Die Hildebrandtstraße lag voll in der Mittagssonne. Kein Schatten, nicht einmal an den Hauswänden, die im Gegenteil Hitze abstrahlten wie Muttis Bügeleisen, wenn sie es senkrecht auf die Ablage des Bügelbrettes stellte. Rasch in die Einfahrt zum Bierverlag Treukens. An der Tür klopfen und gleich die Klinke drücken. Reingehn in die Kühle. Da saß Dieter in langen Hosen und im Pullover. Siggi war von der Kälte benommen und setzte sich rasch auf einen Stapel leerer Bierkästen. „Na, Kleiner?“ – „Tach, Dieter.“ – „Willste ne Sinalco? Cola kriegste nicht, hab ich deiner Mutter versprochen.“ – „Gerne.“ Dieter suchte in dem Kasten herum. „Sollst ja keine ganz kalte trinken. Kriegste Läuse im Bauch von.“ Fand eine Flasche, deren Temperatur ihm richtig vorkam. Sprengte den Kronkorken an einer Strebe des Metallregals ab. Die Kohlensäure drückte ein bißchen süße Limo aus der Flasche. Es spritzte auf den Boden, der von den Bierresten aus den leeren Fässern im Regal ganz klebrig war. Der Geruch von schalem Bier war stark. Aber Siggi nahm auch den Duft der Holzfässer wahr, in denen die Essenzen von Hopfen und Malz hingen. Er trank die Sinalco-Flasche in einem Zug aus.
„Noch eine?“ fragte Dieter und reichte ihm gleich eine zweite, schon vorsorglich geöffnete Flasche. „Und? Was gibts?“ – „Du, Dieter, ich wollt dich mal was wegen dem Neger fragen.“ – „Wieso fragst du mich?“ – „Na ja, weil Micha gesagt hat, du hast Renate erzählt, du hättest einen Neger als Freund gehabt in Amerika.“ – „Stimmt. Und?“ – „Also kennst du dich doch mit Negern aus, oder?“ „Ja, ich denke schon. Aber man sagt nicht Neger, man sagt Farbige. Verstanden?“ Siggi nickte. „Weißt du, Dieter, der Vater von Ebse hat gesagt, der Frabige mit dem Schrotthandel muß weg.“ – „Und wieso meint Eberhards Vater, dass der Farbige weg muß?“ Siggi überlegte, ob er vielleicht mit dem nächsten Satz ein Geheimnis verraten würde. Zögerte. „Weil: Ebses Vater sagt, der Neger hat einen Mädchenhandel. Dieter lachte: „Einen was?“ – „Mädchenhandel. Weiß auch nicht.“ Und schämte sich jetzt doch, davon gesprochen zu haben.
„Ebses Vater sagt auch, dass der Neger ein Verbrecher ist wie alle Neger und das die Neger nach Afrika gehören. So wie die Schlitzaugen nach China, die feigen Itaker nach Italien und der Iwan nach Russland. Und die blöden Bayern hinter die Alpen, sagt er auch noch.“ – „Erstens leben Farbige nicht nur in Afrika, sondern überall auf der Welt. Und zweitens heißt unser Schrotthändler Willi Scholten, ist nur zur Hälfte Farbiger, hier in Düsseldorf geboren und hat seinen Schrotthof schon vor dem Krieg gehabt. Ich kannte den schon als Kind. Da hat er seinen Schrott noch mit einem Handwagen vom Karolinger Platz bis zur Corneliusstraße geschoben.“ Siggi war unsicher. Wenn der nur ein halber Neger ist, ist er dann nur ein Halbverbrecher? Dieter war aufgestanden.
„Alles Quatsch, was der Vater von Eberhard, der komische Herr Lütges, da erzählt. Dunkelhäutige sind genauso viel und genauso wenig Verbrecher wie wir Weißen. Vielleicht sogar eher weniger, wenn ich daran denken, was Lütges vor dem Krieg so alles gemacht hat. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören! Kapiert?“ – „Ja, Dieter.“ Siggi schwieg. Trank den Rest Limo. „Dieter. Ich muß dir was verraten. Das mit dem Lieferwagen von dem Schrotthändler, das waren wir. Ich meine: Horsti, Ebse und ich.“ – „Was meinst du: Das mit dem Wagen?“ – „Im April war doch die Polizei bei dem Neger, ich meine: bei Herrn Scholten. Weißt du doch, oder?“ – „Ja, haben ja alle von gesprochen.“ – „Hinterher hat Herr Lütges behauptet, das wäre ne Hausdurchsuchung gewesen. Wegen geklauter Sachen und so.“ – „Haben auch die anderen Leute gesagt.“ – „Der Farbige hatte aber die Polizei gerufen, weil er ne Anzeige aufgeben wollte.“ – „Wieso? Wen wollte er anzeigen und warum?“ – „Einbrecher. Sein Lieferwagen war aufgebrochen worden.“
„Und?“ – „Das waren wir.“ Pause. Siggi spürte etwas Saures die Speiseröhre hochkriechen. „Was ward ihr? Habt ihr den Wagen aufgebrochen?“ Siggi nickte schwach. Dieter wand sich ab und stierte auf das Fassregal. „Und warum habt ihr das gemacht?“ – „Na, weil Ebses Vater doch gesagt hatte, dass der Neger, der Farbige, also der Herr Scholten ein Verbrecher ist. Und wir hatten doch einen Detektivklub gegründet. Und wir wollten Beweise finden und der Polizei Bescheid sagen, dass der Neger, äh, Farbige ein Verbrecher und Klauer ist.“ – „Was genau habt ihr angestellt?“ – „Der Neger, ich meine: der Schrotthändler der macht doch immer um zwölf Mittagspause. Genau um zwölf. Wir hatten Osterferien. Und da sind wir um zwölf auf seinen Hof. Dann haben wir in der Bude, wo der Herr Scholten sein Büro hat, durchs Fenster geguckt. Da lag der Neger und hat geschlafen. Und geschnarcht. Da stand sein Torpedo-Dreirad. Weißt ja, dass man die Türen mit nem Schraubenzieher aufkriegt. Wir haben die Beifahrertür aufgebrochen. Und innen drin alles durchwühlt. Da war ganz viel Papierkram. Im Handschuhfach, auf dem Beifahrersitz. Das haben wir alles fein säuberlich in Fetzen gerissen. Dann hat der Ebse mit dem Schraubenzieher die Sitze aufgeschlitzt und mit dem Griff von dem Schraubenzieher das Glas am Tacho eingeschlagen. Und da hat er auch die Fahrertür von innen aufgemacht, ist rausgeklettert und hat in das Fahrerhaus gepinkelt. Und das haben wir beiden auch gemacht. Und dann sind wir abgehauen.“
Dieter war aufgestanden. „Und wer weiß noch davon?“ – „Niemand. Nur wir drei und du.“ – „Ihr geht noch heute zur Polizei und meldet das.“ Siggi hatte angefangen zu weinen. Die Limo kollerte in seinem Bauch und ihm wurde schlecht. „Und falls ihr das nicht tut, werde ich mit Herrn Scholten reden und ihm die Sache erzählen. Was wollt ihr lieber?“ Aber Siggi antwortete nicht. „Komm, hau ab. So einem Blödmann geb ich so schnell keine Sinalco mehr aus. Mit deiner Mutter red ich auf jeden Fall.“ Dieter hatte Siggi an den Hosenträgern hochgezerrt, mit der einen Hand die Tür geöffnet und den Jungen mit der anderen Hand in den kleinen Hof geschoben. Siggi wollte losrennen, aber seine Beine waren schwach. Mühsam und schwankend stolperte er durch die Einfahrt. Als er aus dem Schatten in das heiße Sonnenlicht trat, kamen ihm die zwei Flaschen Limonade hoch, und er kotzte die Flüssigkeit und auch das Frühstück mitten auf den Gehweg.
Abends hatte Siggi dann alles seinem Vater gebeichtet. Dafür bezog er eine ziemlich derbe Tracht Prügel; Horsti fing sich ebenfalls eine Menge Ohrfeigen vom Lebensgefährten seiner Mutter ein. Nur Ebse wurde daheim nicht bestraft. Siggis Vater besuchte die Eltern der beiden anderen und schlug vor, Herrn Scholten den Schaden zu bezahlen und ihm klarzumachen, daß ein paar Rotzbengel sich nur einen dummen Scherz erlaubt hätten. Herr Lütges war erst bereit, dreißig Mark beizusteuern, als Siggis Vater drohte, die Polizei einzuschalten. Siggis Vater erzählte ihm ein paar Jahre später, daß Herr Scholten gelacht habe. Dann habe er gesagt, dass alles nicht so schlimm sei, und dass er die Polizei nur wegen der Versicherung gerufen habe. Die Papiere seine sowieso unwichtig gewesen und neue Sitzbezüge hätte sein Torpedo damals grad gut vertragen können. Siggis Vater hatte den Schrotthändler dann noch auf ein Bier ins Café Friedchen einladen wollen, aber der habe abgelehnt. In Kneipen fühle ich mich nicht wohl, habe er gesagt, da werde ich angestarrt und wenn ich zurückstarre, kriegen die Leute Angst.