Lesestück · Eigentlich ist ja immer am 11. November Martini, denn an einem Elften im Elften hat man den heiligen Martin zu Grabe gelegt. Weil aber der 11.11. im Rheinland wegen der komischen Verehrung der Zahl ELF ab dem 19. Jahrhundert vom Karneval gekapert wurde, feiert man den ehemaligen römischen Offizier Martin von Tour hierzulande vorwiegend am 10. November. Das ist woanders anders, und „woanders“ heißt: überall im deutschsprachigen Raum, die entsprechenden Ränder von Belgien und den Niederlanden inklusive – mal mehr, mal weniger. Dass das unabhängig von der jeweiligen christlichen Mehrheit schon seit vielen Hundert Jahren so ist, zeigt, dass dieser Sankt Martin allen Christen etwas bedeutet. Und nicht nur denen, denn die Martinszüge im Rheinland und im Ruhrgebiet waren schon zu Zeiten, als man die Menschen aus fernen Ländern noch „Gastarbeiter“ nannte, Anziehungspunkt auch für Muslime und Muslima. [Lesezeit ca. 6 min]
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Es ist ja auch nicht schwer, sich auf den Wohltäter, der angeblich seinen Legionärsumhang mit dem Schwert in zwei Stücke schnitt, um ihn so mit einem Bettler am Wegesrand zu teilen, der bei bitterer Kälte im Schnee sonst vielleicht erfroren wäre. Wenn sich das so zum Ende des 4. Jahrhunderts wirklich zugetragen hat, dann kann man den Martin auch als Erfinder der Mildtätigkeit betrachten. Also des Prinzips, dass wer hat, denen gibt, die nicht haben. So weit wir wissen, hat es Bettler nur in Kulturen mit monotheistischen Religionen gegeben – zum Beispiel im Judentum, antiken Griechen und Römer galten besitz- und wohnungslose Menschen als Abfall, die man noch am ehesten als Sklaven rekrutierte. Insofern war die Tat des Martin, die er in voller Rüstung eines römischen Legionärs auf einem römischen Pferd sitzend ausführte, etwas Neues.
Heiliggesprochen wurde Sankt Martin übrigens nicht deswegen, sondern als sogenannter „Bekenner“. Er war sogar der erste Mensch, der heiliggesprochen wurde, weil er sich unter feindlichen Umständen zum Christentum bekannt hatte; zuvor wurden nur Märtyrer zu Heiligen. Dass er zu einem historisch so frühen Zeitpunkt Christ wurde, führte dazu, dass ein gewisser Sulpicius Severus, bis zu dessen Tod ein Kumpel vom Martin, als Biograph wirkte und eine (vermutlich) heftig geschönte Vita seines Freundes verzapfte. Die besagt, dass dem Martin in der Nacht nach der Mantelteilung Jesus erschienen sei, bekleidet mit dem halben Umhang – offensichtlich als Bezug auf den Spruch aus dem Matthäus-Evangelium „Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Was ihr getan habt an einem meiner ärmsten Brüder, habt ihr an mir getan.“
Der historische Martin wurde 351 getauft und zog sich nach dem Ende seiner Militärzeit zum Meditieren auf eine einsame Insel zurück. Nachdem er 361 zurückgekehrt war, gründete er das Kloster bei Ligugé in Aquitanien – und begründete damit das Mönchstum an sich. 371 wurde er schließlich als Nachfolger des ebenfalls legendären Liborius Bischof von Tours. Nich so gut bekannt ist, dass der auch als Bischof in einer Hütte außerhalb der Stadtmauern lebende Martin ein radikaler Missionar war, der systematisch alle heidnischen Kultstätten vernichten und Bräuche durch christliche Feste ersetzen ließ. Übrigens: Zur Martinsgans gibt es die Anekdote, dass sich Martin, der nicht Bischof sein wollte, in einem Gänsestall versteckte, die schnatternden Viecher ihn aber verrieten.
Der Martinstag selbst ist übrigens auch ein Versuch, andere Anlässe, die zum 10. und 11. November gehören, zu übertünchen. Nach dem julianischen Kalender war der 11. November (den klimatischen Bedingungen zu Zeiten von Cäsar entsprechend) Winteranfang. Und damit der Tag, an dem die Bauern den Zehnten zu zahlen hatten, also quasi ihre Pacht. Gleichzeitig nahm dieses Datum auch als Stichtag für Soldzahlungen und das Ende von befristeten Verträgen. Jede Menge heidnische Feste der unterschiedlichsten Kulturen zum Ende der Erntezeit wurden an diesem Tag gefeiert, einige verbunden mit dem Schenken. Die Reichen, die am 11. November ihre Untertanen abkassierten, schenkten gleichzeitig Kleinigkeiten an die Kinder der Armen – wohl um ihre Karmakonten aufzubessern. Die bedankten sich, indem sie den edlen Spendern was vorsangen.
Aus dieser Wurzel stammt das Martinssingen, dass mit dem heiligen Martin nicht das Geringste zu tun hat. Ähnlich wie die Keltenkinder an Halloween zogen die Christenbälger an diesem Abend los, um mit möglichst fröhlichem Gesang die Wohlhabenden aus den Häusern zu locken, um Süßigkeiten, Obst etc. zu empfangen. Diese Form musikalischen Bettelns heißt in unserer Region „gripschen“ – ein Wort, das der Duden übrigens nicht kennt. Die Kinder in den Städten – besonders im rheinischen Teil des Ruhrgebiets, im bergischen Land und bis runter nach Köln – kennen diesen Begriff sehr wohl. Für sie ist das Gripschen Höhepunkt der Martinszüge:
Hier wohnt ein reicher Mann
Der uns Vieles geben kann
Vieles soll er geben
Lange soll er leben
Selig soll er sterben
Das Himmelreich erwerbe
Das ist sozusagen der Standardsong zum Gripschen – und zwar die evangelische Variante, denn die Vorstellung, dass jemand, der reich, aber freigiebig und mildtätig ist, beim jüngsten Gericht nach oben geschickt wird, ist zutiefst protestantisch. Jemanden zu beschimpfen, der nichts gibt, kann dagegen eher als katholisch betrachtet werden:
Dat Huus, dat steht op ene Pin
Der Jiezhals sitzt in dä Mitte drin
Jiezhals, Jiezhals, Jiezhals!
Das komplette Martinslied anzusingen, ist und war dagegen immer eher untypisch:
Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin
ritt durch Schnee und Wind,
sein Roß das trug ihn fort geschwind.
Sankt Martin ritt mit leichtem Mut:
sein Mantel deckt‘ ihn warm und gut.Im Schnee saß, im Schnee saß,
im Schnee da saß ein armer Mann,
hatt‘ Kleider nicht, hatt‘ Lumpen an.
„O helft mir doch in meiner Not,
sonst ist der bittre Frost mein Tod!“Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin zog die Zügel an,
sein Roß stand still beim armen Mann,
Sankt Martin mit dem Schwerte teilt‘
den warmen Mantel unverweilt.Sankt Martin, Sankt Martin
Sankt Martin gab den halben still,
der Bettler rasch ihm danken will.
Sankt Martin aber ritt in Eil‘
hinweg mit seinem Mantelteil.Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin legt sich müd‘ zur Ruh
da tritt im Traum der Herr dazu.
Er trägt des Mantels Stück als Kleid
sein Antlitz strahlet Lieblichkeit.Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin sieht ihn staunend an,
der Herr zeigt ihm die Wege an.
Er führt in seine Kirch‘ ihn ein,
und Martin will sein Jünger sein.Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin wurde Priester gar
und diente fromm an dem Altar,
das ziert ihn wohl bis an das Grab,
zuletzt trug er den Bischofsstab.Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin, o du Gottesmann,
nun höre unser Flehen an,
O bitt‘ für uns in dieser Zeit
und führe uns zur Seligkeit.
Auch „Ich geh mit meiner Laterne, und meine Laterne mit mir“ wird den Einzelhändlern in der Nähe des Zugweges eher selten vorgetragen. Gripschen ist in den Städten nämlich ein Business zwischen Pänz und Ladenbesitzern. In Kleinstädten und ländlichen Gebieten ziehen die Rotzije dagegen eher von Haus zu Haus, wo die Bewohner hinter der Haustür entsprechendes Zuckerzeug parat halten. Über die Jahrzehnte ist der Kern des Brauchs – Singen für Geschenke – ein wenig abhanden gekommen. In den typischen Geschäftsstraßen marodieren nun oft eher Halbwüchsige durch die Läden und fordern Tribut, und zwar ohne auch nur eine Note vorzubringen.
Alles in allem: Sankt Martin als Fest wie es in unserer Gegend gefeiert wird, hat zwar einen christlich-religiösen Ursprung, aber eben auch sehr weltliche Partikel. Weil dieser Martin aber ganz allgemein menschlich einer war, der Mitleid nicht nur empfand, sondern in die Tat umsetzte, heißt der 11. November samt Martinsumzügen, Mantelteilungen und Gripschen zu Recht und hoffentlich auf ewig SANKT MARTIN.
2 Kommentare
Lieber Chefred, ich will ja nicht klugscheißen, aber im Gripschlied zum reichen Mann fehlt die Zeile:
Lange soll er rleben
Hier wohnt ein reiche Mann
Der uns Vieles geben kann
Vieles soll er geben
Lange soll er leben
Selig soll er sterben
Das Himmelreich erwerben
Das Gripschen ist tatsächich dem Aussterben geweiht. Viele Eltern und Händler wollen/kennen es nicht mehr In meiner Kindheit zogen waren die Straßen in Flingern voll von gripschenden KIndern. Heute sieht man kaum noch welche.
Stimmt natürlich! Danke für den Hinweis – wird sofort korrigiert.