Oktober statt, und so waren wir alle den Sommer über wieder unterwegs, hängten Plakate auf, verteilten Flugblätter und standen den Wählerinnen und Wählern an Infotischen Rede und Antwort. Kein Wunder, dass die inhaltliche Arbeit im ganzen Jahr 1980 zu kurz kam. Was auch dazu führte, dass sich etliche Düsseldorfer Grüne der ersten Stunden zurückzogen und sich wieder stärker in den Initiativen engagierten, aus denen sie stammten. Aber in den nur zehn Monaten seiner Existenz hatte es der grüne Kreisverband geschafft, ein Netzwerk aller Menschen, Gruppen und Organisationen zu knüpfen, die sich in der Stadt zu den Themen der vier Säulen bekannten. Im Gegensatz zu vielen anderen Orten spielten „Dissidenten“ aus anderen Parteien oder Mitglieder bzw. ehemalige Mitglieder von K-Gruppen hier keine Rolle. Dafür waren wir Düsseldorfer Grünen aber kommunalpolitisch völlig isoliert und weder mit den im Rat vertretenen Parteien, noch den diversen Lobbys und Klüngel vernetzt.
Tatsächlich waren wir wirklich in jeder Hinsicht der politische Arm der alternativen Szene, die von den Hausbesetzern über die Food-Koop-Szene bis hin zu den Friedensgruppen der Kirchen reichte. Man lernte sich kennen und schätzen, und ganz selbstverständlich nahm man die beruflichen Angebote der Leute an. Ich denke an Reiner Jonas, den begabten Kiffer, der eine der ersten Food-Koops der Stadt gründete; Essensausgabe war – soweit ich mich erinnere – samstag im Café Souffleur in der „Werkstatt“ an der Börnestraße. Aber das war auch wieder einige Zeit später. Genau wie erste Ausgabe der Mitarbeiter- bzw. Mitgliederzeitung „Grüner Morgen“, ein Projekt, auf das ich noch heute stolz bin. Die Idee stammte von Karlheinz Bonny, Gerd Hübinger und von mir. Die erste Ausgabe erschien im Mai 1982. Am 30. Dezember 1980 wurde mein Sohn geboren. Ich hatte einen Nachtschichtjob und verdiente zusätzlich ein paar Mark als freier Reporter für die Rheinische Post und das Stadtmagazin Überblick. Der Herausgeber Klaus Hang sympathisierte mit den Grünen, und zu den Höhepunkten zählte ein langes Interview zum Bundestagswahlkampf 1980, das ich mit Joseph Beuys führte; das Manuskript mit seinen handschriftlichen Korrekturen besitze ich heute noch.
Ansonsten reihten sich Sitzungen, Parteitage, Veranstaltungen und Demos aneinander. Wir waren eigentlich von November 1979 bis ins Jahr 1984 ständig für die Grünen auf Achse. Viele Dinge gefielen mir schon nach wenigen Monaten nicht mehr, vor allem die Art und Weise wie die „Vorturner“ sich aufführten. Besonders der ständige Machtkampf zwischen Jürgen Binder und Dieter Reichardt, der sogar zu einer Schlägerei führte, stieß mich ab. Überhaupt ging es bald weniger um den Zusammenhalt der diversen alternativen Richtung, sondern um das Erobern von Deutungshoheit und organisatorischen Schaltstellen auf Orts- und Landesebene. Diese Auseinandersetzungen führten zu den erbärmlichen Vorgängen auf der Landesdelegiertenkonferenz im Januar 1983, auf der Joseph Beuys auf schlimme Weise aus der Partei gemobbt wurde. Da ich zudem ab Frühjahr 1983 Chefredakteuer der Computerzeitschrift Data Welt geworden war und nicht mehr so viel Zeit hatte, zog ich mich sukzessive aus der Parteiarbeit zurück. Allerdings saß ich bis 1986 als „sachkundiger Bürger“ für die Grünen im Buga-Ausschuß des Stadtrates.
Als die Mehrheit der Partei auf Stadtebene aber immer mehr mit der SPD kuschelten, fand ich meine persönlichen Positionen aber immer weniger vertreten. 1987 wurde ich – offiziell wegen ausstehender Beitragszahlungen – ausgeschlossen. Für mich waren die Grünen nun uninteressant geworden. Aber das ist wieder eine andere Geschichte…
[Anmerkung: Mangels Unterlagen außer einem Tagebuch kann ich die historische Richtigkeit dieser Schilderung nicht garantieren.]