[etzt wo entschieden wurde den Rosenmontagszug am 8. Mai 2022 abzuhalten, lohnt es sich einen Blick in die Vergangenheit zu richten. Der folgende Beitrag erschien zuerst im November 2012 auf unserem Vorgänger-Blog Rainer’sche Post] Lesestück · Dass dieses Foto aus dem Karneval 1958 stammt, ist sicher. Wo genau es aufgenommen wurde, dagegen nicht. Immerhin ist das der Opel Rekord meines Vaters, vor dem wir Kinder posieren. Auf der anderen Straße ist ein Frisör zu erkennen und ein Geschäft, in dem Milch verkauft wurde. Es könnte die Corneliusstraße vor der Verbreiterung zur Tamm’schen Autorennschneise sein. Dafür sprechen auch die Gleise im Kopfsteinpflaster. Links vom Frisiersalon sieht man ein Gerüst an einem Haus. Das spricht dafür, dass es NICHT die Westseite der Straße ist, an der ich meine ersten elf Lebensjahre verbrachte. [Lesezeit ca. 5 min]
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Außerdem gab’s Milch bei Nassenstein, und der Laden befand sich auf „unserer“ Seite, der mit den geraden Nummern, zwei, drei Häuser weiter Richtung Innenstadt. Dorthin schickte uns die Mutter mit dem Weißblechkännchen. Den speziellen Geruch des Milchgeschäfts habe ich noch in der Nase, und an die Milchzapfsäule erinnere ich mich als ein beeindruckendes Maschinenwerk mit viel Glas und Chrom. Die Milch wurde nämlich zunächst mit kräftigen Bewegungen eines glänzenden Hebels in einen gläsernen Behälter gepumpt, der mit Maßstrichen versehen war. Und von dort lief der Kuhsaft dann nach Öffnen eines Hahns in die Kanne. Bei Nassenstein gab es: Buttermilch (die ich verabscheute), Quark (der blockweise aus einem Holzkasten geschnitten und in Papier gewickelt wurde), Butter im Goldpapier und Käse (vermutlich nur ein oder zwei Sorten).
Da die Milch jener Jahre noch nicht zu Tode homogenisiert und pasteurisiert war, schmeckte die nach Vieh – heutzutage würden die meisten Menschen sich ekeln vor dem Geschmack. Außerdem konnte man daraus selbst Dickmilch machen. Unsere Mutter stellte zu diesem Zweck einen Krug Frischmilch ans Fenster. Die wurde dann zuerst sauer, dann dick. Man musste dann nur das Wasser abgießen und bekam eine stichfeste Masse, die mit Zucker bestreut zum Nachtisch gereicht wurde.
Direkt gegenüber war ein – man würde heute sagen – Tante-Emma-Laden, in Wahrheit ein ganz normales Gemischtwarengeschäft mit dem Schwerpunkt auf Lebensmittel. 1959 gab’s, jedenfalls in unserer Nähe, noch keinen Supermarkt. Die meisten Waren wurden beim Spezialisten gekauft: Milchprodukte bei Nassenstein, Fleisch und Wurst beim Schlachter Fenger, Drogerieprodukte bei Seifen Hauter, Obst und Gemüse sowie Konserven und Grundprodukte (Mehl, Salz, Reis) eben beim Laden auf der anderen Seite, der zum Lutter-Verbund zählte. Der saß in einem der wenigen Häuser auf der Westseite der Corneliusstraße, das noch über ein intaktes Erdgeschoss verfügte. Als im Sommer 1959 die Rodung der Trümmer und die Verbreiterung begann, zog der Laden um auf die Erasmusstraße, wo er nicht mehr lange überlebte.
Wir wohnten in der Nummer 188. Direkt neben uns hatte die Schlosserei Klever ihren Laden, in dem man Schlüssel nachmachen lassen konnte. Dann kam ein oder zwei Häuser weiter Nassenstein. Und im vorletzten Haus vor der Kreuzung mit der Oberbilker Allee gab es das Café Friedchen, eine plüschrote Höhle, in die uns der Vater ein paar Mal mitnahm, wenn ein Fußballspiel im Fernsehen übertragen wurde, denn das Café verfügte über ein Empfangsgerät.
Zu Karneval liefen ALLE Kinder verkleidet herum – vom Freitag nach Altweiber bis zum Veilchendienstag, und die Kostüme wurden in die Spiele integriert. Deshalb war man mit einem Cowboy-Outfit auch ganz vorn dran. Das war natürlich selbstgeschneidert. Mein Bruder wird rausgewachsen sein, aber ich trage solch eine Überhose aus einem extrem kratzigem Sackleinen. Die arme Schwester hatte sogar einen Clownsanzug ganz aus diesem fiesen Stoff. Die Hüte waren aus hauchdünnem Filz, in das man mit dem Fingernagel Löcher bohren konnte. Unser handwerklich begabter Onkel hatte die Westen aus billigem Kunstleder für uns verfertigt und befranst, außerdem merkwürdige Manschetten, die eigentlich nur störten, sowie die Pistolengürtel. Darum wurden wir ebenso beneidet wie um unsere Knallpistolen. Die waren aus irgendeinem kunststoffartigen, bröseligen Metall, das mit Metallfarbe gefärbt war. Die Munition bestand aus Papierrollen, auf denen in gleichmäßigen Abständen winzige Zündplättchen angebracht waren. Traf der Hahn so eine Stelle, machte es „Piff“ – bestenfalls, denn Fehlzündungen waren normal.
Auf dem Titelbild bin ich fünf Jahre alt; mein Bruder ist neun, und das Nesthäkchen anderthalb. Allein bei uns im Haus wohnten in zehn Wohnungen 24 Kinder. Im Erdgeschoss hauste die Familie P. mit sieben oder acht Söhnen; von den ältesten hieß es, sie würden die Familie mit Einbruchdiebstahl ernähren. Auf jeden Fall war mit den Burschen nicht gut Kirschen essen. In der vierten Etage gab’s die Frau K., die als alleinerziehende Mutter zehn Kinder von sieben Vätern hatte („Nicht umgekehrt“, pflegte Herr F., der Nachbar, zu sagen). Von der hieß es, sie würde schon schwanger, wenn sie nur eine Männerunterhose sähe. Angeblich waren zwei der Sprößlinge die Ergebnisse von Vertreter-Besuchen…
Die Familie F. zählte dagegen auch eher zu den bürgerlichen Spießern wie wir, und die Witwe Sch. war bei uns beliebt, weil sie einen Fernseher hatte und wir bei ihr Lassie, Fury und „Sport, Spiel, Spannung“ sehen durften.
Wenn alle Pänz von der Eastside der Corneliusstraße umherzogen, dann waren wir locker zu vierzig, fünfzig Kindern, wobei sich das natürlich nach Altersklassen sortierte. Angst hatten wir nur von den bösen Buben von der Hildebrandstraße, über die Fürchterliches gemunkelt wurde. Die seien auf Rollschuhen unterwegs, schnell da, schnell wieder weg, und würden keine Gefangenen machen. Ihr Markenzeichen waren Einkaufsnetze, die sie sich als Masken über die Köpfe zogen. Es hieß, die würden einem alles wegnehmen, was ihnen wertvoll erschien. Um bei der Wahrheit zu bleiben: Mir sind diese Terroristen nie begegnet, nicht mal, wenn ich um die Ecke zur Laktrizfabrik Münster ging, um in der Pförtnerloge eine Tüte Waffelbruch für zehn Pfennig kaufen zu gehen.