[Achtung, langes Lesestück!] Es gab eine Zeit, da war das Plattenkaufen nicht weit weg vom Besorgen von Lebensmitteln. Gegen Ende der Siebzigerjahre – wir verdienten unser Geld mit Studentenjobs – gehörte der Besuch des Music Stores auf der Flinger Straße zum festen Ritual der Mittagspausen. Im Sommer war die gesamte Ladenfront geöffnet, und sowohl drinnen, als auch draußen standen die Tröge mit den Langspielplatten. Sortiert nicht etwa nach Genre, sondern vor allem nach dem Preis. Wenn ich mich recht erinnere, kosteten normale, aktuelle LPs rund zwanzig Mark. Hier beim Plattenhöker gab es hörenswerte Alben aber auch schon für unter zehn Mark.

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Wir kauften querbeet und entlang eines imaginären Monatsbudgets. Wenn ich „wir“ schreibe, meine ich damit insbesondere meine Mitbewohner, mit denen ich im Jahr 1977 draußen in Straberg in einer WG lebte. Wir hatten uns bei einem dieser Studentenjobs (die damals durchaus lukrativ dotiert waren) kennengelernt, die man problemlos bei Mannesmann bekommen konnte. Niemand, schon gar nicht die Festangestellten, arbeitete sich dort kaputt, und die Mittagspausen dehnten sich gern einmal auf zwei, ja sogar drei Stunden aus. Zeit genug, nicht nur in der hervorragenden Kantine der Mannesmann Anlagenbau an der Kö zu speisen, sondern in der Altstadt auch das eine oder andere Bierchen zu trinken. Und eben Platten kaufen zu gehen.

Frauen kauften keine Platten

Komischerweise betraf das nur uns Kerle; die Frauen kauften keine LPs bzw. sehr selten und nur ausgewählte Alben. Wer von den Jungs auf sich hielt und mit Frauen konnte, der kaufte beim Stöbern immer gleich auch ein paar Scheiben für die Dame des Herzens mit ein, die er dann als Geschenk überreichte. Einer unserer Mitbewohner war ein echter Großverdiener; er besaß eine richtige „Anlage“, eine hochmoderne Kombination von Komponenten des Herstellers Technics, um die wir ihn sehr beneideten. Er konnte sich auch wesentlich mehr LPs leisten als wir anderen und hatte es nicht nötig, in Grabbelkisten zu wühlen. Stattdessen frequentierte er Evertz und Kürten, um den heißesten Scheiß zum Normalpreis zu erwerben.

Dabei hatte sich das ganze Thema „Schallplatten“ in den zehn, fünfzehn Jahren zuvor ständig rasant verändert. Es begann mit der Single. Für die Jüngeren: Dabei handelt es sich um kleiner Platten, bei denen auf jede Seite genau ein Song passte. Die kosteten immer fünf Mark, was bei uns Jugendlichen jener Jahre meist dem halben Monatstaschengeld entsprach. Zwar gab es schon diese leider inzwischen verstorbenen Institutionen wie das bereits erwähnte Funkhaus Evertz oder Radio Kürten, aber Singles gab es auch in kleinen Geschäften, die nicht darauf spezialisiert waren, Schreibwarenläden zumal.

Als man Singles noch klauen konnte

Ein Schulfreund meines Bruders hatte sich so um 1963 herum darauf spezialisiert, in einem dieser kleinen Läden – ich meine mich zu erinnern, dass der oben auf der Moltkestraße an der Zoobrücke war – regelmäßig Singles zu klauen. Man bewunderte ihn dafür, und natürlich hatte er die umfangreichste Sammlung. Übrigens hatte noch lange nicht jeder einen eigenen Plattenspieler. Da aber die Eltern entweder im Buchclub waren, wo sie ein solches Gerät günstig erstehen konnten, oder auf Raten eine Musiktruhe erstanden hatte, konnte man mit der Erlaubnis der Erziehungsberechtigten auf deren Ausrüstung die Hits der Zeit hören.

Natürlich wurden Singles auch ausgeliehen, und gemeinsam hörte man die Musik auch gern. Spitze waren Zehnplattenwechsler, bei denen man einen Stapel Singles auf die Spindel steckte, damit das Gerät nach dem Abspielen einer Platte die nächste automatisch auf den Plattenteller warf und den Tonarm am Beginn aufsetzte. Mein Bruder und ich hatten eine einigermaßen antiquierte Musiktruhe von unserem Onkel geerbt. Die war zwar noch auf das Abspielen von Schelllackplatten ausgerichtet und funktionierte nur mit 78 und 45 Umdrehungen in der Minute; immerhin konnten so auch die Vinylscheibchen gespielt werden.

Die goldene Ära der Tonbandgeräte

Mitte der Sechzigerjahre schlug die große Stunde der Tonbandgeräte. Man wünschte sich solch ein Gerät zum Geburtstag, zu Weihnachten oder zur Konfirmation oder sparte darauf. Nun konnte man das anfertigen, was man heute vielleicht „Raubkopien“ nennen würde. Die wichtigste Quelle waren aber nicht die Schallplatten, sondern die Radiosender, die „unsere“ Musik spielten. Wobei die Grenzen zwischen den Genres um 1965 herum ausgesprochen fließend waren. Ja, wir mochten Schlager, aber mehr noch Beat-Musik, hörten aber auch ganz gerne die alten Erzeugnisse der Populärmusik, die wir von den Eltern liehen.

Aufgenommen wurde mit dem Mikrofon, das man an den Lautsprecher des Rundfunkempfängers hielt; es sei denn, zum Zubehör des Geräts gehörte ein Mikrofonständer. Mitgeschnitten wurde natürlich manuell: Hatte der Diskjockey den Titel angesagt, wurde gestartet, war der Song zu Ende, wurde gestoppt – immer in der Hoffnung, dass der Ansager nicht in die Titel hineinquatschte. Ansonsten wünschte man sich von den Verwandten Singles zum Geburtstag. Meine ersten beiden Platten bekam ich von meiner Tante, es waren „Nathalie“ von Gilbert Becaud und „Last Time“ von den Rolling Stones.

Meine allererste LP

Meine erste LP erwarb ich 1967, da war ich vierzehn. Es war das Doppelalbum „Living the Blues“ von Canned Heat mit dem Titel „Refried Boogie“, der sich über zwei Plattenseiten hinzog. Nun hatte ich auch einen eigenen, modernen Plattenspieler, den man an das ebenfalls moderne Telefunken-Radio anschließen konnte. In den ersten drei Jahren kennzeichnete ich noch jede einzelne LP mit meinem Namenskürzel, mit einer laufenden Nummer und der jeweiligen Jahreszahl.

Das änderte sich als ich mir selbst ein neues Album pro Monat genehmigte. Um 1970 herum trug ich Zeitschriften im Zooviertel aus, und auf der Rethelstraße gab es einen kleinen Plattenladen, in dem ich alle vier Woche eine sorgfältig ausgewählte LP von meinem Nebenverdienst erwarb, nicht ohne die Besitzerin – eine wie mir damals schien „ältere Dame“ – um Rat und Meinung zu fragen. Die kam offensichtlich vom Jazz und hat mir nicht ein einziges Album empfohlen, das mit nicht gefallen hätte.

Probehören im Radio- und Fernsehgeschäft

Die richtigen Radio- und Fernsehgeschäfte waren entweder mit Kopfhörerstationen oder richtigen Abhörboxen ausgestattet. Man konnte sich Platten aussuchen, die einen interessierten, die von einem Verkäufer aufgelegt wurden und die man dann hören konnte. Man bekam eine Art Telefonhörer ohne Sprechmuschel, die an einem flexiblen Kabel befestigt war. Das Ding presste man fest ans Ohr, denn so richtig laut wurden die Songs nicht abgespielt. Bei Kürten, glaube ich, hatten sie die Boxen, die halbwegs schalldicht waren und in denen man tatsächlich echten Hifi-Sound genießen konnte. Anfangs durfte man die ausgewählten Scheiben sogar mit hinein nehmen und dort selbst auf dem Plattenspieler auflegen. Dafür waren die LPs – wie schon gesagt – dort auch teurer.

Eine wichtige Quelle für die heiße Musik waren aber auch die Kaufhäuser, allen voran der Kaufhof an der Kö. Je populärer die populäre Musik wurde, desto größer wurde die Abteilung. Bei Karstadt führte das dazu, dass die Musikabteilung fast eine halbe Etage einnahm, beim Kaufhof an der Schadowstraße ebenso. Und wenn wir im legendären Jahr 1977 so richtig Bock aufs Plattenwühlen hatten, fuhren wir nach Köln an den Hansaring zu Saturn. Dort gab es nach deren eigener Aussage das größte Angebot an Langspielplatten in ganz Deutschland.

Spannend waren dort nicht nur die Ausflüge in die Superbilligabteilung, sondern auch zu den Klassik- und Jazzplatten. Überhaupt: Wenn man beim Plattenkauf so richtig fachsimpeln oder gut beraten werden wollte, musste man das Glück haben, an einen Jazzliebhaber zu geraten. Die hatten einfach von der ganzen modernen und populären Musik Ahnung. Einer von dieser Sorte – in welchem Laden es war, weiß ich nicht mehr – brachte mich auf Frank Zappa … wofür ich ihm noch heute dankbar bin.

Kistenweise Platten per Post

Und dann kam 2001, also nicht das Jahr, sondern der Versandhändler für Bücher, der in den Siebzigerjahren massiv ins LP-Geschäft eingestiegen war. In Sachen Musik war die Auswirkung dieser Firma mit der zu vergleichen, die Amazon in den frühen Nullerjahren hatte. Man musste nur wissen, dass man die aktuellen Scheiben dort nicht bekam, dafür aber unglaubliche Zusammenstellungen – beispielsweise alle Alben der Kinks für 70 Mark oder eine Kiste mit zwanzig Jazzplatten für 30 Mark. Man bestellte halbwegs wahllos und ging auf musikalische Entdeckungsreisen.

Und auch noch gegen Ende der Siebzigerjahre hörte man Musik quer durch den Garten. Ich erinnere mich noch an einen Freund, Sohn sehr wohlhabender Eltern, der nicht nur ständig sturmfreie Bude in einer riesigen Wohnung direkt am Schwanenspiegel hatte, sondern IMMER ALLE relevanten neuen LPs kaufte. Der lud uns oft zu stundenlangen Hör-Sessions ein. Und niemand hatte ein Problem damit, dass die Bee Gees und Cream völlig gleichberechtigt gehört wurden.

Audiophile und Punks änderten alles

Irgendwann waren die alten Plattenregale zu klein. Tausend oder mehr Langspielplatten zu besitzen, war nichts Besonderes. Aber dann setzten zwei Trends ein, die alles änderten. Einerseits fanden viele Kerle Gefallen am audiophilen Hören, schafften für Mörderkohle Highend-Anlagen an und kauften sich Direktschnittplatten für irre Summen. Deren Musikgeschmack war dann nicht mehr vom Zeitgeist geprägt, sondern richtete sich nach dem Hörerlebnis möglichst nah am Live-Auftritt. Der zweite Megatrend hieß: Punk. Wer so ab 1978 den Punk für sich entdeckt hatte, begann alle Popmusik zu verachten, die nicht Punk war – eine Entwicklung, die dazu führte, dass die Insassen der vielen zersplitterten Jugendkulturen strikt nur noch Musik „ihrer“ Bands hörten.

Der Single- und LP-Kultur gab dann die Ankunft der CD den Rest. Jedenfalls über viele Jahre, denn seit ungefähr zehn, zwölf Jahren feiert das Vinyl fröhliche Urständ, und der Handel mit gebrauchten LPs boomt. Mancher, dessen Plattensammlung jahrzehntelang im Keller verstaubte, schaffte einen neuen Plattenspieler an und holte die schönen Alben zurück ins Wohnzimmer. Oft in der festen Überzeugung, Musik von der Vinylscheibe höre sich einfach besser an.

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