Bericht · Es gibt in Düsseldorf einen Ort, der sich dem Verstehen der Welt, der Vergebung von Sünden und der Verbindung von Menschen widmet. Insofern ist es eine Stätte, an der Bürger dieser Stadt und ihre Besucher gerade in diesen Zeiten Honig saugen, sich also ihrer Rolle in dieser unserer Zeit bewusst und gewiss werden können. Es ist gut, zu wissen, warum man, wie so viele heute, irritiert, unschlüssig oder ängstlich ist. Warum man eine Rolle spielt. Ob man sie übergestülpt bekam oder sie selbst annahm. Ob man tatsächlich relevant ist oder eben keine Rolle spielt. Ohne zu wissen, wie wir zu unseren Rollen, also zu unseren Verhaltensweisen in Beruf, Freundeskreis, Beziehungen und Familie gekommen sind, tappen wir im Dunkeln. Wenn dagegen bekannt gemacht wird, wie wir wurden, was wir sind, können wir glücklich sein. [Lesezeit ca. 4 min]
Bastian Fleermann kann sowas. Er ist jemand, dem man ohne Umschweife fünf Euro leihen oder ihn bitten würde, während des Urlaubs die Blumen zu gießen. Er ist außerdem ein wandelndes Archiv und ein begnadeter Netzwerker. Wer sich mit ihm unterhält, vergisst schnell, dass er mit dem Direktor der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf redet und ist von seiner Art gefangen, offenbar alles und jeden zu kennen. Kein Wunder, denn der Mann hat sein Haus zum einem viel besuchten Erinnerungsort für die jüngere deutsche Geschichte gemacht.Junge Düsseldorfer, Leute wie Norbert Czerwinski, Klaus Reuter, Annette Klinke oder Michael Hein wollten die Mahn- und Gedenkstätte Ende der 80er Jahre unbedingt in der Mühlenstraße haben, nachdem ganz in der Nähe, am ehemaligen Amts- und Landgericht, da wo heute das Andreasquartier logiert, von 1975 bis 1981 der dritte Majdanek-Prozess stattfand. Die damaligen Stadtväter, dicke Zigarre, gewölbtes Jackett, so die dazugehörige Anekdote, sagten den Initiatoren gönnerhaft ihre Gedenkstätte zu – in Form einer steinernen Stele. Heute wissen wir, dass sich die Jungen etwas anderes vorgestellt und 1987 auch bekommen hatten: Ein Haus für Ausstellungen, Forschung und Archiv, mit Publikationen und Führungen. Eine offene Gedenkstätte, kein Mausoleum, wie Fleermann sagt: „Man darf hier laut sein, auch lachen!“
Wichtigstes Alleinstellungsmerkmal und Basis für zeithistorische Forschung in Düsseldorf und andernorts sind gut 400 biographische Interviews mit Zeitzeugen, die Angela Genger, Fleermanns Vorgängerin und bis 2010 im Amt, als Audioaufnahmen angelegt hat. Ein ungeheurer Schatz, der heute komplett digitalisiert und damit vielseitig auswertbar vorliegt. Aus diesem Kompendium und in Verbindung mit weiteren Zeitdokumenten wie Fotos oder Schriftstücken sind viele Exponate der ständigen Ausstellung zustande gekommen. Angesichts Fleermanns verknüpfender Art und filmischem Blick ist leicht vorstellbar, welche: Er und seine 21 MitarbeiterInnen haben Räume gestaltet, die dem Besucher Geschichte über Alltagsthemen erschließen und näherbringen.
Nirgends erhobene Zeigefinger oder niederschmetternde Grausamkeiten, sondern im ganzen Haus Bezüge zu Gegenwartsthemen, die den Betrachter behutsam an damalige Wirklichkeiten heranführen und die Fratze des Gemeinen, Häßlichen, Grausamen und Menschenverachtenden nur durch kaum merkliche Brüche der Wahrnehmung sichtbar machen. Gleich der erste Ausstellungs-Raum lässt Düsseldorfer Kinder und Jugendliche aus der NS-Zeit davon sprechen, wie es war, als sie sich zum ersten Mal verliebten, wie sie Treue und Verrat erlebten, oder was ihre bevorzugten Sportarten und Spielplätze waren. Mitten in ihre Beschreibungen hinein aber wird dem Besucher klar, wo er sich befindet. Wie vergleichsweise einfach es heute ist, sich gegen Unrecht zu wehren. Und wie tödlich es unter dem Unrechts-Regime war.
Eine weitere ebenso irritierende wie entlarvende Bruchlinie stellt die Auswahl der 20 präsentierten Kinder und Jugendlichen dar. Jedes kommt aus einer anderen verfolgten Gruppe. Neben jungen Menschen jüdischen Glaubens sind Schicksale von Jungen und Mädchen aus katholischen und protestantischen Milieus, Zeugen Jehovas und vielen weiteren Bereichen dargestellt. Gefragt, welche Gruppe wohl nach den 2.584 jüdischen Opfern die zweitgrößte Anzahl von Toten in Düsseldorf zu beklagen hatte, lag der Autor falsch. Nicht homosexuell veranlagte oder diverse Menschen waren es, sondern Behinderte und psychisch Kranke. Da wurden einem die Knie nicht nur wegen dieser Auskunft weich, sondern auch, weil wir uns mit solchen Vergleichen konfrontieren lassen und beschäftigen müssen. Die Gesellschaft der Verfolgten, so Fleermann, ist bunt.
30.000 BesucherInnen pro Jahr, vornehmlich Schulklassen, Auszubildende und Studierende, kommen in normalen, nicht Pandemie-geschwächten Jahren, um sich ihrer geschichtlichen Herkunft und Rolle klar zu werden. Fleermann zufolge funktioniert das nicht durch Belehrung, sondern durch Inspiration: „Es geht hier nicht um Schuld, es geht um Verantwortung. Wir bieten Orientierung dafür, wie es zu Faschismus kommen kann. Und wir möchten die Besucher dafür stärken, sich für ihre Demokratie einzusetzen.“