Möglicherweise stellten die Klassen, mit denen ich in den frühen Siebzigerjahren verbunden war, die drei Pole der Kunstakademie dar. Da war die wilde, geheimnisumwitterte, verrückte und chaotische Beuys-Klasse mit diesem wunderbaren Lehrer und seinem neuen Kunstbegriff. Dann die Klasse von Professor Ellen Neumann, in der die braven Bürgerkinder bisschen malten und sich aufs Lehrerdasein vorbereiteten. Und schließlich die Hüppi-Klasse, in der die Kunst alles in allem eine untergeordnete Rolle spielte. Trotzdem sind etliche Kommilitonen aus dieser Klasse am Ende dann doch Künstler und/oder Kunsterzieher geworden. Während der Zeit, in der ich regelmäßig dort verkehrte, ging es eigentlich immer um was anderes. Das lag vor allem an den Typen, die dort eingeschrieben waren. Ein halbes Dutzend davon ist mir immer noch sehr lebendig in Erinnerung, obwohl ich keiner/m davon in den letzten fünfzehn Jahren begegnet bin. Nehmen wir Uli Kiesow, den einzigen, den ich hier mit seinem Klarnamen vorstellen möchte, weil er a) berühmt geworden und b) leider schon seit längerem tot ist.

Uli Kiesow (Quelle: Thomas Finn)Uli war ein ständig in Bewegung befindlicher Kerl mit Karl-Marx-Bart und -Frisur und aufbrausendem Temperament. Engagiert in Sachen Studentenpolitik und Insasse einer WG an der Herderstraße, in der mehrere Hüppi-Adepten hausten. Dort bastelte Uli an eigenartigen Dioramen mit merkwürdigen Figürchen, die er persönlich anmalte. Dass diese eher kindliche Beschäftigung ihn zu einer Berühmtheit machen würde, war nicht abzusehen. Jedenfalls eröffnete er kurz nach dem Ende des Studiums einen winzigen Laden in der Phillip-Reis-Straße am Fürstenplatz, in dem es allerlei Fantasy-Kram zu kaufen hab, den er importierte. Außerdem war aus seinen Dioramen das später weltberühmte Rollenspiel „Das Schwarze Auge“ geworden. Mein Sohn und eine Handvoll seiner Freunde spielten jahrelang dieses Spiel und versammelten sich dazu wechselweise bei den jeweiligen Eltern, um dort bis tief in die Nacht zu spielen.

Ein wichtiges Thema in der Hüppi-Clique war das Schachspiel. Auch gegen Uli Kiesow trat ich regelmäßig an. Er konnte schlecht verlieren und war auch kein besonders begnadeter Spieler. Zu der Zeit war ich Mitglied im kleinsten Schachverein Deutschlands, dem SC Caissa in Oberkassel; elf Mitglieder, von denen selten mehr als acht zu den Trainingsabenden kamen. In der Mannschaft an den Bretter 2 bis 5 gesetzt war ein Quartett steinalter Herren, denen es immer wieder gelang, einen hochklassigen osteuropäischen Migranten fürs erste Brett zu verpflichten, der dann immer für einen Punkt gut war. Bei der internen Meisterschaft des Jahres 1974 wurde ich achter von zehn Teilnehmern. Und durfte deshalb bei den Wettkämpfen am achten Brett antreten, wenn der angestammte Spieler dieser Position verhindert war. Ligaschach war in jenen Jahren eine merkwürdige Angelegenheit. Sonntagmorgens um zehn trat man in irgendeiner Kneipe oder in dem Klassenraum einer Schule an, um an acht Bretter gleichzeitig gegen ein anderes Team anzutreten. Ich erinnere mich an eine Schule in Erkrath im tiefen Winter, die übers Wochenende ungeheizt war, sodass wir in Fäustlingen spielten. Oder den „Saal“ der Kneipe an der Ecke Bilker Allee / Talstraße (die es schon lange nicht mehr gibt), der tatsächlich aber ein nach schalem Bier, kaltem Rauch und ein bisschen Pisse stinkender Abstellraum war.

Jedenfalls war ich so fit, dass ich in der Hüppi-Klasse nur verlor, wenn ich eine abenteuerliche Eröffnung wählte oder abgelenkt war – zum Beispiel durch J., wenn sie uns zusah. Ich neigte im Stil den Romantikern zu und griff gelegentlich zum Muzio-Gambit, einer der wildesten Eröffnungen mit hochriskantem Gambit. Damit gewann man als Führer der weißen Steine entweder ganz schnell oder verlor mit Pauken und Trompeten. Weil ich dieses Gambit liebte, bekam ich dann auch den Spitznamen „Muzio“ verpasst. Wie die meisten in der Klasse Spitznamen hatten. Der damalige Kerl von J. zum Beispiel, der hieß Flocka. Dann war da der Sohn eines berühmten Bildhauers vom Niederrhein mit dem damals völlig ungewöhnlichen Vornamen Manuel. Als Reminiszenz an den seinerzeit berühmten Tennisspieler nannten wir ihn nur „Orantes“. Orantes und der andere Ulli wohnten in einer ranzigen Bude in Bilk, beinahe Unterbilk; damals eine ziemlich unfeine Gegend mit hohem Anteil „Asozialer“. Billige Mieten, verfallene Häuser, Eckkneipen für die Trinker, jede Menge Obdachlose. Die beiden verstanden es prächtig, sich stundenlang im Stil der Kneipensäufer oder der Wohnungslosen („Berber“) zu unterhalten. Orantes war der einzige, der mir beim Schach Schwierigkeiten machen konnte. Zumal ich ja ein paar Monate lang samstags für Geld die Puppen schob. Spielen konnte man in einigen Altstadtkneipen, unter anderem in „Dä Spiegel“, wo vormittags immer Bretter aufgebaut waren und Schachuhren bereitstanden.

Natürlich wurde nur unter der Hand um Kohle gezockt. Trafen sich zwei zu einer Partie, vereinbarten sie den Einsatz, meist zwanzig Mark. Beide schoben dann einen entsprechenden Schein unters Brett, und der Sieger bekam die Summe. Im Schnitt machte ich so Woche für Woche mindestens 40, manchmal aber auch 80 Mark. So verdiente ich dieselbe Summe, die ich als Bezieher von Waisenrente bekam. Ein Germanistikstudent, dessen Name ich vergessen hab, war der andere Profispieler im Spiegel; fanden wir keine zahlenden Kunden, spielten wir gegeneinander Handicap-Partien, bei denen jedem eine Figur weggenommen wurde, die wir zuvor auslosten; also einer musste ein Pferd abgeben, der andere einen Turm. Ein paar Mal spielten wir – gegen Spenden der Zuschauer – auch ganze Partien blind gegeneinander. Irgendwann hatten wir keine Gegner mehr, und außerdem war das Personal auf uns aufmerksam geworden und drohte mit Hausverbot.

Eine lange, schwere Liebe
Ja, ich war verheiratet. Ja, meine Gattin war meine Jugendliebe. Und, ja, ich war viel zu monogam für die Siebzigerjahre. Und außerdem Romantiker. Und das in den Jahren, in denen es für Menschen unter 35 Jahren einfach normal war, zu vögeln, was zu vögeln war. Das war nicht nur vor Aids, sondern auch vor dem Porno-Zeitalter, in dem es ja schnell nicht mehr um Sex oder gar Lust ging, sondern um Ficksport. Im Umfeld der Kunstakademie aber ging es erheblich promisk ab. Nicht immer kam es dabei zu Eifersuchtsanfällen, aber manche Studentinnen und Studenten konnten nicht ertragen, wenn ihr/e jeweilige/r Partner/in auch mal mit einer anderen Person schlief. Mir fehlte es viel zu sehr an Selbstbewusstsein, um an diesem Spiel mitzuspielen. Ich empfand mich als unattraktiv und hatte auch überhaupt keine Antennen für mögliche Avancen durch Frauen in meiner Umgebung. Aus heutiger Sicht geradezu bescheuert verhielt ich mich in einer Situation mit einer Kommilitonin namens P., einer kleinen, schlanken, sehr sportlichen Person mit kurzen, rabenschwarzen Haaren und quicklebendigen Augen. Die war liiert mit einem ebenfalls sehr sportlichen Zweimeter-Kerl, von dem es hieß, er neige zur Gewalttätigkeit. Das Paar bewohnte gemeinsam ein Erkerzimmer mit Bad an der Ecke der Lorettostraße mit der Düsselstraße, erste Etage mit Blick auf die damals düstere und schmuddelige Lorettostraße.

P. und ich waren uns von der ersten Begegnung an sympathisch. Wir schwatzten gern miteinander und taten gemeinsam mit Vorliebe das, was man „lästern“ nennt. Also Bemerkungen über Leute machen, die man gerade sieht oder die vorbeigehen. Da war sie groß drin. Ich fand sie in ihrer Knabenhaftigkeit nur wenig sexy, mochte sie aber. Eines Tages riss mir in ihrem Beisein die Naht im Schritt meiner Jeans – wie immer trug ich Klamotten, die kurz vor dem Exitus waren, weil sie meine jeweiligen Lieblinge waren. Wir standen gerade irgendwo in der Altstadt, und sie sagte: „Komm, wir fahren zu mir, da näh ich das schnell.“ Mit der Straßenbahn waren wir rasch da, und sie erzählte beiläufig, dass ihr Freund ein paar Tage bei seinen Eltern zu Besuch sei. Sie habe „sturmfrei“ sagte sie und forderte mich auf meine Hose auszuziehen. Holte das Nähzeug und zog ihre Jeans ebenfalls aus: „Damit gleiche Bedingungen herrschen.“ Ich habe diesen Verführungsversuch nicht verstanden, und unser Verhältnis kühlte nach dieser Begegnung deutlich ab.

Aber dann verliebte ich mich Hals über Kopf und haltlos und gegen jede Vernunft in J. Auch eher klein mit einer tollen Figur und dunklen Wuschelhaaren über einem ausdrucksstarken Gesicht. Zu der Zeit war sie mit dem erwähnten Flocka zusammen, der in der Akademie den Proll gab. Lief vorwiegend im Blaumann herum wusch sich selten und roch entsprechend, trank unentwegt Bier aus Flaschen und wohnte mit zwei anderen Schmutzfinken in einem Hinterhaus an der Elisabethstraße. Dort bastelten sie an Motorrädern, und meist war der Esstisch in der versifften Küche nicht nutzbar, weil dort en demontierter Motor lagerte. Dann gab es eine dieser Spontanfeten im Raum der Hüppi-Klasse. Irgendwann saß ich mit J. auf dem Sofa an der Wand neben der Eingangstür, gegenüber der Fensterfront. Irgendwann hielten wir uns in den Armen. Und dann begannen wir ganz vorsichtig mit dem, was man damals „knutschen“ nannte. Flocka stand mit anderen Jungs an den Bierkästen in der gegenüberliegenden Ecke. Schaute zu uns rüber. Nochmal und nochmal. Und dann nahm er eine Flasche aus dem Kasten und schleuderte sie quer durch den Raum. Ein Stück von uns entfernt zerschellte sie auf dem Boden.

Aus diesem Zusammensein, aus dieser unschuldigen Knutscherei entstand eine Geschichte, die bis zum viel zu frühen Tod J.’s dauern würde, die immer schwierig war und unerfüllt blieb. Und die andern Orts zu erzählen sein wird.

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