Wer schon länger in Düsseldorf lebt oder hier vor dem Beginn der Achtzigerjahre geboren ist, wird sich erinnern. Besonders natürlich die Jungs, die der Aufforderung der Bundeswehr folgten sich mustern zu lassen. Denn dann fuhren die Kerle mit mehr oder weniger gemischten Gefühlen Richtung Mörsenbroicher Ei und weiter, weil dort das Kreiswehrersatzamt zu finden war. Links und rechts des eigentlich friedlichen Mörsenbroicher Wegs lag militärisches Sperrgebiet, südlich in Gestalt der Reitzenstein-Kaserne. Wie damals üblich, erblühten die Gebäude hinter starken Gittern in furchteinflößendem Feldgrau. Und während linkerhand noch heute Institutionen des Bundes hausen, hat man aus dem ehemaligen Kasernengelände ein Neubaugebiet gemacht – und sie nennen es „Gartenstadt Reitzenstein“.
Düsseldorf wächst bekanntlich seit einigen Jahren kontinuierlich, die Sozialstruktur der Bevölkerung hat sich verschoben, die Schere zwischen Wohlhabenden und weniger Begüterten geht weit auf, und mit wachsendem Wohlstand wächst auch der Wunsch nach mehr Wohnraum, während bei Familien, die mit weniger Geld auskommen müssen, bezahlbare Mieten ganz oben auf dem Wunschzettel stehen. Nun hat unsere schöne Stadt in dieser Situation das große Glück, über eine Menge Industriebrachen, aufgelassener Eisenbahnflächen und eben auch über zwei nur noch eingeschränkt genutzte Bundeswehrgelände zu verfügen. Und nur durch die Bebauung dieser Flächen ist es überhaupt möglich, den Bedarf an Miet- und Eigentumswohnungen zu decken. Daran gibt es nichts zu meckern.Einfallslose Klötzchen
Kritik müssen sich allerdings die einfallslosen Architekten gefallen lassen, die möglicherweise einem frühkindlichen Lego-Trauma verfallen sind und nichts anderes bauen können als Klötzchen. Im Vergleich dazu muss man die Reihenhäuser der Sechzigerjahre geradezu als Musterbeispiele von Kreativität und Vielfalt loben. In der Gartenstadt Reitzenstein haben sich die Kästchenmacher erheblich ausgetobt, und das ist sehr, sehr schade, weil das attraktive Gelände unterhalb des Grafenberger Waldes etwas Besseres verdient gehabt hätte. Aber vielleicht wollen es die Käufer der Schachteln ja auch nicht anders. Auffällig ist, dass es gerade die Gebäude mit den höheren Quadratmeterpreisen sind, die besonders öde gezeichnet wurden. Und weil die Gartenstadt durch die Nähe zum Wald und eine hervorragende Verkehrsanbindung bei Besserverdienern beliebt ist, findet man hier eine Dichte an Porsches und schweren SUVs wie sonst nur linksrheinisch.
Immerhin haben die Grundstücksentwicklern ein paar gute Gedanken gehabt und meinten den Begriff „Gartenstadt“ offensichtlich ernst. Es sind nicht die eher deprimierenden Spielplätze, die diesen Eindruck hinterlassen, sondern die Anlage von Freiflächen, von denen die eine die Anmutung eines traditionellen Dorfangers hat, also dem Treffpunkt für Jung und Alt. Leider scheinen nicht alle Einwohner diese Aufforderung anzunehmen – an einem sonnigen Oktobersonntag um die Kaffeezeit herum traf man innerhalb einer Stunde kaum zwei Dutzend Menschen. Es liegt an den Menschen, die in den Klötzchen oder in den geförderten Wohnungen leben, das Angebot der Planer anzunehmen. Wenn dann in 20, 30 Jahren aus den Bäumchen Bäume geworden sind, könnte die Gartenstadt Reitzenstein ein lebendiges, buntes Viertel werden.
Wer war dieser Reitzenstein?
Bekanntlich sind immer noch ein paar Bundeswehrkasernen nach hohen Militärs benannt, die ihren zweifelhaften Ruf während des zweiten Weltkriegs in Diensten der Nazi-Wehrmacht erlangt haben. Da lohnt sich die Frage danach, wer eigentlich dieser Reitzenstein war, nach dem die Kaserne früher und die Gartenstadt heute benannt ist. Man muss da ein bisschen bohren, weil es in offiziellen Quellen dazu keine Angaben gibt. Tatsächlich handelt es sich um Maximilian Gustav Freiherr von Reitzenstein, dem Spross eines durchaus militärischen Adelsgeschlechts, dem Kommandeur des 1. Westfälischen Feldartillerie Regiments Nr. 7, dessen II. Abteilung in Düsseldorf-Derendorf stationiert war, denn auch der Bereich zwischen Nordfriedhof und Dreieck sowie zwischen Kaiserswerther Straße und Ulmenstraße war früher ganz bzw. teilweise Kasernen- und Exerziergelände. Der Oberst Reitzenstein, der sich im Kolonialheer in Deutsch-Südwest (heute: Namibia) aus Sicht der Preußen bewährt hatte, führte danach die 1916 mitten im ersten Weltkrieg neu aufgestellte 239. Infanterie-Division, die in Flandern kämpfte. Er schied bei Kriegsende im Alter von knapp 60 Jahren als Generalleutnant aus der Armee aus.
Im Zuge der Aufrüstung der Wehrmacht und der Vorbereitung auf den Angriffskrieg baute man überall in Deutschland neue Kasernen, so auch die in Mörsenbroich. Sie entstand 1937/38 und wurde auf Antrag des dort untergebrachten Feldartillerieregiments nach dem Generalleutnant von Reitzenstein benannt. Sofort nach der sogenannten „Wiederbewaffnung„, also der Gründung der Bundeswehr, wurde auch die Reitzenstein-Kaserne bezogen, deren Gebäude von 1945 bis 1956 – zunächst für Flüchtlinge aus der „Ostzone“ – als Notunterkünfte bzw. Übergangswohnraum für sozial schwache Familien genutzt worden waren.
Ein Kommentar
Das Traurige an diesen Klötzchen-Architekten ist, dass sie sich in der Bauhaus-Tradition wähnen. Wie man sich irren kann!