[Der folgende Text ist ein Beitrag von Martin Keulertz. Der gebürtige Bilker arbeitet zu den Themen Wasser, Energie, Land, Nexus und Ernährungssicherung. Er lehrt und forscht derzeit an der Amerikanischen Universität in Beirut.] Ich war letztens mal wieder beim REWE auf der Himmelgeister Straße. Mich beeindruckt dieser Supermarkt, da er in den letzten Jahren stark gewachsen ist und sein Angebot immer mehr verfeinert hat. Man bekommt mittlerweile Sushi in Restaurantqualität; das Steak stand vor ein paar Wochen noch in Argentinien auf der Weide, und selbst jedes noch so ausgefallene Gewürz der asiatischen Küche ist irgendwo zu finden. Aber ich gehe auch immer nachdenklich aus dem REWE heraus. Klar, ich finde es gut, dass man die Plastiktüten gestrichen hat. Nur habe ich das Gefühl, dass es in anderen Bereichen immer mehr mit dem Plastik wird. Basilikum, Koriander, Tomaten und selbst der Salat sind in Plastik eingewickelt. Man muss mittlerweile oft zwei Tüten nehmen, um das ganze Plastik noch hineinzukriegen. Viele regen sich darüber auf. Manche verzichten auf Fleisch oder nehmen ihre eigenen Tupperdosen mit, um Plastik zu vermeiden.

Wenn ich diese aufgeklärten Kunden sehe, freue ich mich. Aber irgendwo ist mir das alles auch zu kurz gedacht. Es darf nicht sein, dass die Konsumenten sich mittlerweile (oft online) angehen, wie man ein „besserer“ Konsument wird. Es gibt nämlich dabei kein besser oder schlechter. Es gibt kein gutes Leben im falschen (System), wie Theodor Adorno uns schon vor 70 Jahren versucht hat zu erklären.

Wie wir geworden sind was wir sind

Vor mehr als 30 Jahren hat die kanadische Soziologin Harriet Friedmann der Welt ein Narrativ gegeben, um zu verstehen wie wir geworden sind, was wir sind. Sie hat die Systemfrage gestellt, um zu verstehen was seit 1870 in unseren Ernährungssystemen passiert ist, damit ein Bilker Supermarkt heute Produkte aus aller Welt anbieten kann. Friedmann (zusammen mit ihrem Kollegen McMichael) hat bislang drei „Food Regimes“ ausgemacht. Das erste Food Regime fand zwischen 1870 und 1914 statt als die europäischen Kolonialmächte aus ihren Kolonien z.B. Zucker, Kaffee, Kakao, Gewürze, Seide, Baumwolle, Tabak oder Tee nach Europa exportierten. In diese Zeit fallen die Gründungen noch immer bekannter Unternehmen wie u.a. Sarotti, Lipton, Teekanne usw. Dieses koloniale Regime lebte von der Ausbeutung der Kolonien, jedoch führte es auch zu einer wahren Welle neuer Produkte für den europäischen Konsumenten. Was anfangs in Kolonialwarenläden für gut betuchte Kunden angeboten wurde, wurde immer mehr zur Normalität. Die Wirren des ersten Weltkriegs und die Zeit zwischen den Kriegen und dem zweiten Weltkrieg ließen diese Regimes in den Hintergrund treten.

Nach dem zweiten Weltkrieg entstand das zweite „Food Regime“, diesmal angeführt von den Amerikanern und ihrem technischen Vorsprung. Als Vater des zweiten Regimes kann Norman Borlaug bezeichnet werden, der in Mexiko unter anderem an neuen Weizenvarianten forschte, die deutlich ertragreicher als die Vorgängervarianten waren. Durch seine Forschungen konnte die Weizenernte in Indien in den Sechzigerjahren um fast das Dreifache gesteigert werden. Die CIA wusste den Wert dieser Forschungen schnell zu erkennen und rief die sogenannte „grüne Revolution“ aus, um die Welt zu ernähren und gleichzeitig die „rote Revolution“ zurückzudrängen.

Nahrungsmittel wurden auf diese Weise politisiert, und da die Sowjets in diesem Bereich nicht mithalten konnten und selbst zu wenig produzierten, wurde die grüne Revolution zu einem Welterfolg. Immer mehr Länder konnten sich nicht mehr selbst ernähren und mussten importieren. Produziert wurde vor allen Dingen von Amerikas Farmern im Mittleren Westen, die ganz nebenbei auch vom späteren Friedensnobelpreisträger Borlaug massiv profitierten. Uncle Sam stand bereit und wollte lediglich politische Treue dafür. Ein Beispiel ist Ägypten unter Nasser in den Sechzigerjahren. Nasser wollte zwischen den beiden Lagern (den Amis und den Sowjets) unabhängig hin- und herschwingen. Das Bevölkerungswachstum und Ägyptens limitierte Ressourcen machten dies jedoch unmöglich. Uncle Sam brauchte Ägypten in seinem Lager, da Ägypten über den Suezkanal wacht, der einer Hauptschlagadern für den weltweiten Handel, insbesondere für Öl nach Europa war und ist. Die Amerikaner akzeptierten für ihre Weizenlieferungen sogar das damals nicht an Märkten gehandelte ägyptische Pfund, was somit völlig wertlos für die Amis war. Für das Pfund gab es Weizen und damit Ernährungssicherung für Ägypten. Im Gegenzug sind die Ägypter seitdem ein enger Partner des sogenannten Westens.

Oil For Food by Dr. Eckart Woertz with Robin Stienberg, National Critics Choice

 

Kritiker der grünen Revolution merken an, dass Borlaugs Innovationen lediglich machbar waren, da immer mehr Land in Agrarflächen umgewandelt und immer mehr Wasser durch die Bewässerungslandwirtschaft zum Zwecke der Lebensmittelerzeugung mobilisiert wurde. Daher ächzen Länder wie Indien heute unter großen Wasserproblemen, die jedoch lokal sind, da Wasser eine rein lokale Ressource ist.

Die OPEC-Krise in den Siebzigerjahren ließ dann das zweite Food Regime zerfallen. Dank eines arabischen Ölboykotts wurde die Lebensmittelproduktion teurer und die Weltagrarpreise gerieten völlig aus dem Ruder. Dies war vor allen Dingen ein großes Problem für die kommunistischen Volkswirtschaften, die schlicht nicht genug produzierten. Trotz mehrfacher Drohungen aus Washington die renitenten Araber mit Lebensmittelboykotten zu belegen, fand dies nie statt. Jedoch wurden die Sowjets von Jimmy Carter mit einem Boykott belegt als sie 1980 in Afghanistan einmarschierten. Aufgrund des US-Boykotts litten vor allen Dingen amerikanische Kleinbauern von denen Tausende ihr „Business“ schließen mussten, da sie in der Folge völlig überschuldet waren und durch das Export-Embargo zu wenig Nachfrage hatten. Deshalb ist im Mittleren Westen der Name Jimmy Carter noch heute gleichbedeutend mit einem Schimpfwort.

Ronald Reagan beendete 1981 das Embargo sehr schnell nachdem er drei Monate im Amt war, jedoch waren da schon viele Bauern pleite. Gleichzeitig begann er mit einer Serie von Doktrinen, die den Kommunismus in die Knie zwingen sollten. Eine der Doktrinen betraf den Agrarhandel, indem er Exportsubventionen einführte, die Agrarfläche in den USA reduzierte, Lebensmittelmarken für die Armen in den USA ausweitete und die Landwirtschaft liberalisierte. Vor allen Dingen wurden dadurch die Betriebe größer und die Produktion kommerzialisierter und billiger. Dies gilt als der Beginn für das dritte Food Regime.

Das dritte Regime wird auch als das „Corporate Food Regime“ oder das völlig kommerzialisierte Ernährungssystem bezeichnet. Dieses Regime floriert seit den 80ern durch integrierte, grenzüberschreitende Liefer- und Wertschöpfungsketten. Gleichzeitig war es der Auftakt für den völligen Siegeszug der Supermärkte, die durch hoch komplexe Prozesse immer mehr, ein immer besseres und ein immer oft günstigeres Angebot an Lebensmitteln unser Ernährungssystem beherrschen.

Und nun?

Wir wissen alle, dass wir uns in einer gigantischen Umweltkrise befinden. Leider wird sie oft nur mit dem Klimawandel erklärt. Das ist zu kurz gedacht. Die Artenvielfalt ist in den vergangenen vierzig Jahren um vierzig Prozent zurückgegangen. Die Grundwasserressourcen sind zum Teil bedrohlich gesunken. Wir ersticken am Plastikmüll. Wir nutzen viel zu viel Phosphor und Stickstoff in der Landwirtschaft, und zudem ist die Fläche an Agrarland, die benötigt wird, um unser derzeitiges Ernährungssystem aufrechtzuerhalten, nicht nachhaltig. Ganz nebenbei verarmt die Landbevölkerung fast überall auf der Welt, da Lebensmittel im derzeitigen Regime kaum einen Wert haben (und deshalb auch so oft verschwendet werden).

Am Potsdamer Institut für Klimaforschung ist seit letztem Jahr der Schwede Johan Rockström Ko-Direktor. Rockström arbeitet seit über zehn Jahren an den planetaren Belastungsgrenzen. Mit anderen Worten schaut er sich an, wie viel unser Planet noch verträgt. Anfang diesen Jahres hat er mit über dreißig führenden Wissenschaftlern die Ergebnisse der EAT-Lancet Kommission veröffentlicht. Diese Kommission hat untersucht wie sich die planetaren Belastungsgrenzen verschieben, wenn wir unser Verhalten nicht radikal ändern bis 2050, wenn dann zwischen 9 und 9,4 Milliarden Menschen auf der Welt leben.

Herausgekommen ist ein bemerkenswerter Bericht, der alles hinterfragt, was wir derzeit erleben dürfen. Wenn wir unser Ernährungssystem nicht radikal ändern, werden wir 2050 alle planetaren Belastungsgrenzen (bis auf das Wasser) überschreiten. Wasser ist ausreichend vorhanden, allerdings ist auch dies nur bedingt eine gute Nachricht, da die Studie eine globale Ausrichtung hatte. Natürlich hat z.B. Nordasien gigantische Mengen Wasser zur Verfügung, die noch nicht angetastet worden sind. Nur hilft dies dem Flussanrainer am Nil oder dem Bauern in Indien oder am Mittelmeer sehr wenig, da dort das Wasser immer mehr zur Neige geht.

Die Zukunft?

Wir stehen also vor einem neuen Zeitalter und zwangsläufig vor einem neuen Food Regime. Es könnte schneller geht als viele glauben. Amerikanische Bauern haben einen Schuldenberg von mehr als 400 Milliarde US-Dollar angehäuft, was vergleichbar ist mit der Situation in den Achtzigerjahren. Die Gründe dafür sind verschwindend geringe Preise, der Handelskrieg mit China, aber auch zunehmend klimatische Veränderungen, die zu Produktionsschwankungen führen. Selbst wenn nur zehn Prozent der Betriebe pleitegehen würden, hätte dies massive Auswirkungen auf den Weltmarkt, denn Amerika ist nach wie vor König. Südamerika als Prinz im Weltagrarhandel wird dies allein nicht auffangen können, und die künstliche Intelligenz ist zumindest derzeit noch nicht soweit, um zu übernehmen. Wenn jedoch der Weltmarkt hakt, dann trifft dies vor allen Dingen die Lebensmittelkonzerne, sei es im Handel, in der Veredlung oder im Verkauf. Und natürlich auch auf Millionen von Menschen, die nach wie vor hungern. Was in Ländern passiert, wenn die Agrarpreise schwanken, zeigt diese Grafik:

 

Wir haben die Wahl

Dies bedeutet auch, dass wir die Wahl haben, was für ein Ernährungssystem wir wollen. Wollen wir weiter auch um 23:45 an einem Samstagabend in Bilk noch schnell eine Packung Sushi im Supermarkt kaufen oder aus zehn verschiedenen Steakvarianten auswählen können, dann gehen Natur, Gesundheit und am Ende unsere Zivilisation vor die Hunde. Oder wollen wir hin zu einem anderen Ernährungssystem, das im Einklang mit der Natur wirtschaftet? Diese Frage muss das kommende Jahrzehnt definieren, denn sonst wird es zu spät sein, um der Umweltkrise Einhalt zu gebieten. Am Ende kann so der REWE auf der Himmelgeister Straße ein Stück Zeitgeschichte ähnlich dem DDR-Broiler werden, der uns an ein Zeitalter erinnern würde, in dem die Welt die Grenzen des Planeten überschritt.

3 Kommentare

  1. Konfuzius:

    „Der Mann, der den Berg abtrug, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen.“

    Darum laßt uns -so oft es geht- viele Steine wegtragen!

  2. Ich gehe nur mal auf einen Teilaspekt ein:
    „Daher ächzen Länder wie Indien heute unter großen Wasserproblemen, die jedoch lokal sind, da Wasser eine rein lokale Ressource ist.“
    Wie bitte? Na, so lokal ist die Ressource Wasser eben nicht. Das Beispiel Ägypten ist doch ein eindringliches Gegenbeispiel. Wird dem Abfluss des Blauen Nils im Hochland von Äthiopien der Hahn zugedreht oder Wasser zur weiteren Bewässerung entnommen, droht Ägypten eine weitere Verschärfung der Problematik der Wasserversorgung.

  3. B. Lockwart am

    Möchte Jürgen da voll zustimmen.
    Es mögen lokale Kriege sein, aber Kriege um Wasser gibt es und wird es noch viel mehr geben. Israel, Syrien sind da nur die ersten Vorboten.