Das Spiel der DFB-Auswahl gegen die Niederlande in Amsterdam war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Man muss beileibe kein Fan des Bierhoff-Konstrukts zu sein, um vom Kick der jungen Wilden in Schwarzweiß zumindest in der ersten Halbzeit berauscht gewesen zu sein. Da ändert sich gerade was – und zwar fundamental. Nun kennen wir inzwischen die Faktoren, die modernes Fußballspielen ausmachen, aber dass auch die Kommentatoren solcher Partien schon fast am Puls der Zeit schwafeln, kommt überraschend. Es scheint sich eine Trendwende anzubahnen: Sportreporter wälzen sich nicht mehr in Psychosülze, sondern dozieren Soccerology, die Wissenschaft vom getretenen Ball.

Tatsächlich hat diese Wissenschaft in den vergangenen knapp zehn, zwölf Jahre mehr Fortschritte erzielt als in den 30 Jahren davor. Allein die Möglichkeiten der Analyse von Spielen durch ausgefeilteste Statistiken und Videosequenzen aus Dutzenden Blickwinkeln haben für eine gigantische Woge an Fachliteratur gesorgt. Da sind viele altgediente Schreib- und Sprechpuppen einfach nicht mehr mitgekommen und haben dann abwertende Floskeln wie die vom „Laptop-Trainer“ erfunden. Dass die alten Helden der Coacherei da noch viel weniger mitkommen, hat Felix Magath neulich mit seinem skurrilen Auftritt im Aktuellen Sportstudio eindrucksvoll belegt. Wie es anders geht, beweist dagegen das Fortuna-Trainer-Trio in der laufenden Saison auf eindrucksvolle Weise.

Flexible Wendungen

Da gibt es mit Thomas Kleine einen, auf den das Etikett „Laptop-Trainer“ zwar nicht passt, der aber offene Augen und Ohren für die technische Unterstützung seiner Arbeit hat. Da gibt es mit Axel Bellinghausen einen, der mit dem Gros der Spieler auf Augenhöhe lebt und für den motivierenden Unterbau sorgt. Und dann ist da mit Friedhelm Funkel einer, der alle Schlachten als Spieler und Trainer geschlagen hat, aber im Kopf dermaßen jung und aufgeschlossen für Neues ist, dass er alle flexiblen Wendungen, die man heute in der Fußballtaktik kennt, versteht und geschickt anwendet wie wenige Kollegen in der Bundesliga.

Zurück zu RTL: Dort hat man mit den Rechten an den Spielen der Nationalmannschaft zwei Experten eingekauft. Während Jürgen Klinsmann wie immer den Grinsekasper gibt und alles toll und wunderbar findet (das krassest mögliche Gegengewicht zum ewig schlechtgelaunten Jens Lehmann), mimt Steffen Freund während der Partie den modernen Fußballtheoretiker. Das hört sich alles sehr sach- und fachkundig an, weil der gute Steffen den aktuellen Fachjargon mit Leichtigkeit jongliert, bei genauerem Hinhören wird aber deutlich, dass er sich vor allem ein Vokabelheft mit den eindrucksvollsten Formulierungen angelegt hat. Natürlich wird über 6er, 8er und 10er philosophiert, von 4er- auf 3er-Kette umgestellt, werden Räume zugestellt und Gegner angelaufen, dass es ein Pracht ist. Aber erklärt wird dem geneigten TV-Glotzer davon nichts. Der eigentliche Hauptkommentator schwelgt dagegen noch in Floskeln von breiten und gelösten Brüsten, vermeidet aber immerhin den allerschleimigsten Psychoschwurbel, der bis vor Kurzem noch en vogue war.

Neue Genussebene

Nun verachten viele Old-School-Fußballfreunde ja diese Soccerology als artfremd, und überhaupt sei es früher auch ohne sie gegangen. Auf diese Weise vermischen sie leider die Folgen der kapitalistischen Verwertungslogik, die das Spiel mit dem Ball zum Geschäft gemacht hat und nun konsequent und bis zum bitteren Ende verwursten wird, mit der Wissenschaft vom getretenen Ball. Denn es handelt sich um zwei getrennte Effekte. Die wissenschaftliche Betrachtung dieses Mannschaftssport eröffnet dem dazu bereiten Zuschauer eine weitere Genussebene. Tatsächlich ist die Entwicklung ähnlich wie beim American Football – dort hat die Trendwende von Ballarbeit zu Spielkunst jedoch rund 40, 50 früher eingesetzt. Heute erfreuen sich viele Zuschauer von NFL und College-Football immer noch an den körperlichen Erscheinungen, an harten Tacklings und irrwitzigen Läufen, aber die Gourmets dieser Sportart feiern eben taktische Finessen und fein einstudierte Spielzüge. Beides gehört dazu, und so wird es auch beim Fußball werden.

Weil diese Trendwende seit der EM 2016 galoppiert, sich die Dinge rasend schnell ändern, gibt es auch unschöne Effekte. Die Probleme der Schiedsrichterei zählen dazu. Denn die wichtigste Erscheinungen des modernen Soccer-Sports heißt Speed. Es ist ja nicht nur so, dass die Kicker sich erheblich schneller bewegen als die der vorhergegangenen Generation (Hallo, Hummels. Hallo, Boateng), durch die geradezu aberwitzig verbesserten technischen Fähigkeiten finden auch alle Bewegungen des Balls mit hoher Geschwindigkeit statt. Außerdem rennen nun alle Kicker schnell, und das führt dazu, dass schon leichte Berührungen durch einen Gegner zum Sturz führen. Und in diesem raschen Wirbel sollen die Schiedsrichter nun in Sekundenbruchteilen Entscheidungen fällen. Die Arbeit der Referees technisch zu unterstützen, ist – wieder analog zum American Football und anderen Ballmannschaftssportarten – vermutlich der richtige Weg … wenn Maßnahmen wie der Videobeweis richtig gemacht werden.

Und was das mit der Fortuna zu tun hat? Eine Auswirkung dieser neuen Soccerology ist es, dass jeder Trainer, der für die Erkenntnisse offen ist, mit Hilfe der modernen Methoden aus jedem Spieler das Optimum seiner Spielkraft und -kunst herausholen kann. Also genau das, was das F95-Coaching-Trio in der laufenden Saison so gut hinkriegt.

[Das Titelbild stammt vom Taktikr-Blog, einer Website, die ich allen, die sich für Soccerology interessieren, dringend empfehle.]

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