Wer vom Fußball-Geschäft spricht und Fußball für Unterhaltung hält, vergisst einen wesentlichen Aspekt.
Lesestück · Seit dem 10. September 2004 bin ich Dorfbewohner und hause in der vom 2008 verstorbenen OB Joachim Erwin erzwungenen Multifunktionsarena. Der hatte sich selbst zum 55. Geburtstag das sogenannte „Soft Opening“ geschenkt, das mit einem Spiel der glorreichen Fortuna gegen die inzwischen ein bisschen glorreichere Union aus Berlin-Köpenick unter haarsträubenden Sicherheitsumständen gefeiert wurde. 38.123 Zuschauende wurden in die Baustelle geschleust, und wer einen Platz im Oberrang auf der Haupttribüne ergattert hatte, konnte den grinsenden OB im VIP-Bereich sehen, der sich wohl nicht zufällig direkt am Fenster zu den Treppen hatte platzieren lassen. [Lesezeit ca. 5 min]
Unsere von Herzen geliebte Fortuna gewann durch Tore von Gustav Policella und Mario Pasini unter Trainer Massimo Morales mit 2:0. Manager war zu der Zeit „Weltmeister“ Berthold, den Erwin geholt hatte, um F95 schleunigst in die Erste Bundesliga zu befördern. Dass nicht, weil der gute JE so ein großer Fortuna-Fan gewesen wäre, sondern weil die von ihm durchgepeitschte Finanzierung des Arena-Baus bei einem weiteren Verbleib in der Regionalliga über kurz oder lang zusammengebrochen wäre. Überhaupt ging rund um die Kohle für die Multifunktionskiste so viel schief, dass der Krefelder Millionär Gerald Wagener den Laden beinahe für 1 Euro gekauft hätte.
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Anfangs habe ich zugegebenermaßen sehr mit diesem Fußballplatz im Gewand einer Messehalle gefremdelt. Okay, mein „Hometurf“ ist der TuRU-Platz an der Färberstraße, fußalltechnisch sozialisiert wurde ich im alten Rheinstadion, im Paul-Janes-Stadion und später dann im 1972 eröffneten neuen Rheinstadion. Ein bisschen roch das Ding mit den geheizten Umläufen und dem verschiebbaren Dach wie der typische Ausdruck der angeblichen Düsseldorfer Schickimicki-Attitüde (die in Wahrheit immer nur von Zugezogenen an den Tag gelegt wird). Besonders groß war natürlich der Schritt vom altehrwürdigen Fußballplatz am Flinger Broich, wo die Fortuna nach dem Abriss der alten Schüssel antrat, in dieses hypermoderne Gebäude, in dem es anfangs keine Stehplätze gab.
Und nun sehe ich praktisch alle Heimspiel unserer Diva – meisten gemeinsam mit meinem Fortuna-Kumpel Michael – im Block 41 auf der Südtribüne. Ganz am Anfang hatte ich eine Dauerkarte für den Block 42b, wurde aber von den Ultras vertrieben und wechselte zunächst in den 42er und dann ab 2009 auf „meinen“ Platz auf der Treppe am Rande des 41er rechts vom sogenannten Mundloch. 13 Jahre lang lebe ich quasi dort, und das gesamte Gebiet drumherum ist mein Dorf.
Im wahren Leben ist man in einem Dorf geboren und dort geblieben, oder man ist zugezogen. Diesen Unterschied gibt es im Block so nicht. Dort hat man schon sehr lange oder bereits seit Jahren seinen Stammplatz, oder man ist irgendwann in diesem Örtchen gelandet. Man kennt sich so, wie sich Dorfbewohner kennen. Von manchen kennt man die Lebensgeschichte, mit anderen tauscht man nur nachbarschaftliche Grüße aus, einige kennt man nur vom Sehen, und dann sind da auch noch Leute, mit denen man noch nie ein Wort gewechselt, denen man noch nicht mal zugenickt hat.
Natürlich unterhält man sich im Dorf. Und beileibe nicht nur über die wunderhübsche Fortuna und den Fußball, sondern über all die Themen, die man auch in der Dorfkneipe besprechen würde. Da hat eine Tochter endlich ihre Prüfung bestanden. Ein langjähriger Dorfbewohner hat geheiratet. Jemand, den man über Jahre immer an seinem Stammplatz gesehen hat, ist gestorben. Man sieht junge Leute erwachsen werden und Menschen altern. Man redet über Persönliches, und bisweilen wird auch über Politik gesprochen. In allem steckt das Gefühl verbunden zu sein, weil eben alle nur das Beste für F95 wollen.
Man freut sich gemeinsam über jedes Tor, bejubelt jeden Sieg und ist traurig bei Niederlagen. Man streitet, manchmal ist man sauer auf einen Mitbewohner oder eine ganze Gruppe, aber man bleibt solidarisch. Manche, die man über Jahre im Block getroffen hat, bleiben plötzlich weg und kommen nie wieder. Andere wechseln ihren Platz, sodass man sie nur noch im Umlauf oder bei Auswärtsspielen trifft. Die nie wieder auftauchen, vermisst man … oder auch nicht. Einige sind einem so nah wie Familienmitglieder, andere zählt man zu den besten Freund:innen.
Der Plausch vor dem Spiel gehört zwingend dazu, und damit ich genug Zeit habe, mit meinen Leuten zu quatschen, erscheine ich spätestens eine Stunde vorm Spiel. Da finde ich dann Michael schon auf seinem Platz; der kommt immer so früh, dass er beim Einlassbeginn schon vor den Toren wartet. Wir tauschen uns über die Zeit aus, in der wir mangels Heimspiel nicht gesehen haben. Manchmal unterhalten wir uns über die Weggebliebenen, über Nina und Claus, die Nievenheimer, über die Kleene, die wir haben groß werden sehen, und ihre Eltern. Freuen uns darüber, dass Verlorengegeganene plötzlich wieder auftauchen.
Wie groß das Dorf ist? Nun, die unmittelbare Nachbarschaft umfasst vielleicht zehn Reihen nach unten und oben bis ungefähr zur Mitte vom 42er und in den 40er hinein. Aber natürlich zählen auch die bekannten Gesichter im Oberrang dazu, die man vor dem Spiel im Umlauf trifft. Dann sind da noch die Freund:innen, die ehrenamtlich helfen oder einen Job bei den Heimspielen haben und die man an ihrem Arbeitsplatz besucht, oder sie kommen vorbei.
Und, ja, natürlich wird auch über die Fortuna, die gewesenen, die kommenden und die laufenden Spiele gesprochen! Nicht selten ist die gemeinsame Erinnerung an dieses oder jenes gemeinsam erlebte Spiel Ausgangspunkt für Gespräche, besonders natürlich über Auswärtsreisen unter besonderen Vorzeichen. Das hört sich manchmal an, als ob der Opa vom Krieg erzählt, und Fans mit besonderes gutem Gedächtnis, die von jedem legendären Tor genau sagen können, wer es gegen wen an welchem Spieltag in welcher Spielminute erzielt hat, finden immer Zuhörende.
Das Besondere an meinem Dorf ist, dass wie in einem richtigen Dorf alle Altersklassen und Menschen aus ganz verschiedenen Schichten und Berufsleben vertreten sind, und dass niemand wegen seines Wohlstands oder der Bedeutung seines Jobs die Nase höher trägt. Denn da ist ja immer das verbindende Element: die glorreiche, wenn auch mitunter sehr launische Diva namens Fortuna.