Bericht · Jedes Jahr begehen die katholischen Christen Düsseldorfs den 23. Juli als Gedenktag an den heiligen Apollinaris. Rund um diesen Tag findet die Apollonaris-Woche statt, die in normalen Jahren in einer Prozession gipfelt, bei der Schützen den Reliquienschrein aus der St.-Lambertus-Basilika durch die Altstadt tragen. Denn in diesem kunstvoll und mit viel Gold geschmückten Schrein befinden sich der Überlieferung nach Gebeine des St. Apollinaris, und der ist seit 1394 Schutzpatron unserer wunderschönen Stadt. Schon im vergangenen und leider auch in diesem Jahr wird die Apollinaris-Woche corona-bedingt in sehr, sehr kleinem Rahmen gefeiert, die Prozession findet gar nicht statt. Das in pandemiefreien Jahren die Größte Kirmes am Rhein gleichzeitig die Oberkasseler Rheinwiesen verzaubert, ist natürlich kein Zufall. [Lesezeit ca. 9 min]

Im Gegenteil: Im Wort „Kirmes“ versteckt sich die Silbe „Kirch“, und woanders heißt dieses jährliche Fest auch immer noch Kirchweih. Denn der mehr oder weniger bunte und mit Vergnügungsangeboten jeglicher Art ausgestattete Jahrmarkt wird rund um den Tag veranstaltet, an dem die jeweilige Hauptkirche offiziell geweiht wurde. Diese Rolle nimmt seit mehr als 1000 Jahren das Gotteshaus ein, das seinerzeit an der Stelle der Basilika St. Lambertus errichtet wurde. Die Kirche mit dem berühmten schiefen Turm wurde nach erheblichen Umbauten im Stil der niederrheinischen Backsteingotik und der Vergrößerung am 12. Juli 1394 eingeweiht. Auf diesen Tag bezieht sich die weltweit bekannte Größte Kirmes am Rhein – die Nähe zum Apollinaris-Gedenktag ist rein zufällig. Tatsächlich geht die große Kirmes eben nicht auf die Einweihung von St. Lambertus zurück.

St. Apollinaris auf einem Mosaik aus dem 6. Jahrhundert (public domain)

St. Apollinaris auf einem Mosaik aus dem 6. Jahrhundert (public domain)

Denn schon bevor der heilige Apollinaris zum offiziellen Stadtpatron ernannt wurde, lagen seine Gebeine ja bereits in Düsseldorf. Und deshalb wurde schon im 13. Jahrhundert der Apollinaris-Tag (23. Juli) in der Stadt groß gefeiert. Neben den rein kirchlichen Aktivitäten wird es eine Art Jahrmarkt gegeben haben, einen Vorläufer der großen Kirmes, die seit 1901 auf den Oberkasselere Rheinwiesen stattfindet. Deshalb gab es vor einigen Jahren ernsthafte Bestrebungen, den Markennamen, der Anfang der Siebzigerjahre vom hiesigen Stadtmarketing eingeführt und dann massiv beworben wurde, zu ändern und den Riesenrummel in Sankt-Apollinaris-Kirmes zu ändern. Die Stadtmütter und -väter sind davon rasch wieder abgekommen und bei der säkularen Bezeichnung „Größte Kirmes am Rhein“ geblieben. Tatsächlich hätte man das Volksfest aus gutem Grund auch in Sankt-Lambertus-Kirmes umbenennen können, wenn nicht gar in Sankt-Sebastianus-Kirmes, denn diese beiden Heiligen spielen in der Düsseldorfer Stadtgeschichte auch fundamentale Rollen – dazu demnächst einmal mehr.

Darstellung des Stadtpatrons St. Apollinaris auf dem Schrein (Foto via St.-Lambertus-Gemeinde)

Darstellung des Stadtpatrons St. Apollinaris auf dem Schrein (Foto via St.-Lambertus-Gemeinde)

Bleiben wir also beim heiligen Apollinaris, von dem wir historisch gesichert recht wenig wissen. Die Unsicherheit geht so weit, dass einige Kirchenhistoriker davon ausgehen, dass es zwei verschiedene Promis des Frühchristentums gleichen Namens gab. Man weiß zum Beispiel nicht, ob der „echte“ Apollinaris im ersten oder dritten Jahrhundert nach Christus gelebt hat. Alle Legenden und letztlich auch die Aufnahme in den Katalog der Heiligen beziehen sich auf einen Apollinaris von Ravenna. Der eine Zweig seiner Biografie (der sich auf ein Leben um das Jahr 75 n. Chr. bezieht) behauptet, der Apostel Petrus selbst habe ihn als Bischof von Ravenna eingesetzt.

Dort sei die Christengemeinde von Nichtchristen überfallen worden, die Attentäter hätten Apollinaris gefoltert und schließlich mit einer Keule erschlagen, was ihn zum Märtyrer machte. Die Story rund um einen Apollinaris von Ravenna, der um das Jahr 200 n. Chr. gelebt hat, kennt den Überfall und die Folterungen ebenfalls, behauptet aber, der Bischof habe den Anschlag überlebt und sei als Missionar nach Dalmatien weitergezogen. Dort soll er Dutzende Wunder vollbracht haben – die Legenda aurea, ein im 13. Jahrhundert verfasster Schinken mit jeder Menge Infos zu diversen Heiligen, führt jedenfalls eine ganze Reihe von Mirakeln auf.

Das offizielle Grab liegt in Ravenna, und 549 wurde eine Kirche über diesem Grab eingeweiht. Und jetzt müssen wir tief in eine enorm wichtige, enorm verwickelte Tradition der christlichen Heiligenverehrung einsteigen: die Bedeutung von Reliquien. Überhaupt ist die ganze Idee rund um Märtyrer, Heilige und ihre Wunder eine durch und durch christliche, die von anderen Weltreligionen später übernommen wurden. Im Katholizismus spielt sie nach wie vor eine sehr wichtige Rolle, die Protestanten haben mit der Reformation diesen ganzen Apparat einfach abgeschafft. In der Frühkirche mit den wenigen, kleinen und weit verstreuten Gemeinden, die eigentlich überall auf Ablehnung und offene Feindschaft inklusive gewalttätiger Verfolgung stießen, wurde ein verbindendes Element gesucht. Es ging darum, die direkte Verbindung zu Christus, seinen Jüngern bzw. den Aposteln und damit zu Gottvater herzustellen – und umgekehrt.

Die Legenda aurea, in der auch Apollinaris' Wunder verzeichnet sind (Foto via Wikimedia)

Die Legenda aurea, in der auch Apollinaris‘ Wunder verzeichnet sind (Foto via Wikimedia)

Das System war streng hierarchisch. Jede frühchristliche Gemeinde hatte einen Anführer, den Bischof, die ersten Bischöfe außerhalb des heiligen Landes sollen samt und sonders von einem der Aposteln eingesetzt worden sein. Wer von den Bischöfen oder anderen bedeutenden Gemeindemitgliedern von Heiden welcher Art auch immer, auf welche Weise auch immer und aus welchem wirklichen Grund auch immer gekillt wurde, wurde damit zum Märtyrer; also als jemand, der sich im Dienste des Glaubens geopfert hatte. Märtyrer wurden quasi automatisch zu Heiligen. Und dann gab es noch die Wunderheiler, deren Wirken sich direkt auf die Wunder bezogen, die Jesus persönlich zu Lebzeiten vollbracht hatte. Belegt sind „echte“ Wunder grundsätzlich nicht, es handelt sich um Wanderlegenden, die umso mehr geglaubt werden, je älter sie sind und je näher die Wundertäter an der Urgemeinde sind.

Reliquien sind nicht immer Gebeine, sondern generell Gegenstände, die ein Heiliger hinterlassen hat. Schon zu Zeiten der Urgemeinden galten solche Gegenstände als wundertätig. Und bereits um 400, 500 n. Chr. herum wurden solche Wunderkräfte eben auch den sterblichen Überresten von Märtyrern zugeschrieben. Mehr noch: Gebeine von Heiligen, so glaubte man, verfügten über Kräfte, die den Ort und die Gläubigen dort vor dem Teufel und böswilligen Heiden schützten. Über die folgenden Jahrhunderte verbreitete sich diese Sicht im gleichen Maße und in derselben Geschwindigkeit wie das Christentum. Und so ab etwa 1100 n. Chr. galten Reliquien als wertvoller Besitz, ja, als Zeichen weltlicher Macht. Ein Fürst, der eine wertvolle Reliquie in seinem Machtbereich aufbewahren ließ, war eine große Nummer.

Die Apollinaris-Prozession (Foto: Beate Plenkers-Schneider via Erzbistum Köln)

Die Apollinaris-Prozession (Foto: Beate Plenkers-Schneider via Erzbistum Köln)

Weil man mit Reliquien Geld verdienen konnte, begann ein schwunghafter Handel damit. Ein alter Spot besagt, würde man alle bekannten Splitter vom Kreuze Jesu zusammensetzen, bekäme man mindestens 50 davon zusammen. Die Zahl der Tücher, die Christus selbst oder einer der Aposteln benutzt haben sollen, übersteigt ebenfalls jedes realistisches Maß. Die perfideste Form des Reliquienbetrugs aber war es, irgendwelche Knochen von irgendwem als Gebeine eines Heiligen zu verkaufen. Um es ganz klar zu sagen: Die Echtheit von solchen Gebeinen ist praktisch nie nachweisbar. Allerdings kann man die Geschichte diverser heiliger Hinterlassenschaften ziemlich gut nachverfolgen – besonders ab dem 13. Jahrhundert, weil man europaweit begann, den Aufenthalt von Reliquien in Urkunden zu dokumentieren.

Womit wir bei St. Apollinaris und dem Reliquienschreib in der Lambertus-Kirche sind. Denn in dem befinden sich tatsächlich einige Knochen. Der echte Altstädter Detlef Hütten hat eine Erinnerung festgehalten, die vom Erzbistum Köln auf der Website zum heiligen Apollinaris zu finden ist – hier ein Auszug:

Besonders beeindruckend war, als ich als kleiner Junge einmal miterleben durfte, dass das Schloss des Schreins durchgebrochen ist. Da musste jemand aus Köln kommen, damit dieser Schrein repariert werden konnte. Es wurden also die Gebeine, die da drin waren, entnommen. Mit dabei waren der Weihbischof und ein Domkapitular, die diesen Schrein dann vor einigen Zeugen geöffnet haben. Wir als kleine Messdiener waren ganz fasziniert, was in diesem Schrein zu sehen war: Es sind Knochenüberreste, die – wie man nachher festgestellt hat – tatsächlich zu denen passten aus Remagen und Ravenna. Wir haben im Düsseldorfer Schrein, glaube ich, Oberschenkelknochen, wenn mich nicht alles täuscht und wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe. Das ist schon so lange her, aber ich durfte mit dabei sein und mit da hineinschauen. [Quelle: Erzbistum Köln]

Fragt sich nur, wie die Gebeine des Apollinaris von Ravenna nach Düsseldorf gelangt sind. Gut, Reliquien wurden gehandelt, aber sie waren auch Kriegsbeute. Überfiel ein Fürst ein feindliches Fürstentum, dass im Besitz von Reliquien war, wurde die gern gestohlen. Wobei übrigens die Gebeine von Heiligen in früheren Zeiten auch gern friedlich aufgeteilt wurden; der Kopf blieb zum Beispiel am Todesort, die Gliedmaßen kamen an verschiedene Wirkungsstätte, und der Rest wurde nach Rom transferiert. Ja, bei Hauptheiligen übernahm meist der Vatikan selbst die Verteilung: ein Zeigefinger hierhin, ein Unterschenkel dorthin und so weiter. Darüber wurde akribisch Buch geführt. Manchmal wurden aber auch gefundene Gebeine per Dekret zu Reliquien erklärt. Das dürfte beispielsweise für die Überreste der heiligen drei Könige gelten.

Die Apollinariskirche in Remagen (Foto via haus-oberwinter.de)

Die Apollinariskirche in Remagen (Foto via haus-oberwinter.de)

Die soll Helena, Mutter von Kaiser Konstantin, im Jahr 384 angeblich bei einer Pilgerfahrt nach Palästina gefunden, mitgenommen und kaiserlichen Besitz überführt haben. Nicht viel später soll der Kaiser die Gebeine dem Bischof von Mailand geschenkt haben. 1162 eroberte Kaiser Barbarossa Mailand und ließ die Knochen mitgehen. Nun war es um diese Zeit so, dass die Aufbewahrung wichtiger Reliquien eine Kirche ganz enorm aufwertete, ja ihr quasi eine globale Bedeutung zumaß. Das mit dem Kölner Dom zu tun, könnte der Grund sein, warum der Kaiser die Rest der heiligen drei Könige dem Erzbischof Rainald von Dassel übereignete, der diese im Juli 1164 per Schiff auf dem Rhein nach Köln bringen wollte. Und weil dem Kaiser bei seiner Eroberung auch die Gebeine des Apollinaris von Ravenna in die Hände gefallen waren, hatte Rainald die auch an Bord.

Ohne ersichtlichen Grund lief das Schiff bei Remagen auf Grund. Man musste umladen. Man glaubte damals übrigens, dass sich Reliquien ihren Bestimmungsort selbst suchen, und im vorliegenden Fall kamen der Erzbischof und sein Gefolge überein, St. Apollinaris wolle wohl lieber in Remagen bleiben. Und so wurden ihnen ein Schrein gezimmert, der in der dortigen Kirche gelagert wurde. Natürlich war auch Apollinaris‘ Rest verteilt unterwegs. So wie sich sein Ruf als Märtyrer und Wunderheiler verbreitet, so verteilten sich auch seine Knochen – zum Beispiel nach Dijon und eben nach Mailand. Möglicherweise waren schon gut 100 Jahre zuvor Teil von Apollinaris dorthin gelangt, den bei Remagen gab es bereits die Probstei Apollinarisberg, der der Abtei Siegburg unterstellt war.

Die Lambertus-Basilika von Norden aus gesehen (Foto: TD)

Die Lambertus-Basilika von Norden aus gesehen (Foto: TD)

Wer nun genau und wie die Gebeine des heiligen Apollinaris geraubt und aus Remagen nach Düsseldorf gekommen sind, ist ein bisschen unklar. In der einschlägigen Literatur heißt es schlicht, sie seien vom Jülicher Herzog Wilhelm I. geraubt und 1383 nach Düsseldorf gebracht. Kann aber nicht sein, denn dieser Herzog, der als Graf Wilhelm V. von Jülich geboren wurde, starb bereits 1361. Wenn, dann muss es dessen Sohn Wilhelm II. gewesen sein. Beide aber residierten gar nicht in Düsseldorf. Das tat aber Wilhelm der II., Graf von Berg, ein Neffe des Jülicher Wilhelms I., den er bei dessen Beteiligung an der Schlacht von Baesweiler unterstützte. Durch Verheiraten und Verschwägerungen sowie seine Ernennung zum Herzog im Jahr 1380 entstand das Herzogtum Jülich-Berg.

Dieser Wilhelm war nach dem Düsseldorfer Stadtgründer Adolf der nächste bergische Graf bzw. Herzog, der seiner Residenzstadt zu mehr Ruhm und Glanz verhelfen wollte. Unter anderem durch die Ausstattung der Stiftskirche mit Reliquien:

Wilhelm’s ganzes Streben ging darauf, den mühsam errungenen und vertheidigten Düsseldorfer Zoll zu sichern. Wesentlich von diesem Gesichtspunkte aus ist wol seine Sorge für das Aufblühen und die Vergrößerung Düsseldorfs zu verstehen. Verschiedene in Düsseldorfs Nachbarschaft liegende Dorfbezirke gliederte er dem Stadtgebiet an und verlieh den Bauern, die sich in der Stadt anbauen würden, städtische Freiheiten. Seit 1386 residirte W. selbst in Düsseldorf und sorgte dafür, daß nicht nur sein Schloß, sondern auch die Kirche und die ganze Stadt bald dem Charakter einer fürstlichen Residenz entsprachen. Mit der Bethätigung seiner Frömmigkeit ging sein praktischer Sinn Hand in Hand. Die Beschaffung zahlreicher Reliquien für die Stiftskirche war eine Maßregel, die man ebensowol auf volkswirthschaftliche Absichten, als auf religiösen Eifer wird zurückführen können. Düsseldorf wurde auf diese Weise für die Theilnehmer an den Aachener Heilthumsfahrten zu einer beliebten und geschätzten Station. Auf Jahrhunderte hinaus blieb die Stadt in den Grenzen, die W. ihr angewiesen ‚ hatte. So darf sie ihn geradezu als zweiten Stadtgründer in Anspruch nehmen. [Quelle: Deutsche Biographie]

Mit anderen Worten: Wilhelm ging auf Raubzüge. 1383 war er auf die Reliquien des heiligen Apollinaris aus und überfiel die Probstei Remagen. Einem dortigen Edelmann gelang es, den Kopf des Heiligen zu verstecken, der heute immer noch in Remagen aufbewahrt hat; die Knochen, die im Schrein von St. Lambertus liegen, nahm er mit. Mit deren Einlagerung begann die Verehrung von St. Apollinaris in Düsseldorf. Der Schrein begründete den Ruf der Lambertus-Basilika und führte 1394 dazu, dass Apollinaris zum Schutzpatron der Stadt bestimmt wurde. Weil der aber gerade im Rheinland einen bedeutenden Ruf hatte, wurde unsere Stadt zu einem Wallfahrtsort machte – und das bedeutete im Spätmittelalter auch einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wie seinerzeit üblich, wurde eine Schützengilde mit dem Schutz der Reliquien beauftragt. Diese Pflicht fiel an die 1316 gegründete (und 1435 offiziell beurkundete) Schützengesellschaft St. Sebastianus, deren Mitglieder deshalb bis heute den Schrein bei der jährlichen Prozession am Apollinaristag tragen.

[Bildquellen – Titelbild: via Erzbistum Köln; Legenda aurea: Sailko via Wikimedia unter der Lizenz CC BY 3.0; St. Apollinaris: public domain; Apollinariskirche Remagen via Haus Oberwinter; Apollinaris-Prozession: (c) Beate Plenkers-Schneider via Erzbistum Köln; ]

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