Es ist gegen drei Uhr nachmittags am 7. März 1947. Am Ende der Rheinfährstraße in Uedesheim stauen sich Autos, darunter ein Sechsachser der britischen Streitkräfte und ein Tanklastzug. Der Rhein ist in den vergangenen Stunden um vier Meter gestiegen. Nach wochenlangem Eisgang hat die Schmelze begonnen. Zudem ist es immer noch sehr kalt und ausgesprochen windig. Die St.Antonius ist eine Gierseilfähre, die durch den Druck des strömenden Flusswassers an einem Führungsseil über den Rhein fährt. Mit zwei Gierseilen reguliert der Fährmann den Winkel, in dem das Gefährt zur Strömung steht und bestimmt damit Fahrrichtung und Geschwindigkeit. Dann sind alle Fahrzeuge auf der Fähre, aber beide Lkw stehen auf derselben Seite. Wellen und Eisschollen treffen die St.Antonius. Dann reißt das Führungsseil, und die Fähre bewegt sich in einem weiten Bogen mitten in den Strom. Durch das Gewicht der Laster kentert sie und treibt bald kieloben in den eiskalten Fluten. 14 Menschen kommen zu Tode, elf werden gerettet.
Es war einer der härtesten Winter des 20. Jahrhunderts. Und das kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs noch vor dem Beginn des Wiederaufbaus. Ab Dezember 1946 gab es in ganz Deutschland zehn Wochen Dauerfrost, die Temperaturen lagen über die Tage unter -20°. Viele Familien saßen im Kalten, denn es gab es nicht mehr genug Brennstoff. Schon im Januar waren Eisschollen auf dem Rhein zu sehen. Erst viele kleine, aber dann entstand unterhalb der Lorelei schwerer Eisgang, der immer größere Brocken vor sich herschob. Bald behinderte das Eis den Fluss des Wassers, und je langsamer der Strom floss, desto mehr Eis bildete sich auch oberhalb der Engstelle. Schiffbar war der Fluss schon seit drei Wochen nicht mehr. Aber ab der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1947 war es dann so weit: Die Schollen zwischen Porz und Ruhrort kamen zum Stillstand und froren hier und da zusammen. Der Rhein war ganz und gar zugefroren. Der Stillstand der Binnenschifffahrt verschärfte die Versorgungslage noch mehr. Nicht nur, weil Lasten – besonders Brennstoff und Lebensmittel – nicht mehr auf den Flüssen und Kanälen transportiert werden konnten, sondern weil an den großen Strömen auch die Fähren ausfielen. Besonders am Rhein zwischen Mainz und Emmerich waren zudem die meisten Brücken zerstört. Zwei Jahre zuvor, am 3. März 1945, nur sechs Wochen vor der Befreiung Düsseldorfs, hatte die Wehrmacht die Oberkasseler Brücke gesprengt. Britische Pioniere hatten unmittelbar neben der im Wasser liegenden Stahlkonstruktion eine Pontonbrücke gebaut, die ab Oktober 1945 die einzige Verbindung zwischen den Rheinufern zwischen Köln und Duisburg darstellte. Und genau diese enorm wichtige Brücke war durch den Eisgang im Winter 1946/47 so stark beschädigt worden, dass sie im Februar und März ausfiel. Wer auch immer also bei Düsseldorf und Neuss über den Rhein musste, war auf die Fähren angewiesen.Nun hatte die nahegelegene Motorfähre zwischen Zons und Urdenbach am 7. März ihren Betrieb noch nicht wieder aufgenommen, sodass die einzige Alternative zur Seilzugfähre bei Uedesheim (heute ein Ortsteil von Neuss) die Verbindung von Kaiserswerth nach Lank war; je nach dem Ziel für Lkw und Pkw eine Riesenumweg, für Radfahrer und Fußgänger viel zu weit entfernt. Auch die St.Antonius war nach dem Auftauen der Eisdecke erst wenige Tage wieder in Betrieb und bei fast jeder Fahrt zwischen sechs Uhr morgen und 20 Uhr abends voll besetzt. Bei der Unglücksfahrt hatte sie die besagten zwei Lkw, vier Pkw und zwölf Fußgänger an Bord. Insgesamt 25 Personen, den Fährmann und seinen Gehilfen eingerechnet, befördert die Fähre also zu diesem Zeitpunkt.
Warum genau das Führungsseil riss, ist nicht geklärt. Ein Augenzeuge an Land wusste zu berichten, dass es wohl zwischen mehrere große Eisbrocken geriet, die auf dem Rhein trieben, sich verhakte und dabei überlastet wurde. Dass eine Gierponte (so der Fachausdruck für diesen Typ Fähre) nach dem Reißen des Führungsseils nicht mehr kontrollierbar ist, war seit alters her bekannt. Apropos: Die Fährverbindung zwischen Uedesheim und Düsseldorf-Himmelgeist gab es nachweislich schon vor mehreren Hundert Jahren, vermutlich schon vor der Erfindung der Gierseilfähre im Jahr 1657. Vermutlich geht sie sogar zurück auf die Zeit der Römer, denn durch Uedesheim, das in seiner Geschichte durch Kriege mehrfach zerstört und wiederaufgebaut wurde, verlief die wichtige Römerstraße von Köln nach Neuss und weiter nach Xanten. Tatsächlich unterhielten die Römer mehrere Fährverbindungen ans rechte Rheinufer; die bei Uedesheim könnte eine davon sein.Viel diskutiert wurde, ob es der Chauffeur des britischen Armeelasters war, der sich weigerte, sein Gefährt umzusetzen, der letztlich für das Kentern verantwortlich war. Darüber, ob die Fähre auch dann in den starken Wellen gekentert wäre, wenn das Gewicht besser verteilt gewesen wäre, kann nur spekuliert werden. Zu Helden wurden jedenfalls Kapitän Hendrik Baggermann aus Rotterdam und die Besatzung seines Schleppers Nelli, der sich kurz nach dem Unglück der letzten Position der Fähre näherte. Trotz des großen Risikos für das eigene Schiff und sich sowie seine Leute, setzte Baggermann ein ums andere Mal das Rettungsboot aus. So konnten bei drei oder vier Versuchen immerhin elf Menschen vor dem Erfrieren und Ertrinken gerettet werden. Außerdem bargen die niederländischen Binnenschiffer zwei Leichen aus den eiskalten Fluten. Auf dem Schlepper versorgte man die Geretteten mit heißen Getränken und trockener Kleidung und brachte sie in den Neusser Hafen, wo sie von Sanitätern übernommen wurden.
Erst 1981, nach der Eröffnung der Fleherbrücke, wurde der regelmäßige Fährverkehr zwischen Uedesheim und Himmelgeist eingestellt. Nach dem Unglück wurde die Seilzugfähre durch eine Motorfähre ersetzt. Außerdem gab es an Sonn- und Feiertagen sowie in den Sommerferien eine Verbindung mit einer reinen Personenfähre, auf der zwei Dutzenden Fahrgäste Platz hatten. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren waren nämlich die Uedesheimer Rheinterrassen und die Strände dort ein beliebtes Ausflugsziel für Düsseldorfer. Die Fährverbindung bei Stromkilometer 729,3 besteht immer noch, es werden dort allerdings nur noch bei schönem Wetter Fußgänger und Radfahrer (und in Ausnahmefällen auch Roller oder Motorräder) übergesetzt.
[Zuerst erschienen am 10.03.2017 in unserem Schwestermagazin „The Düsseldorfer„]