Wollen wir mal nicht meckern: Die Jugend hatte es aber Mitte der Sechzigerjahre wirklich nicht leicht. Denn das Jugendzentrum war noch nicht erfunden, und der zugehörige Sozialarbeiter auch nicht. Tatsächlich war es anno 1967/68 nicht leicht, Plätze zu finden, an denen man als 14-, 15- oder 16-Jähriger abhängen konnte. In den Altstadtkneipen wurde noch recht streng der Schülerausweise gecheckt, und wenn man alt genug aussah, war das Mitführen eines Dokumentes mit gefälschtem Alter ein Muss. In die Gastwirtschaften außerhalb der Altstadt kamen wir in der Regel gar nicht. Ausnahmen bestätigen das: Der Wirt dieser winzigen Kaschemme am Münsterplatz hatte ein Erbarmen und ließ uns ein-, zweimal die Woche an den dortigen Flipper. Blieb uns Kinder aus Pempelfort eigentlich nur noch „der Mao“ – Betreiber der Pommesbude auf der Liebigstraße. Aber das ist eine andere Geschichte, die es demnächst zu erzählen gibt. Um den Jahreswechsel von 1966 auf 1967 waren wir eine siebenköpfige Bande Schulfreunde mit ähnlich gelagertem Blödsinn im Hirn, randvoll mit Kreativität und keinem Platz, diese auszuleben. Das musst sich ändern; deshalb gründeten wir einen Bibelklub.
Die Kreuzkirche am Dreieck
Einer von uns hatte einen kurzen Draht zur Kreuzkirchengemeinde am Dreieck. Die lag nahe unserer Schule, des Leibniz-Gymnasiums an der Jülicher bzw. Scharnhorststraße, von dort bezogen wir die evangelischen Pfarrer für den protestantischen Religionsunterricht. Einer von denen, Pastor Wullenkordt (der auch meinen Bruder konfirmierte), war ein berüchtigter Schläger. Ja, damals bekam man in der Schule noch Maulschellen oder Kopfnüsse. Beliebt auch bei einem Musik- und Englischlehrer namens Werner war das Werfen von Schlüsselbünden. Wullenkordt vergab Ohrfeigen. Nun hatten wir einen Mitschüler, der dank Ehrenrunden nicht nur ein wenig älter war als wir anderen, sondern ausgesprochen kräftig. Um nicht zu sagen: Athletisch wie ein Wrestler – seinen Namen habe ich leider vergessen. Als nun Pastor Wullenkordt einmal zu einer Kollektivstrafe ansetzte, bei der alle am Gang Sitzenden eine gescheuert bekommen sollte, weil die ganze Klasse Mist gebaut hatte, kam er auch bei unserem Riesenbaby an und holte aus: Da nahm der das Handgelenk des Geistlichen, hielt es fest und sagte mit ruhiger Stimme: „Sie werden mich nicht schlagen.“ Und er behielt Recht.
Überhaupt war die Nordstraße unser Kiez nach dem Unterricht und später auch in Freistunden. Lokal unseres Vertrauens war der Tschibo auf halber Höhe; einer der wenigen öffentlichen Orte, an denen wir einfach so sein durften, der zu Oberstufenzeiten noch eine wichtigere Rolle spielen sollte. Beliebt auch, sich in der Kaufhalle direkt am Dreieck rumzudrücken und – wie es hieß „Sachen zu klemmen“. Das galt als Mutprobe. Dito beim Woolworth gegenüber. Jedenfalls fand der besagte Kollege raus, dass man in den Räumen der Kreuzkirchengemeinde unterkommen könnte, wenn man nur irgendeine christliche Gruppe sei. Kontrollieren würde das niemand. Als gründeten wir irgendwann im Winter 1967 unseren Bibelklub, abgekürzt: BK. Und konnten nun zweimal in der Woche ab 16:00 in einem ziemlich angeranzten Raum tagen.
Frikadellen von der Kotlettbud
Eine andere legendäre Einrichtung am Dreieck war die Kotlettbud. Bis weit in die Siebzigerjahre hinein war das Grundstück an der Ecke Collenbach-/Münsterstraße zwischen dem Pelzgeschäft und der Eisdiele noch nicht bebaut, sondern wurde von drei Anbieter mit provisorischen Läden genutzt. Neben einem Obst- und Gemüsehändler war dies eben auch der winzige Wellblechschuppen, in dem Meisterinnen und Meister des heißen Fettes panierte Koteletts und selbst gemachte Frikadellen live in der Pfanne brieten. Zum Mitnehmen wurden die dann in graues Fleischerpapier eingewickelt, das gleichzeitig zum Entfetten diente. Weil die Schweineteile für unsere Taschengeldbudgets zu teuer waren, griffen wir ausschließlich zu den Bratklopsen, die sich durch einen hohen Brotanteil und einen unvergleichlichen Geschmack auszeichneten. Noch heute habe ich den manchmal im Bund und bin auf der Suche nach der idealen Frikadelle…
Und so roch es im BK-Raum eigentlich immer nach Frikadellenfett. Ansonsten brachten wir uns Getränke mit: üblich war die „mittlere Cola“ oder auch mal eine Sinalco. Eine der Freunde trank aber auch gern mal ein Bier, und natürlich rauchten wir auch alle. Denn auch dafür bot dieser Klub einen Freiraum. Wer unter sechzehn auf der Straße rauchend erwischt wurde, riskierte massiven Ärger mit den Eltern und der Schule. Und, ja, es wurde kontrolliert. Denn damals saßen Polizisten noch nicht wie virtuelle Cops in luftdichten Streifenwagen, um blicklos durch die Gegend zu kariolen, nein, der Wachtmeister patrouillierte allein oder als Streife mit einem Kollegen tagsüber und auch nachts durchs Viertel. Dieser Polizist war eine Respektsperson, aber niemand, den man hasste. Okay, das war schon nach dem Tod von Benno Ohnesorg in Berlin, aber wir hatten noch keine schlechten Erfahrungen mit der Ordnungsmacht gemacht. Wenn der Wachtmeister einen anhielt und etwas fragte, etwas bemängelte oder einen ungefragten Rat gab, stand man als Jugendlicher stramm.
Musik, Musik, Musik
Es ist eine Plattitüde, aber eine, die stimmt: Die (Beat)Musik war das wichtigste verbindende Element der Jugendlichen jener Jahre. Jede neue Single der Beatles, Stones, Beach Boys, BeeGees, Hollies oder Cream wurde ausführlichst diskutiert, und alles was gleichwertig: Komplexe Werke der Mothers, sexlastiger Kreisch von Led Zeppelin, Endlosbluesvariationen von Cream oder eben auch BeeGees-Schnulzen. Man kaufte, was man sich leisten konnte, und Singles wurden vorwiegend geklaut. Dabei gab es einen Ehrenkodex: Die kleinen Plattenläden in den Vierteln, die von engagierten und jugendfreundlichen Leuten betrieben wurden, waren fürs Klemmen tabu! Das galt für das Geschäft auf der Rethelstraße (gleich neben dem Bonbonladen) genauso wie für den staubigen Laden am oberen Ende der Moltkestraße, bei dem es immer die aktuellsten Scheiben gab.
Im Freundeskreis, etwas außerhalb unseres BK, gab es einen Typ aus sehr, sehr wohlhabendem Elternhaus – um es mal vorsichtig auszudrücken. Der bewohnte eine weitläufige Dachgeschosswohnung auf der Elisabethstraße, gleich am Graf-Adolf-Platz, gegenüber dem Schwanenspiegel. Ja, er bewohnte die Bude meistens allein, weil seine (geschiedenen) Eltern vorwiegend in der Weltgeschichte rumgurkten. Er bezog ein üppiges Taschengeld und hatte eine Haushälterin, die für ihn sorgte. Und eine Anlage! Ja, eine richtige Hifi-Anlage mit für damalige Verhältnisse bombastischen Boxen. Sowie IMMER die neuesten Alben von allen Künstlern und Gruppen, die angesagt waren. Wer sich gut mit ihm stellte, wurde zum Plattenhören eingeladen – bevorzugt aber lud er Mädchen ein… Wir aber in unserem Klubraum in der Kreuzkirchengemeinde, wir redeten hauptsächlich über die Musik. Ein Mitglied, ich glaube, es war Jörg, hatte sein rudimentäres Schlagzeug mitgebracht, sodass es manchmal Trommeleien gab. Dazu spielte Bernd, der ein wirkliches Musikertalent war und eine Zeitlang in Düsseldorf für sein Keyboardspiel weltberühmt war, Mundharmonika, während jemand anderes klampfte, denn irgendwer hatte immer eine Gitarre dabei.
Eines Tages brachte jemand einen ziemlich abgenudelten Kofferplattenspieler mit, der allerdings keine Langspielplatten verarbeiten konnte, und wir hörten nun regelmäßig die Neuheiten ab, was unseren musikalischen Horizont dramatisch erweiterte. Auch weil die Geschmäcker von uns sieben Jungs extrem unterschiedlich waren. Also saßen wir da, aßen unsere Frikadellen, tranken Cola, rauchten, hörten Musik und quatschten darüber.
Manchmal auch albern
Außerdem dachten wir uns jede Menge Sachen aus. Eine Zeitlang debattierten wir pantomimisch schwere Themen. Dann wieder trieben uns die Hormone zu allerlei „schmutzigen“ Phantasiegeschichten und Herrenwitzen. Manchmal waren wir auch bloß albern – wie Burschen zwischen 14 und 16 eben so sind. Und natürlich waren wir auch ein bisschen politisch, denn natürlich waren die Berichte über den Pariser Mai und die Vorfälle im Juni 1967 nicht spurlos an uns vorübergegangen. Ja, auch wir wollten Freiheit und ein anderes System als diese muffige Großkoalition mit einem Ex-Nazi als Bundeskanzler. Wobei unsere Vorlieben für eine Gesellschaftsform der Zukunft durchaus zwischen Vorstellungen eines Hippie-Staatswesens anarchischen Zuschnitts, einem vorgestellten Gerechtigkeitssozialismus und einem hedonistischen Wohlstandsstaat schwankten. Auf jeden Fall sollte es anders werden.
Vorher waren wir aber mit der real existierenden Bundesrepublik des Kurt-Georg Kiesinger konfrontiert, und das fanden wir scheiße. Als dann die Debatte um die Notstandsgesetze aufkam, die für uns nur „Nazi-Gesetze“ hießen, wollten wir was tun und beschlossen, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Das war damals so: Junge Menschen nahmen an, dass alle Leute jenseits der Dreißig von nix ne Ahnung hätten, dumpf vor sich hin leben täten und von den Herrschenden am Nasenring geführt würden. Die wollten wir also wachrütteln und machten Straßeninterviews. Das galt damals schon als eine Form linker Propaganda: „Sind sie für oder gegen die Notstandsgesetze?“ fragten wir Passanten am Dreieck und notierten die Antworten. Die wenigen Antworten, denn kaum jemand wollte mit uns sprechen.
Das unvermeidbare Ende
Übrigens: Ein paar Mal haben wir auch religiöse Themen diskutiert, ja sogar in der Bibel gelesen. Aber dabei war wenig Interessantes herausgekommen. Also ließen wir es sein. Der BK existierte auch kaum ein Jahr. Zum Beginn des Schuljahres 1968/69 hatte sich die Zahl der Mitglieder durch Umzüge, Sitzenbleiben und Desinteresse auf drei reduziert, und irgendwann ging Reiner zum Küster und gab die Auflösung des Bibelklubs bekannt, wodurch unser Raum an zwei Nachmittagen pro Woche frei wurde.