[Ein Versuch über das Atmen in der schönsten Stadt am Rhein.] Düsseldorf ist Luftkurort, was sage ich, Luftpurort. Alles an unserer Luft hier ist Nähe, Diffusion, Austausch, Semipermeabilität und Metamorphose. Wir Düsseldorfer atmen nicht, wir übersetzen, überführen, transformieren Substanzen, aber auch anhängende oder auslösende Stimmungen in einen feinen, besonderen, unsichtbaren, aber für geübte Nasen und Sinne wahrnehmbaren Stoff, der über der Stadt schwebt, der heiter in ihren Gassen, Dächern und Wiesen hängt, der gelassen in Schlafzimmern, Werkstätten und Geschäftsräumen mitschwingt, der dem Handwerker Mut, den Liebenden Zuversicht, den Künstlern Inspiration und den Kindern bei ihren schlafwandlerischen Tagträumen dabei hilft, nicht zu schnell erwachsen zu werden.

„Das ist, die Düsseldorfer Luft, Luft, Luft!“, sang ich unbekannten Paare und Passanten vor und bat um ihre Assoziationen – hier eine Auswahl. Julian W. aka Lord Folter, 28: „Bloß schnell weg hier! Ich wohne in Eller, dort stirbt man schneller. OK, das kommt vielleicht von der Tabakfabrik, die es hier mal gab, und die womöglich unangenehmen Geruch verbreitete. Auch soll Eller früher mal ‚Elmere‘ geheißen haben, was auch immer das olfaktorisch bedeutet haben mag.“ Margaret W., 81, die ihren vollen Namen nicht im Netz stehen sehen will: „Ist doch toll! Der Medienhafen, die schönen Restaurants dort in Rheinnähe. Ich habe mich in all den Jahrzehnten immer wieder doll und seltsam gefreut, wenn ich unterwegs und anschließend wieder in der Stadt war, meiner zweiten Heimat.“ Daniel Kirsten, IT-Experte, 43:“„Corneliusstraße, Die verdreckteste Piste Düsseldorfs. Aber man kann in der Stadt auch atmen. Dafür gehe ich an den Rhein bei der Tonhalle, ans Fortuna-Büdchen. Dort hab ich die perfekte Mischung aus Flussduft, Straßenstink und Radlerschweiß.“ Wem dieses kleine Potpourri eigene Erinnerungen an ein gewisses Air de Düsseldorf hervorruft, ist bei diesem Artikel richtig und lese gerne weiter.

Das Fortunabüdchen am Rhein (Foto: Markus Luigs)

Das Fortunabüdchen am Rhein (Foto: Markus Luigs)

Bei Sport und sonstiger körperlicher Betätigung ist der Austausch zwischen Lungen- und Umgebungsluft besonders intensiv. Düsseldorfer*innen ist anzumerken, dass hier nicht nur die inhalierte Luftmenge über die Maßen hoch ist, sondern dass auch die Düfte und alle daran hängenden Erinnerungen und Assoziationen das Maß dessen überstiegen, was ein Mensch gemeinhin atmend in Leben umsetzt. Bei normaler Atmung stößt die menschliche Lunge ein Luftvolumen von exakt einem Liter Luft ein und aus. Mit diesem Austauschvorgang wird an den Alveolen (Luftbläschen) der Lunge, insgesamt eine Fläche von 100 bis 140 Quadratmetern, Sauerstoff (O2) gegen Kohlendioxyd (CO2) ausgetauscht. Das Organ kann dabei 0,3 Liter O2 pro Minute aufnehmen, und 0,25 Liter CO2 pro Minute gleichzeitig abgeben. Bei 15 Atemzügen pro Minute in Ruhelage nehmen die derzeit rund 622.000 Düsseldorfer*innen pro Tag etwa 264,5 Millionen Liter Sauerstoff auf und geben 220,3 Millionen Liter Kohlendioxyd ab. Vornehmlich aber sorgen sie dafür, dass die Düsseldorfer Luft entsteht.

Die Neandertaler hatten so große Nasen, um besser Luft zu kriegen (Foto: A. Otto)

Die Neandertaler hatten so große Nasen, um besser Luft zu kriegen (Foto: A. Otto)

Als mit der Besatzung von Apollo 8 erstmals Menschen vom Mond aus die Erde als kleine, fragile, liebliche, blaue Scheibe aufgehen sahen, und als dieses Bild zur Erde gesendet und dort millionenfach erstmals sichtbar war, geschah etwas Wunderbares. Obwohl Wissenschaftler uns längst erklärt hatten, dass unsere Heimat, vom Nichts umgeben, als Planet um seine im Milchstraßensystem unbedeutende Sonne kreisend und theoretisch expandierend einem ungewissen Ausgang zurast, sahen wir sie Ende des Jahres 1968 zum ersten Mal mit ihrer blau-weißen Atmosphäre in ihrer ganzen Schönheit und Fragilität. Gehalten von der Erdmasse, versorgt das Gasgemisch Flora und Fauna mit genau der Mischung, die auch wir Menschen zum Leben brauchen. Und man sollte meinen, dass dieses Gemisch auf jedem Ort der Erde gleich ist, aber dem ist nicht so. Und in Düsseldorf – diese plötzliche Fokussierung vom All auf die Altstadt sei erlaubt, ist dem erst recht nicht so.

Corneliusstraße - die Giftmeile der Stadt (eigenes Foto)

Corneliusstraße – die Giftmeile der Stadt (eigenes Foto)

Du drehst dich noch im Halbschlaf auf den Bauch, du stehst in der Schlange, sitzt im Kino oder auf einer Rheinufertreppe, besuchst den Akademierundgang oder versuchst vergeblich eine Einkehr ins legendäre Fortuna-Eck bei Moni in Flingern. Dein Brustkorb hebt und senkt sich heftig durch die Hilfsmuskulatur, die dein Atmen neben der vom Unterbewusstsein mit der Medulla Oblangata im Atemzentrum des Hirns gesteuerten Atmung bei Mehrbedarf unterstützt. Meist aber nimmst du Luft nur sehr flach auf, kaum seh- oder hörbar. Du sitzt im „Café Knülle“ allein an deinem Tisch, vorübergehend tritt Ruhe ein, und du hörst jemanden am Nachbartisch atmen. Mit einem leichten Schnaufen oder kaum vernehmbaren Hauchen vielleicht, manchmal aber auch mit einer so lieblichen Einströmung, dass du hingehen, dich daneben setzen und anschmiegen könntest, wie einer der Engel aus „Der Himmel über Berlin“.

In den letzten Jahren hat die mit technischen Mitteln gemessene Luftqualität zugenommen. So liegen die von der LANUV gemessenen Werte heute weitgehend im blauen Bereich. Dank Radlern, Aktivisten, empathiefähigen Politikern und Selbstdenkern ist immer mehr Menschen klar geworden, dass Konsum und Profit wichtig, aber längst nicht alles sind. Dass sich Lebensqualität nicht nur in der Menge verbrauchter Ressourcen, sondern auch an der Fähigkeit zur Weiterentwicklung misst. Und dass es, wie schon der große Niederrheiner Hanns Dieter Hüsch sagte, wichtig ist, auch mal einen Schraubenschlüssel für ne Butterblume zu halten. Der Himmel ist blau über der Stadt, die Luft ein magisches Gemisch, und du spürst immer eine kleine wehmütige Abwesenheit, wenn du andernorts atmen musst.

[Am Textende noch eine kleine Danksagung: Für Unterstützung bei der Recherche bezüglich Anatomie und Atmung bedankt sich der Autor bei den angehenden Physiotherapeuten Paula Sophie Ludewig und Johannes Winkelhoch.]

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