Da in diesen Zeiten blondierte Hohlfritten im Fernsehen kleine Mädchen penetrant danach fragen, woher sie „eigentlich“ kommen, hier ein Geständnis: Ich bin geborener Düsseldorfer mit pommerisch-ostpreußischem Migrationshintergrund. Meine Eltern hat es 1949/50 eher zufällig in die schönste Stadt am Rhein verschlagen, wobei mein Vater ausgesprochen integrationswillig auftrat. Weil Menschen aus dem deutschen Osten mangels Fernsehen in der Nazizeit der rheinische Karneval weitestgehend unbekannt war (außer, die haben mal was in der Wochenschau im Kino davon mitbekommen…), müssen meinen Erzeugern die winterlichen Bräuche der Eingeborenen höchst skurril vorgekommen sein – zumal sie null katholischen Background hatten. Während mein Vater begeistert vom Karneval war, blieb meine Mutter eher skeptisch.
Die Fünfziger: Mit lustigen Hütchen zum Zoch
Nun hatte mein bereits 1967 im Alter von nur 43 Jahren verstorbene Vati das riesige Glück in einem Unternehmen zu landen, das mit einem karnevalistischen Intensivtäter ausgestattet war: Erich Paefgen, der Prinz Karneval von 1951, leitete zusammen mit seinem (völlig anders gestrickten) Bruder Rudolf die Hirschbrauerei an der Tussmannstraße, wo man das leckere Düssel Alt braute. So war er in Nullkommanix infiziert und steckte weite Teile der Verwandtschaft, von der ein paar Onkeln und Tanten ebenfalls in Düsseldorf gelandet waren, an. Die Liebe zum Winterbrauchtum ging aber nicht so weit, dass er einem Verein beitrat oder gar die tollen Tage vollkostümiert durchfeierte. Aber zur Prinzenkürung ließ er sich dann doch gern einladen, um mit den großen Jungs (und ihren Damen) ein bisschen gepflegt Party zu machen. Für die Familie war aber der Rosenmontag ein wichtiger Feiertag. Natürlich hatten die Angestellten der Hirschbrauerei an diesem Tag frei – was in den Fünfzigerjahren noch lange nicht für alle Firmen galt. Wir gingen im Verbund mit den erwähnten Verwandten in Person von Tante Thea und Onkel Walter sowie Nachbarn und Bekannten selbstverständlich zum Zoch.Entweder wir suchten uns gute Plätze am Ehrenhof oder am Grabbeplatz (wo man schöne erhöhte Stehmöglichkeiten in den Nischen des Gerichtsgebäudes vorfand) oder aber am Hotel Eden, an der Ecke der Aders- und der Hüttenstraße, wo die gerade fertiggestellte Berliner Allee begann. Hinterher fand man sich in einer der Wohnungen der beteiligten Familien zusammen, um Berliner zu essen. Die Männer griffen anschließend zu den Bierpullen, während die Damen verschiedene Liköre konsumierten. Um Stümmung zu erzeugen, war das Wohnzimmer mit Luftschlangen dekoriert. Natürlich trugen die Erwachsenen draußen lustige Hütchen, und für die Herren waren Papierchrysanthemen im Mantelknopfloch Pflicht.
Und wir Pänz? Für uns war ab Samstagmorgen bis Montagabend Kinderkarneval. Was konkret hieß, dass sämtliche Kinder den ganzen Tag im Kostüm auf der Straße verbrachten, um allerlei Unfug anzustellen. Am liebsten gingen wir Jungs als Cowboys. Auch wenn Karstadt und Kaufhof auch damals schon Kostümabteilungen in der närrischen Zeit einrichteten, war das meiste selbstgemacht. Der handwerklich begabte Onkel Walter schneiderte uns aus einem kunstlederähnlichen Material merkwürdige Gürtel und Stulpen – angeblich sahen so die Cowboys in Western aus. Die Hüte waren aus sehr dünnem, billigem Filz und hielten selten länger als eine Session. Nur bei den Waffen achtete man auf Qualität. Zunächst gab es Revolver aus Bakelit, mit denen man auf gerollten Papierstreifen angebrachte Knallplätzchen verschoss. Später war der Sprengstoff auf Ringen angebracht, die genau auf die Revolvertrommel passten – die waren lauter.Mädchen gingen gern als Indianerinnen, als Hula-Girls oder als Funkenmariechen; nur die emanzipierten Jungdamen verkleideten sich als Cowgirls. Das war’s dann aber auch schon mit Karneval. Es sei denn, Vati schloss sich den Paefgens zum traditionellen Fischessen am Aschermittwoch an.
Die Sechziger: Sexuelle Belästigungen auf der Kö und in der Altstadt
Mein Bruder ist vier Jahre älter als ich und durfte folglich etwa ab Karneval 1965 ohne elterliche Begleitung in die Altstadt. Auch wenn mich ein, zwei Jahre später sein Freundeskreis gelegentlich zu Partys mitnahm, war dergleichen für mich als Zwölfjähriger noch völlig tabu. Was er aber berichtete, auch vom Kö-Treiben am Sonntag, hörte sich für mich nach Freiheit und Abenteuer, ja, nach Anarchie an. Natürlich war ich neidisch und boykottierte aus lauter Trotz den üblichen, langweiligen Familienkarneval. Unter Schulfreunden meines Alters wurde gemunkelt, man können zu Karneval in der Altstadt problemlos gleichaltrige Mädels anmachen, die zu allem (gemeint war damit unschuldiges Fummeln und Knutschen) bereit seien. Nur vor der Altstadt-Kirmes, da warnten wir uns gegenseitig, denn die war ein brandgefährlicher Ort.Tatsächlich waren es die berüchtigten Motorrad-Rocker aus Düsseldorf und Neuss, die sich den Rummel auf dem Unteren Rheinwerft als Austragungsort für ihre rituellen Scharmützel auserkoren haben. Massenschlägereien mit hundert und mehr Beteiligten gab es alljährlich. Sogar Tote soll es bei Messerstechereien an der Raupe oder einem Autoscooter gegeben haben. Randalemeile der Jahre zwischen etwa 1964 und 1970 war die Ratinger Straße mit ihren altehrwürdigen Spießerkneipen, in die schlagende Banden gern eindrangen, um sich den Arsch vollzusaufen und anschließend die Zeche zu prellen.
Merkwürdig waren vor allem die Karnevalstage der Jahre 1968 und 1969. Wir Oberschüler waren durchaus schon politisiert, wussten gut Bescheid über die Linken Studenten in Berlin und Frankfurt und fühlten uns ihnen irgendwie verbunden. Dabei waren wir vor allem gegen das immer noch herrschende Spießertum, also gegen alles, was uns elterlich, von Seiten der Lehrer und der Gesetze verboten war. Karneval war aus unserer Sicht einerseits voll spießig, und wer „Mainz wie es singt und lacht“ geguckt hatte, war sowas von out, andererseits erkannten wir vor allem die Altstadt als befreite Zone und Kurzzeitparadies der Anarchie.
Wie gesagt: Mädchen seien leicht zu haben, hieß es. Und natürlich waren wir so drauf, dass wir bei begehrten Objekten immer gleich dachten: Die will es doch auch. Gefragt wurde eher weniger, und wer sich nicht wirklich vehement wehrte, wurde eben begrabscht und zum Knutschen gezwungen. Was sich besonders in der Nacht von Sonntag auf den Rosenmontag gegen Ende der Sechzigerjahre zwischen Kö und Rheinufer abspielte, würde heute als Amoklauf testosterongetriebener Jungmänner auf Kosten von jungen Frauen gewertet werden. Tatsächlich verlagerte sich unsere Art, die tollen Tage zu verbringen, ab etwa 1969 immer mehr in die Altstadtkneipen.
Man war gut beraten, die Gastwirtschaft des Vertrauens am Sonntag und Rosenmontag recht frühzeitig anzusteuern, um sich einen Platz zu sichern – am besten in der Nähe der Klos. Kneipen wie Pille und Pinte, Weißer Bär oder Auberge waren an diesen Tagen jenseits aller feuerpolizeilicher Vorschriften so vollgestopft, dass Kellner überflüssig waren: Tabletts voller Altbiergläser wurden einfach durchgereicht; man bediente sich und warf eine meist angemessene Summe auf das Tablett. Und irgendwer fand sich immer, der den Zapfkräften hinter der Theke mal einen Zwanni oder mehr rüberreichte, damit die Getränkekosten irgendwie gedeckt waren. Am Rosenmontag 1971 betrat ich gegen halb elf vormittags die Pinte an der Liefergasse und fand einen Sitzplatz mit dem Rücken zum Fenster etwa anderthalb Meter vom Klo entfernt. Mein Versuch, das Etablissement gegen fünfzehn Uhr zu verlassen, scheiterte mangels Durchkommens. Erst gegen zehn Uhr abends gelang es mir, mich durch den mit Menschen vollgestopften Schlauch bis zum Ausgang durchzukämpfen.