Mein künstlerisches Metier seit Kindertagen war das Schreiben. Tatsächlich habe ich Geschichten verfasst seitdem ich überhaupt flüssig schreiben konnte. Meine „Einakter“, die ich der Familie vorlas, waren mehr berüchtigt als berühmt. Das ging weiter über Kladden voller Stories, Tagebücher und Skizzen für Romane. Dass ich überhaupt auf die bildende Kunst stieß, hatte ich – wie gesagt – dem Kunstlehrer Troendle und meinem Freund Jörg zu verdanken. Und der Tatsache, dass ich ein Mansardenzimmer für mich allein hatte, in dem ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Das Haus, in dem wir ab 1962 wohnten, hatte mein Vater im Auftrag der Brauerei, bei der als Architekt tätig war, geplant und realisiert. Dabei entstand im 5. Stock eine maßgeschneiderte Wohnung für uns. Mit großer Terrasse Richtung Güterbahnhof und ebenfalls recht großem Balkon zum Hof hinaus. Und exakt oberhalb der Wohnung hatte er unterm Dach eine illegale Mansarde einbauen lassen. Dort hauste ich mit meinem Bruder, während die kleine Schwester unten im Kinderzimmer wohnte. Um zur Mansarde zu kommen, musste man aus dem Treppenhaus in einen langen, rechtwinklig abknickenden Gang, der an Dachbodenverschlägen vorbeiführte, und vor dem Zimmer hatten wir eine größere Fläche des kargen Betonbodens. Die wurde mein Atelier.

Jedenfalls für die eher experimentellen Sachen. Mein Bruder hatte sich 1968 zum Studieren nach Berlin verpisst, sodass ich die Dachbude für mich hatte. Zu meinen Freizeitbeschäftigungen gehörte neben dem Schreiben das Experiment. Einmal zog ich über hundert Meter Bindfaden kreuz und quer durchs Zimmer, befestigt an Wänden und Möbeln mit Reiszwecken. Dann halbierte ich den Raum mit einer Wand aus zurechtgeschnittenem Pappkarton. Gern arbeitete ich mit Feuer – dann aber vor der Tür. Dort malte ich auch auf großen Bögen mit Plaka-Farben wilde Bilder, von denen leider nur eins erhalten ist. Ich erfand nach, was Pollock in den 50ern erfunden hatte und kleckerte Farbe fingerdick aufs Papier. Entdeckte den Otto Piene in mir, indem ich auf solche Blätter Uhu träufelte und anzündete – auch davon ist ein Blatt noch erhalten. Collage entstanden aus Reklameseite in Zeitschriften, oft in zehn, zwölf Schichten geklebt, dann bemalt. Manchmal trug ich stellenweise Gummi arabicum oder Uhu auf und streute Material wie Sand, Tabak oder Holzspäne auf die Flächen. Und dann erfand ich tatsächlich ein eigenes Collage-Verfahren. Basis bildeten zwei ganzseitige Anzeigen aus ein und derselben Zeitschrift, die also gleich groß waren. Die eine Seite versah ich mit senkrechten Schnitten im gleichen Abstand, aber so, dass die Seite oben und unten einen intakten Rand hatte. Die andere Seite wurde entsprechend horizontal geschnitten. Und dann verwob ich beide Seiten miteinander und klebte das Ergebnis auf einen Karton – manchmal wurde das Ergebnis dann auch noch mit Übermalungen versehen. Nur gegenständlich malte und zeichnete ich nie. Ich konnte das ja auch nicht.

Dalì, Dalì
Unser Held war Salvador Dalì – dessen Bilder damals noch nicht als Deko in deutschen Wohnzimmern hingen und der außerhalb kunstinteressierter Kreise beinahe unbekannt war. Wir hielten ihn für DEN Surrealisten und lernten erst später, dass Dalì sicher keiner von denen war. Immerhin konnte der malen wie ein Gott und hatte Bilder erfunden, die wunderbar und beängstigend zugleich waren. Seine Arbeiten basierten auf der Psychoanalyse und seinen spezifischen Psychosen und Neurosen. Dass jemand so etwas erfolgreich ausleben konnte, imponierte uns. Seine Malkunst, also den handwerklichen Part, interessierte mich eher wenig, das war bei Jörg anders, der bis heute in seiner eigenen Malerei von Dalì inspiriert ist.

Als Jörg dann in Hamburg an der Kunstakademie aufgenommen wurde, war ich sehr neidisch; ich wollte ja schließlich auch. Und so beschloss ich, mich zu bewerben und eine Mappe zum Wintersemester 1971 einzureichen. Und an dieser Stelle wurde ich zum ersten Mal feige was die Kunst angeht. Anstatt eine Auswahl der wilden, ungegenständlichen Arbeiten der vorangegangenen sechs, sieben Jahre zu präsentieren, quälte ich mir ein Dutzend großformatiger Bleistiftzeichnungen in einem Stil ab, den ich für surrealistisch hielt. Da kamen dann doch einige Tränen und spiegelnde Wassertropfen vor, unmögliche Räume und Traumbilder. Das hielt ich für konform. Und damit wurde ich tatsächlich angenommen und dem Orientierungsbereich von Professorin Beate Schiff zugewiesen. Die erfolgreichen Arbeiten gibnt es noch – aber ich habe sie mir seit wenigstens zwanzig Jahren nicht mehr angesehen.

Zwischen dem Abitur und dem Beginn des Wintersemesters drückte ich mich oft in der Akademie herum, um schonmal künstlerische Luft zu schnuppern. Außerdem jobbte ich. Während viele meiner Mitschüler nach dem Abi erstmal ausgedehnte Reisen unternahmen, war ich gezwungen, Geld zu verdienen. Denn ich war ja seit Juni 1967 Halbwaise, und hätten wir nicht quasi mietfrei gewohnt, wäre es uns finanziell ziemlich dreckig gegangen. So aber verdiente ich mit alles, was über den reinen Lebensunterhalt ging – den finanzierte meine Mutter aus meiner Waisenrent – dazu. Ein paar Wochen schob ich Nachtdienst im Parkhaus an der Stresemannstraße. Und lernte dort einen ziemlich verschrobenen Kunststudenten aus der Tagesschicht kennen. Normal konnte man mit dem nicht reden. Dann zog ich ein Wartenümmerchen beim Studentenschnelldienst im Arbeitsamt, das ja damals direkt gegenüber der Akademie untergebracht war. Kaum saß ich im Warterraum, trat einer Arbeitsbeamter ein und rief „Jemand von der Künstlerakademie da?“ Ich meldete mich und hatte einen Traumjob.

Die Aufgabe bestand darin, sämtliche Türschilder in ebendiesem Arbeitsamt neu anzufertigen. Und zwar auf weißer Pappe mithilfe von Schablonen und einem Rapidograph. Ich bekam ein Zimmerchen unterm Dach zugewiesen und hatte dort sogar ein Telefon, mit dem auch nach außen telefonieren konnte. Theoretisch war meine Arbeitszeit auf die Spanne von acht Uhr morgens bis fünf Uhr abends begrenzt, in der Praxis kontrollierte mich in dieser Hinsicht nie jemand. Mein Vorgesetzter, eine Art Hausmeister, hatte mir nur eingeschärft, dass der Job spätestens nach zweieinhalb Monaten erledigt sein sollte. Ich bekam ein richtiges Gehalt und als Bonus Wertmarken für die Kantine. Am ersten Tag machte ich eine Bestandsaufnahme und zählte die Schilder; rund 200 waren es meiner Erinnerung nach. Daraus errechnete ich, dass ich pro Arbeitstag vier Stück zu fertigen hatte. Und fand heraus, dass die Zeit fürs Einsammeln und Zurückbringen den größten Anteil haben würde, weil ich zwei Schilder pro Stunde locker schaffte. Ich machte mir also einen lauen Lenz im Arbeitsamt

Im Sekretariat mit Beuys
Dann wurde es ernst. Einen Dienstag hatte ich mir zum Immatrikulieren ausgesucht. Als ich im ersten Stock der Akademie vor dem Sekretariat erschien, war soeben Professor Joseph Beuys mitsamt sechzehn Neustundenten darin verschwunden, die er in seine Klasse aufgenommen hatte, obwohl sie von der Professorenkonferenz abgelehnt worden waren. Eingeladen hatte Beuys 140 abgelehnte Kandidaten, aber nur diese sechzen Damen und Herren waren erschienen. Und plötzlich war ich mittendrin in der Beuys’schen Sekretariatsbesetzung. Um ehrlich zu sein: Ich hatte nur sehr notdürftig mitbekommen, worum es Beuys da ging, und, nein, ich war keiner der Besetzer, sondern wollte mich bloß ordnungsgemäß einschreiben. Es gab ja auch keinen Tumult, und die nette Dame am Schalter meinte nur, ich solle doch lieber an einem anderen Tag kommen, wenn wieder Ruhe und Ordnung herrschten. Ich blieb aber ein bisschen und erlebte so die Räumung des Sekretariats durch eine Handvoll Polizisten, die Akademiedirektor Norbert Kricke auf Weisung des Kultusministeriums bestellt hatte. Das war alles sehr fröhlich und wirkte eher wie eine komödiantische Aktion.

Aber wieder dieser Beuys! Ein paar Wochen zuvor war ich eher zufällig in der Mittagspause ins Büro seiner Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung an der Andreasstraße geraten, wo im Schaufenster immer eine Vase mit einer tagesfrischen roten Rose stand. Drinnen stürzte sich ein älterer Herr, der so gar nicht zu Beuys zu passen schien, auf mich und redete in einem Jargon. von dem ich kein Wort verstand. Ich bekam ein Exemplar der berühmten Plasticktragetasche gefüllt mir allerlei Broschüren und Flugblättern. Die ich abends versehentlich in der Kneipe, ich glaub, es war die Auberge, stehen ließ.

Wie auch immer: Ich war nun Kunststudent. Per Brief hatte die Frau Professorin uns Erstsemester für einen bestimmten Tag zum Orientierungsgespräch eingeladen. Und so stand ich an einem nebligen Oktobertag im Raum 1 der Düsseldorfer Kunstakademie und hatte von nichts eine Ahnung. Unsere Klasse war in dem Eckraum neben dem Portal der Akademie untergebracht, gleich gegenüber der Pförtnerloge. Es war chaotisch. Unterm Fenster standen ein paar erheblich beschmierte Tische mit den berühtem, dreibeinigen Akademiehockern davor. An der fensterlosen Wand gab es Zeichnungsschränke und Regale voller Kram: Eimer, Dosen, Gläser, Kartons, Stapel, Kisten und Kästchen. Und das alles schien irgendwem zu gehören. Mitten im Raum erhob sich eine gut zwei Meter hohe Tonskluptur mit einem ziemlich zerfetzten Christus an einem Fels, eine Art Grabmal. Hinten rechts hockten ein paar stille Mädchen und zeichneten mit dünnen Stiften auf riesigen Bögen.

Beate mit dem schwarzen Haar
Dann erschien die Professorin. Eine kleine, schwarzgekleidete Frau mit eleganten Bewegungen und viel schwarzem Haar. Dazu passend ein deutlicher Damenbart. Sie blitzte uns aus irgendwie arabischen Augen an und erklärte uns in knappen, schmucklosen Sätzen, worum es ihr ginge. Also was sie mit uns im Orientierungsbereich vorhätte. ich verstand kein Wort. Auch an meine Kommilitonen aus dem O-Bereich erinnere ich mich nicht. Sondern nur an meine Panik angesichts der Aufgaben, die uns gestellt wurden. Es gab Rollen mit Makulatur, als dünner Papiertapete, die man früher unter der eigentlichen Schmucktapete an die Wand klebte. Und wirre Kästen voller Kreide und einer Art Wachsmalstifte. Wir sollten etwas aus der Stadt malen. Ich entschied mich für die Silhouette einer Häuserzeile vor einem dramatischen Himmel. Und weil ich so grobmotorisch begabt war, trug ich die Wachsfarbe in dicken Schichten auf, sodass alles zu einer graubunten Sosse wurde. Das Scheitern war mir bewusst, und letztlich verbrachte ich das Orientierungssemester damit, mich zu drücken, wo es nur ging.

Aktzeichnen fand ich spannend, denn bei einem Modell, das so lange still hielt, gelang es sogar mir, die richtigen Linien zu finden und aufs Papier zu bringen. Von allem was mit Farbe zu tun hatte, ließ ich die Finger. Aber viel unterwegs war ich in der Akademie. Damals war es normal, dass die Klassen ihre Türen offen hielten und man sich gegenseitig besuchte. Das galt nicht nur für de Beuys-Klasse, die inzwischen beinahe das gesamt Erdgeschoss in Beschlag genommen hatte. Und den Gang dazu. Dort war es spannend, weil dort leidenschaftlich diskutiert wurde, während bei uns im O-Bereich alle eher schweigend agierten – die „richtigen“ Schiff-Schüler besonders, die waren ohnehin alle sieben oder acht ein bisschen sozialphobisch. Aber auf dem Gang: Eines Tages im Frühjahr saßen da Anatol, Immendorff und zwei andere Beuys-Adepten im Gang auf einem zerkauten Sofa. Aus dem Röhrenradion davor dröhnte alter Rock’n’Roll, der von Schallplatten kam, die sich auf einem uralten Spieler drehten. Aber Anatol, der ostpreussische Polizist, den Beuys zum Bildhauer machte, übertönte die Musik. In der Hand eine Kartoffel. „Weißte, Immendorff, was eine Plastik ist?“ gröhlte er und zuerdrückte den Erdapfel zwischen den Fingern: „Das ist eine Skulptur!“ Immendorff war nach dem Ärger um seine „LIDL-Akademie“ und dem Zerwürfnis mit Beuys schon gar nicht mehr Student, hielt sich aber oft in der Akademie auf. Ein großgewachsener Typ im hellen Staubmantel, der mit der ihm eigenen Arroganz uns Ledersohlen über den Steinboden der Gänge steppte. Anatol hatte ich schon als Schulkind kennengelernt, denn in den Fünfziger- und Sechzigerjahren tourte er als Verkehrskasperl durch die Düsseldorfer Schulen.

Ich aber tourte orientierungslos durch die Gänge und Räume der Akademie wie ein Candide, der das alles toll und aufregend fand, ohne auch nur das Mindeste zu verstehen. Die Geräusche faszinierten mich, die Musik in den Klassen, das Hämmern beim Keilrahmenbau oder bei den Bildhauern, die Gerüche, der allesüberdeckende Terpentingeruch, das Echo der Schritte, das Schlagen der grpßen Türen, die Stille manchmal mitten am Tag und das Stimmengewirr in der Mensa unten im Gewölbekeller. Das war meine Akademie in den Jahren 1971 und 1972.

[Das Bild, im Original etwa 30 Zentimeter im Quadrat, ist Teil meiner späteren Examensarbeit, einer Reihe von Ölbildern unter dem Titel „Spieler in der Pinte“; es zeigt das Tableau des Flipper, der damals im Einhorn stand.]

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