Wie ich einmal aus Versehen zum Punker wurde, bevor es Punk überhaupt gab…

Lesestück · Aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, fiel ich Anfang 1976 aus meinem einigermaßen spießigen Lebensentwurf. Der hatte mich dazu gebracht, an der Düsseldorfer Kunstakademie auf Lehramt zu studieren, obwohl ich eigentlich immer nur Künstler werden wollte. Jedenfalls landete ich im Mai 1976 in einer WG in Pempelfort, die vorwiegend von DKP-Aktivisten bewohnt wurde. Die waren auch sehr spießig. Und das wollte ich nicht mehr sein. Ich schaltete um auf Chaos. Und zeigte meine antibürgerliche Haltung vor allem durch Kleidung und Benehmen. Schon vorher hatte ich mir immer wieder den Zorn meiner Mutter zugezogen, weil ich seit Kindheitstagen immer gern an meinen Lieblingsanziehsachen festhielt – bis sie auseinanderfielen. Weder in der Schule, noch an der Akademie erregte ich mit löchrigen Jeans und Pullovern Aufsehen. Dafür aber draußen auf der Straße, beim Einkaufen und, ja, auch in „normalen“ Kneipen. [Lesezeit ca. 8 min]

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Ein Stück, das meiner Mutter besonders auf den Zwirn ging, war ein nachblauer Nicki. Bekanntlich leiert dieser Stoff gern aus und bildet dann ungleichmäßige Löcher, durch die das, was man drunter trägt oder nicht, durchschneit. Sie nannte das Ding „Sternenbanner“. Jung wie ich war, arbeitete ich mich in Sachen Widerstand vor allem an der Kleiderordnung der etablierten Bürger und derjenigen, die so werden wollten, ab. Hinzu kam, dass ich das Einkaufen von Kleidung schon immer bis aufs Blut gehasst hatte. Im Frühjahr 1973 entdeckte ich die Berufskleidung für mich, und in jenem Sommer trug ich fast durchgehend eine weiße Malerlatzhose; gern mit aufgekrempelten Hosenbeinen und je nach Wetter mit nix drunter.

Gern auch im gelben Turnleibchen... (Foto: privat)

Gern auch im gelben Turnleibchen… (Foto: privat)

Ab 1975 waren es dann Fußballtrikots, also nicht wie heute als Merchandising erworbene, sondern billige, einfarbige Lappen mit Rückennummer. Auf dem Titelbild habe ich ein solches in Rot mit der Nummer 7 auf dem Rücken an. Im Sommer ging ich meistens barfuß und fuhr auch ohne Schuhe Auto. Nur mein typischer 70er-Schnäuzer, den ich erst 1992 abrasierte, war ein Relikt meiner Spießerzeit als Ehemann und ordentlicher Student. Das Studium, allerdings nur in Kunst als erstem Fach, hatte ich im Mai 1976 mit Ach und Krach absolviert. Lust auf das Studium eines zweiten Faches, womöglich an der doofen Uni, hatte ich nicht – erst vier Jahre später nahm ich dann tatsächlich das Lehramtsstudium in Germanistik auf; die Uni fand ich da immer noch doof.

Meine Einnahmen halbierten sich, denn das Bafög fiel weg, und meine Waisenrente betrug gerade einmal knapp 200 Mark. Ich schlug mich durch, hatte aber zunächst auch keinen Bock auf irgendeinen regelmäßigen, öden Job. In der Akademie-Mensa nahm ich gern den Eintopfnachschlag als Geschenk befreundeter Student:innen an, und ab und an ging ich in einem großen Vertreterhotel (das es nicht mehr gibt) illegal frühstücken. Ansonsten machte ich gegen eine warme Mahlzeit und ein paar Flaschen Bier den Babysitter bei Freunden, die auch nicht genug Kohle hatten mich zu bezahlen. Geklaut habe ich nur selten, und wenn ich ein Auto brauchte, fand ich immer jemanden, bei dem ich eins leihen konnte.

Ein paar Wochen fütterte mich eine Ex-Kommilitonin durch, für die ich im Gegenzug den Chauffeur spielte, weil sie den Lappen hatte abgeben müssen. Bei der konnte ich auch pennen, wenn mit die Scheißkommunisten in der WG auf den Senkel gingen. Mein Zimmer dort lag nach hinten raus und hatte eine Fläche von knapp acht Quadratmetern. Möbliert war es mit einem Türblatt auf Sägeböcken als Schreibtisch, einer Polsterliege als Bett (die ich bei irgendwem abgestaubt hatte) und einem geklauten Kneipenstuhl, den ich einer feuchten und windigen Märznacht von Bilk aus zu Fuß bis nach Pempelfort geschleppt hatte.

Nun hatte ich während des Studium gelegentlich bei Mannesmann gejobbt, damals der größte Arbeitgeber der Stadt, der immer Dutzende, wenn nicht Hunderte Studentenjobs im Angebot hatte. Wie es der Zufall will, strolchte ich Anfang Juni die Westseite der Kö entlang und kam dabei auch an den Büros der damaligen Mannesmann Export (kurz: Mannex) vorbei. Da trat einer gerade vor die Tür, erkannte ich mich und sprach mich an. Das war der Herr Esser, der im Auftrag irgendeiner Beratungsfirma an einem Auftrag für Mannes arbeitet und zu diesem Zweck ein Erdgeschossbüro zugeteilt bekommen hatte.

Mit dem hatte ich mich bei den Jobs immer gut verstanden. Er fragte ich nach meinem Befinden, und als ich erzählte, ich könnte einen lockeren Job gebrauchen, sagte er: Wenn Sie wollen, ich könnte sie gebrauchen. Von Mitte Juni an arbeitete ich – mit Unterbrechungen – bis Ende 1978 dort. Meine Aufgabe war das Fotokopieren, denn die Firma erzeugte die Dokumentationen für mehrere Anlagenprojekte im Irak. Im Grunde hatte ich freie Zeiteinteilung; Esser gab Anfang der Woche vor, was abzuarbeiten war, und ich konnte selbst entscheiden, wann ich die Arbeit tat; Hauptsache, am Freitag war alles fertig.

Die Kohle wurde ebenfalls Freitag schwarz und in bar ausgezahlt, und ich hatte auf Schlag keine Finanzsorgen mehr. Ich kaufte einen Plattenspieler und ging in jeder Mittagspause im Musicshop an der Flingerstraße in den Kisten zu wühlen; zwei, drei Scheiben wurden es meistens. Schräge Sachen, die keiner kannte: MC5, Stooges, New York Dolls, Strapps und so etwas. Schon als Teenager hatte ich immer ein Herz für die härtere Musik. Summertime Blues von Blue Cheer liebte ich und Kick out the jams von MC5. Auch die frühen Metal-Klamotten von Black Sabbath und alles Wilde von Deep Purple waren genau meins.

Die damals angesagte Disco-Mucke hasste ich, besonders diesen Dreck von Bonnie M, aber auch das Popgesülze von Abba. Über diese Kommerzscheiße hinaus aber war (und ist) mein Musikgeschmack enorm breit gefächert und reicht von Jazz über Soul bis hin zu Singersongerwritern wie Cat Stevens und Simon & Garfunkel. Auch Platten dieser Art besaß ich, und die waren nützlich, wenn ich mal weiblichen Besuch hatte.

Den Ratinger Hof kannte ich natürlich seit ich 1971 das Studium an der Akademie begonnen hatte, denn wir „Künstler“ verkehrten selbstverständlich so gut wie ausschließlich im Einhorn, in der Uel und im Hof. Gerade der Ratinger Hof mit seiner hippiesken Einrichtung war für uns attraktiv, obwohl ich persönlich das Einhorn bevorzugte, weil dort die besseren Flipper standen. Jetzt aber mit ein bisschen Geld auf Tasche gewöhnte ich mit den Hof an, auch weil dort der liebe Rüdiger Berndt, ehemals Kunststudent, Künstler und Original kellnerte. Der trug bei der Arbeit ein pinktes Satinjäckchen mit den aufgestickten knallroten Buchstaben D-K-P.

Ratinger Hof - (c) Richard ar/gee Gleim (gnogongo.de)

Ratinger Hof – (c) Richard ar/gee Gleim (gnogongo.de)

Ich taperte die Nordstraße hoch, dann quer durch den Hofgarten und in die Ratinger Straße. Meist lief ich gegen sieben Uhr ein, und in der Regel ging ich gegen Mitternacht. Mein Stammplatz war am runden Tisch mit Bank unter dem Fenster zur Straße. Meist trank ich zehn Alt, manchmal weniger, selten mehr. Das Glas Düssel Alt kostete eine Mark. Der Ratinger Hof befand sich im Sommer 1976 in einer Übergangsphase. Die Sofas und Teppiche aus der Hippiezeit hatte man entsorgt, die Wände waren schon kahl und weiß, aber noch beherrschte nicht das grelle Neonlicht die Kneipe. Überm Durchgang zu den Klos hing ein Fernseher, und ich habe im Ratinger Hof große Teil der olympischen Spiele 1976 in Montreal verfolgt – ohne Ton, denn natürlich lief immer Musik.

Überhaupt trank ich jener Zeit ausschließlich Kaffee, Cola und Altbier. Einer meiner Nebenjobs bei Herrn Esser war es, für ihn, die beiden Kollegen und mich in den Teeküchen der Mannesmann-Abteilungen Kaffee zu klauen. Er hatte extra eine besonders große Thermoskanne angeschafft, mit der ich die Etagen abklapperte, um den schwarzen Stoff zusammenzustehlen. Bier trank ich nur abends, ansonsten eben Ami-Brause. An der Ecke Nord-/Duisburger Straße hatte McDonalds eröffnet, und ich wurde zum Junkie – ein Tag ohne Cheeseburger war ein verlorener Tag.

Mittlerweile besaß ich eine zweite Jeans und ein zweites Fußballtrikot (ebenfalls mit der Nummer 7) in dunkelblau. Herr Esser hatte gegen mein Outfit nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Er selbst sah sich als Freigeist und jammerte gelegentlich darüber, wie sehr ihm der Anzugzwang auf den Geist ging. Als Nonkonformist fuhr er einen Volvo 1800 ES, den sogenannten „Schneewittchen-Sarg“, sein Hobby war es, Landschaftsaufnahmen mit einer Großformatkamera zu machen, die er selbst entwickelte und abzog. Er wohnte in Dortmund; montags kam er rüber nach Düsseldorf, die Woche über hauste er in einem möblierten Zimmer in einem Haus in der Altstadt am Ende der Flingerstraße, freitags für er nachhause zu seiner wunderschönen Frau, die ich bei ihren regelmäßigen Kö-Shopping-Touren kennengelernt hatte.

Aus meiner Examensarbeit: Gemälde im Stil der Neuen Wilden (Foto: privat)

Aus meiner Examensarbeit: Gemälde im Stil der Neuen Wilden (Foto: privat)

Gab es unter der Woche irgendwo ein geiles Konzert oder eine wilde Party, die man nicht vor dem Morgengrauen verließ, ging ich erst gar nicht nachhause, sondern pennte auf einer Bank am Kö-Graben. Es waren sorglose, schöne Monate in diesem Sommer 1976. War ich Punker? Sicher nicht in dem Sinne, in dem man ab etwa 1980 Punker definierte. Nie hatte ich einen Iro, und in meinen Ohrläppchen steckten keine Sicherheitsnadeln. Am ehesten war es die Attitüde, die etwas Punkiges an sich hatte, dieses Leben ohne Blick auf die persönliche Zukunft, verbunden mit einer grundlegenden Widerständigkeit gegen die bürgerliche Gesellschaft. Dazu passte, dass meine Malerei seit etwa 1974 so aussah wie die Werke der Künstler:innen, die den sogenannten „Neuen Wilden“ zugeordnet wurde.

Das war eindeutig Punk, denn es folgte dem Rezept: „Du kannst einen Pinsel halten? Du kannst ihn in Farbe tauchen? Und die dann auf einen Untergrund bringen? Gut, dann bist du Maler!“ Also analog der berühmten Kiste, dass du nur drei Akkorde auf der Gitarre können musst, um eine Band zu gründen. Dass es eine solche musikalische Bewegung in New York und in Großbritannien gab, war mir im Sommer 1976 nicht wirklich bewusst. Die Glühbirne ging mir erst zwei Jahre später auf: Ich hatte das große Glück am 9. November 1978 im Ratinger Hof in meinen Geburtstag reinfeiern zu wollen und so zufällig in das historisch bedeutsame Konzert von Wire zu geraten.

Ja, ich fand dann auch ein paar Jahre Punk-Musik ganz gut. Meine Mitbewohner in der Land-WG, in der ich dann 1977 wohnte, fanden den Krach, der bisweilen aus meinem Zimmer drang, nicht wirklich lustig, die waren musikalisch ganz anders drauf – irgendwo zwischen 60er-Nostalgie, virtuose und hymnischem Rock und dergleichen. Mich aber hatten vor allem die Sex Pistols mit ihren ersten beiden Hits fasziniert; für mich waren sie – und später dann The Clash, The Damned, Adverts, Stiff Little Fingers Stranglers etc. – die legitimen Erben des rauen Detroit-Lärms von MC5 und den Stooges, sowie den New York Dolls und den anderen wüsten Musikanten aus der CBGB-Szene. Heute höre ich diese Sachen mit der gleichen Portion Nostalgie, mit der ich den Woodstock-Kram, die Beatles, die Kinks und andere Sechziger-Mucke höre.

Wie’s weiterging? Im Job lernte ich A. kennen. Übrigens an einem Fotokopierer, an dessen Bedienung sie verzweifelte. Drei Wochen später zog sie bei mir ein; in eine 22 Quadratmeter große Zweizimmerwohnung unterm Dach auf der Bilker Allee. Sie brachte ein Auto mit in die Beziehung und verdiente mehr als das Doppelte, von dem, was ich einnahm. Unser 1979 war geprägt von merkwürdigen Urlaubsreisen, etlichen schrägen Konzerten und sehr, sehr vielen Kneipenabenden, allerdings vorwiegend außerhalb der Altstadt, eher im Viertel (Blende, Tigges, UC Café, Tamarinde etc.). Ich jobbte jetzt als Sekretärin über eine Zeitarbeitsfirma (denn ich hatte entsprechende Abendkurse absolviert und ein Sekretärinnen-Diplom erworben). 1980 wurde A. schwanger, wir zogen nach dem Tod meiner Mutter in die alte Familienwohnung und wurden eine kleine Familie.

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