Jeder kennt es, dieses Lied, das musikalisch betrachtet ein Marsch ist. Und die meisten halten es für eine sogenannte „Volksweise“. Wie ja überhaupt alle, was den Rhein besingt und bedichtet für Volksgut gehalten wird. Tatsächlich gehört dieses Lied wie ungezählte Bilder, Denkmäler und Gedichte zur sogenannten „Rheinromantik“, einer Strömung innerhalb der Kulturepoche der Romantik, in der die Deutschen ihrem Vater Rhein huldigten.
Aus heutiger Sicht mag man sich daran stoßen, dass der mächtige Strom als „deutsch“ bezeichnet wird, wo er doch aus der Schweiz kommt, in den Niederlanden endet und sich die Deutschen ihn über weite Strecken mit den Franzosen teilen. Tatsächlich aber spielte gerade der romantische Teil des Flusses, insbesondere das Rheintal zwischen Bingen und Bonn, beim aufkommenden Nationalgefühl der Deutschen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle – vor allem natürlich die Loreley, auf die der Textdicher W. Matthias im Lied auch anspielt.
Auch von dieser Märchenfigur glauben sehr viele Deutsche, dass es sie quasi immer schon gegeben habe, dass sie sozusagen fester Bestandteil deutschen Kulturgutes sei. Dabei handelt es sich um die Idee eines Künstlers. 1801 schrieb Clemens Brentano die Ballade „Zu Bacharach am Rheine…“, in der eine gewisse Lore Lay vorkommt, die als Zauberin und Hexe verfolgt wird und sich vom bewussten Felsen in die Fluten stürzt, um fürderhin dort zu spuken und Schiffer in den Tod zu locken.Mit seinem Freund und Kollegen Achim von Arnim war Brentano nämlich damals wochenlang durchs Rheintal gewandert und hatte dem Volk aufs Maul geschaut. Eine große Zahl der berühmten Märchen der Romantik wurden dabei erdacht. Berühmt wurde die Loreley aber vor allem durch das Gedicht von Heinrich Heine, in dem er aus der Hexe eine Art Nixe oder Sirene macht, die mit ihrem goldenen Haar die Rheinschiffer betört und verwirrt. Der Karnevalssänger Dietmar Kivel nahm Heines Gedicht als Vorlage für den Fastelovend-Hit des Jahres 1954: „Lore leih mir dein Herz…“:
Jedenfalls waren es Dutzende Dichter und bildende Künstler, die meinten, das deutsche Wesen sei durch diese Mythen geprägt und unterscheide sich dadurch von den Eigenschaften anderer Völker. Politisch führte dies zu der Vorstellung eines deutschen Nationalstaats wie es ihn zuvor in der Geschichte nie gegeben hatte. Als sinnstiftendes Element diente den Vorreitern der deutschen Revolution, die der feudalen Kleinstaaterei ein Ende und der bürgerlichen Demokratie den Weg bereiten sollten, unser Vater Rhein. Und der musste in diesem Sinne natürlich urdeutsch sein.
So kam es, dass der Name dieses Stroms hierzulande ab etwa 1815 bis durchs Kaiserreich hindurch und natürlich auch in der Zeit des NS-Regimes grundsätzlich mit dem Adjektiv „deutsch“ verknüpft wurde. Nun hatte der Adel bekanntermaßen die bürgerlichen Revolutionäre von 1948 niedergekämpft und auch die romantischen Ideen durch die militärische Vorstellung von Frankreich als dem „Erzfeind“ ersetzt. Und so wurde ein 1840 von Max Schneckenburger gedichtetes und von Karl Wilhelm vertontes Gedicht zur heroischen Hymne des Kaiserreichs.
„Die Wacht am Rhein“ heißt es und verspricht dem Vaterland, es könne ruhig sein, denn das preußische Militär wache über den Rhein als Westgrenze des deutschen Reiches. Kein Wunder, dass dieses Marschlied später auch bei den Nazis beliebt war, die ja bekanntlich das europäische Hegemoniestreben des Kaisers mit ihren Mitteln fortsetzten.
Was aber blieb von den nationalistischen und chauvinistischen Tönen nach dem Ende des NS-Regimes übrig? Nun, die gute, alte Rheinromantik feierte nicht nur im Karneval fröhliche Urständ. Dutzende Filme der Fünfzigerjahre spielen im Rheintal, das zu einem der ersten Hotspots des modernen Tourismus‘ in Deutschland wurde. Und weil der Wein vom Rhein schon sehr früh im Wirtschaftswunder Karriere machte, wurde auch der gern und oft besungen. Zum Beispiel vom seinerzeit extrem beliebten Sänger Willy Schneider:
Als dann die ersten Nachkriegsgenerationen mit den Taten der Väter und Großväter auseinandersetzten und für die Abschaffung jeglichen Nationalismus‘ kämpften, war das Wort „deutsch“ als besitzanzeigendes Wörtchen rasch verpönt. Tatsächlich schaffte es eigentlich nur das Lied vom wunderschönen Vater Rhein, nicht in diesem Kontext verurteilt zu werden. Und so singt man auch heute gern wieder die angebliche „Volksweise“ vom deutschen Rhein.