Ich bewundere gelassene Menschen, also Leute, die nicht viel Aufhebens von sich und ihrem Leben machen, die meist cool bleiben und die Fünf auch mal gerade lassen können. Ich selbst bin nicht gelassen. Rege mich leicht auf und kann eigentlich nie irgendetwas so stehen lassen wie es ist. Gut, mit dem Alter ist es ein wenig besser geworden, aber immer noch leide ich an diversen Allergien, unter anderem gegen Dummheit, Ignoranz und Rücksichtslosigkeit. Natürlich habe ich mich schon oft gefragt, warum ich nicht so eine stoische Socke bin, die viele Dinge einfach ignoriert oder die Sinnlosigkeit des Aufregens erkannt hat. Zwei Faktoren dürften eine Rolle spielen. Erstens: Ich nehme viel, viel mehr von dem wahr, was um mich herum geschieht. Also wie Menschen sich verhalten, was sie tun. Für meinen Beruf als Schreiberling, sowohl im journalistischen, als auch im belletristischen Bereich ist das ein Vorteil. Zweitens: Ungefähr seitdem ich selbstständig denken kann, habe ich ein Wertesystem, das weitestgehend stabil geblieben ist. Meine Mutter sagte zum Beispiel immer zu mir: Ach, du bist ein Gerechtigkeitsfanatiker. Stimmt. Noch in der Schulzeit habe ich die humanistischen Ideale der Aufklärung angenommen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Grundwerte, die es im aktuellen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem nicht leicht machen, gelassen zu bleiben.

Denn in der Endphase des Kapitalismus wird täglich deutlicher, dass dieses System die Menschen unfrei macht, das Gegenteil von Gleichheit bewirkt und die Leute entsolidarisiert, also ihre Brüderlichkeit behindert. Weil aber fast jeder Insasse eines kapitalistisch verfassten Staatswesen diese Unfreiheit, Ungleichheit und Asozialität zumindest unterbewusst begreift, suchen die Menschen verzweifelt nach einem Sinn im Leben. Also auch nach Antworten auf ihre Fragen. Vor allem auf die Frage, wer oder was die Schuld daran trägt, dass die Welt momentan so fürchterlich ist. Und weil der Verstand sagen würde, ey, es ist der beschissene Kapitalismus, den abzuschaffen sich niemand traut, werden Lösungen im Irrationalen gesucht. Besonders gern im Esoterischen und Spirituellen. Oder die Leute suchen sich Nebenkriegsschauplätze, an denen sie sich ganz doll für eine Seite entscheiden können. Das ist dann der Ausgangspunkt für Hysterie.

Nehmen wir den Tierschutz. Auch wenn der Mensch im Sinne des Humanismus und in der Tradition der Aufklärung Krone der Schöpfung ist, so gibt ihm dieselbe Aufklärung auch die Verantwortung dafür, das Ökosystem Erde zu schützen, zu bewahren und zu erhalten, weil es für die Menschheit der ideale Lebensort ist. Tierschutz ist in diesem Sinne eine Frage der Ökologie. Und auf gar keinen Fall eine moralische Forderung. Der Humanist ist gegen den Missbrauch des Tiers, nicht aber Vegetarier. Die Fehlgeleiteten, die seit einigen Jahren etwas begründet haben, was sie Tierrechtsbewegung nennen, sind aber keine Humanisten, sondern bloß hysterisch oder spirituell angehaucht oder beides. Ausgangspunkt ist die irre Annahme, ein Tier habe dieselben Rechte wie der Mensch. Per Hysterie wird daraus auch das Recht auf ein glückliches Leben abgeleitet – was ja eigentlich voraussetzt, man wisse, ob und wann ein Tier „glücklich“ sei. Die Aufklärung aber lehrt uns, dass Glück ein menschlicher Zustand ist. Was sich aus dem ökologischen Auftrag ableitet, ist die Forderung, Tieren ein artgerechtes Leben zu ermöglichen. Mehr nicht.

Sich aber für den Tierrechtsfaschismus zu engagieren, ist lediglich der Ausdruck einer verzweifelten Sinnsuche. Denn dass in den reichen Ländern Tiere für die Nahrungsmittelproduktion gehalten und getötet werden, hat keine irgendwie moralischen Verfehlungen zur Ursache, sondern ist eine logische Folge des galoppierenden Kapitalismus, der ALLES zur Ware macht und immer nach Wachstum strebt – vor allem beim Konsum. Denn im postindustriellen Zeitalter ist Wachstum nur noch durch Konsum zu realisieren. Und weil Konsum nur durch das Anrühren der irrationalen Seite im Konsumenten zu steigern ist, werden Emotionen instrumentalisiert. Wer hysterisch an etwas glaubt oder etwas vertritt, der ist wehrlos, wenn an diese seine Seite appelliert wird – zum Beispiel in der Reklame oder grundsätzlich in den Medien. Hysterie ist da ein besonders guter Nährboden, weil sie das Opfer für Fakten unempfänglich macht. Wer hysterisch ist, meint und glaubt, aber weiß nicht.

Ein Element, um kurzzeitig Hysterie auszulösen und zu instrumentalisieren, ist der Hype. Dabei wird von interessierter Seite eine Tatsache, ein Ding, eine Sache, eine Ware, eine Marke oder eine Person mit den Mitteln der Propaganda über die eigentliche Relevanz hinaus erhöht. Weil der Hype ein hysterisches Mittel ist, arbeitet er mit Emotionen, mit Irrationalem jenseits aller objektiven Fakten. Jeder Hype wird, so er sich tatsächlich zum Hype auswächst, die Insassen seiner Zielgruppe zu Meinungen bringen, die nicht auf Wissen basieren, sondern auf Glauben. Gleichzeitig wirkt ein Hype als Medium der Selbstvergewisserung: Weil ich an den Hype glaube, bin ich Teil einer Gemeinde, die auch an den Hype glaubt, und Millionen Fliegen können nicht irren. Ein perfektes Feld für Hypes ist umweltgerechtes Verhalten. Wer entsprechend eines solchen Hypes etwas kauft, fühlt sich denjenigen moralisch überlegen, die es nicht kaufen.

Der Jungvater, der sich ein teures Fahrrad kauft, um dann einen sauteuren Anhänger für die Brut dazu anzuschaffen, um so am Wochenende gut sichtbar und natürlich behelmt durch den Park gondelt, sieht sich auf der richtigen Seite der Leute, die die Umwelt achten und ganz aktiv was dafür tun. Dass er selbst fünf Tage die Woche im Dienstwagen Sprit verbrennt wie blöde und auch schon mal eine Fernreise in der fliegenden Kerosinschleuder wählt, wird ausgeblendet. Apropos: Momentan herrscht ein Kinderkrieg-Hype. So schön es ist, dass jüngere Menschen so sehr an die Zukunft der Erde und der Menschheit glauben, dass sie in die aktuelle Situation Babys pflanzen, so irrational ist deren vorherrschendes Gefühl, besonders wertvolle Bürger zu sein und daraus Sonderrechte ableiten zu können. So ein neuer Erdenbürger hat ja – unter anderem Ex-und-Hopp-Windeln sei Dank – einen ökologischen Fußabdruck wie ein veritables SUV. Der Hype besteht darin, diese Seite der Medaille zu ignorieren.

Natürlich betrifft die Hysterie nicht nur Tierschützer und Neueltern. Auch fanatische Antifaschisten sind vorwiegend Hysteriker, Rassisten sowieso. Wer voll im Strom der Popkultur schwimmt, reitet eigentlich immer auf einem oder mehreren Hypes. Menschen, die ernsthaft an etwas Religiöses glauben, sind qua Definition hysterisch. Das gilt noch grundsätzlicher für Leute, die „auf etwas schwören“. Zum Beispiel Anhänger der Homöopathie oder gewisser andere Naturheilverfahren. Für alle gilt im real existierenden Gesellschaftssystem: Man kann aus allem eine Religion machen. Und: Glauben heißt nicht zu wissen.

Im Umkehrschluss bedeutet das alles nicht, dass gelassene Menschen durch und durch rationale Wesen sind. In den meisten Fällen sind solche Personen gelassen, die nie auf Sinnsuche waren oder nicht mehr und mehr oder weniger bewusst erkannt haben, dass sich die Symptome nicht ändern werden, solange die Krankheit namens Kapitalismus nicht ausgerottet worden ist. Bis dahin lohnt sich die Aufregung über Details ja eigentlich auch nicht.

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