Wer in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts als junger Mensch NICHT in einer Wohngemeinschaft (WG) lebte, galt als Spießer. Unsere WG, die nur ein knappes Jahr zwischen dem Winter 1976/77 und dem Jahresende 1977 überlebte, war allerdings untpisch. Denn aus Sicht von Otto und Else Normalbürger waren WG-Bewohner Studenten, also faul und linksradikal. Wir dagegen waren samt und sonders berufstätig und politisch durchaus unterschiedlich ausgerichtet. Ja, recht eigentlich waren wir eher eine Art Spaßguerilla auf dem Land. Unser Domizil war ein ziemlich großes Zweifamilienhaus in Straberg westlich von Dormagen und an den Knechtstedener Busch angrenzend. Weil wir das Leben als Fest sahen, hießen unsere Zusammenkünfte – woanders schnöde WG-Sitzung o.ä. genannt – Festkommiteesitzungen.

Wir waren alle waren das Festkommitee! Und das wichtigste Gemeinschaftsprojekt war der Bau einer Hausbar für das Fernsehzimmer im ersten Stock. Das war ganz praktisch: Wir Kerle guckten uns beispielsweise die Eishockey-WM an, und der Schnaps war immer in Reichweite. Zu Ehren des großartigen Schrifstellers John Steinbeck und seines wunderbaren Romans „Cannery Row“ (deutsch: „Straße der Ölsardinen„) hatten wir unsere eigene Whiskey-Marke namens „Old Tennis Shoes„. Jemand hatte ein Etikett entworfen und für Hunderte Flaschen ausreichend oft kopiert. Ein Billigfusel aus dem Top-3-Supermarkt wurde jedesmal mit einem zuvor handkolorierten Label versehen.

Wir waren fünf Jungs und zwei Mädels, die jeweils mit einem der Herren verbandelt waren. Das Haus, das dem Bäckermeister Adam Schornstein aus Neuss-Holzheim gehörte, bot reichlich Platz, den wir auch systematisch nutzten. Unser Vermieter, än ächte rheinische Jong ohne Vorurteile, hatte seine Bäckerei aus Altersgründen an einen Türken verpachtet, den er in den höchsten Tönen lobte („Dä Ali, dä iss sowatt von fleissisch!“). Mit der WG, die vor uns dort residiert hatte, eine Truppe strammer DKPisten und MSBler ging er dagegen hart ins Gericht: „Isch hann ja nix jejen dä Lennin und jejen dä Marx, aber dänne Plakate MIT REISSNÄJELN an den ESCHTHOLZTÜREN anzumachen, nä, nä, nä…“. Da waren wir aus respektvollerem Holz geschnitzt.

Die völlig irre Party

Das alles geschah vor 40 Jahren. Auch der Höhepunkt unseres Daseins, ja, eigentlich auch einzige Daseinsberechtigung war aber das irre Sommerfest, auch bekannt als „Straberg ’77“, quasi das Woodstock des Niederrheins, wenn auch ohne Live-Musik. Es war der 2. Juli des Jahres, ein wolkenloser heißer Tag, an dem in Wimbledon das Finale im Herreneinzel zwischen Jimmy Connors und Björn Borg (hier auf YouTube in voller Länge) stattfand. Nach einem spannenden Spiel, das sich über mehr als zweieinhalb Stunden hinzog, gewann der Schwede. Wir hatten einen Shuttle-Service eingerichtet, Treffpunkt an der Sternwartstraße, und versprochen, jeweils alle halbe Stunde dort auf Fahrgäste zu warten. Also verfolgten wir das Match im Radio.

Wie gesagt: Nur Live-Musik fehlte zum Woodstock-Feeling. Statt dessen hatte einer der beiden Hifi-Freaks aus unseren Kreisen seine mannshohen Lautsprecherboxen auf die Terrasse über dem Gartenzimmer verfrachtet, von wo aus wir mühelos das ganze Dorf sowie die Ortsteile Horrem und Delrath sowie die Nachbarorte Nievenheim und Delhoven beschallten. Später erfuhren wir von Bruder Norbert, unserem Kumpel aus dem Kloster Knechtsteden, er habe auch ein paar Mal Musikfetzen herüberwehen gehört.

Aus dem Ruder

Das Festkommitee hatte ganze Arbeit geleistet. Ja, man kann, sagen: Die Vorbereitungen waren absolut professionell. Trotzdem lief die Sache ein bisschen aus dem Ruder. Eingeladen waren rund 200 Leute, aber aus irgendeinem Grund hatte jemand die Parole ausgegeben, man möge gern Freunde mitbringen. Den Gartenrasen hatte wir zum Zelten freigegeben; es gab mehrere Grills und Feuerplätze. Wir waren fest davon überzeugt, genug Bier rangeschafft zu haben, aber schon gegen 20 Uhr mussten die ersten Zusatzfässer beim Getränkeschmidt an der Waldstraße geholt werden. Und gegen zwei Uhr nachts klingelten unsere Bierboten den Getränkekönig sogar aus dem Bett, damit er Nachschub rausrückte.

Das Fest brachte einen reichen Anekdotenschatz mit sich. Eine der schönsten Sottise dreht sich um die beiden Dormagener Polizebeamten. Natürlich hatten sich so gegen elf die ersten Dörfler über die Lautstärke erregt und die Cops gerufen. Die kamen auch brav mit ihrem Bully angetuckert und schellten ordnungsgemäß an der Tür. Eher zufällig entdeckte jemand die Wartenden und brüllte, nachdem er die Tür geöffnet hatte aus vollem Hals „Ey, die Bullen sind da!“ Die nahmen das aber nicht krumm. Eine unsere WG-Damen bot Bier und Suppe an, aber die Ordnungshüter lehnten dienstlich ab. Dafür ging dem einen die Mütze verlustig, die sich auf dem blonden Kopf einer hübschen jungen Frau wiederfand. Während der Plaudereien hatten sich einer der WGler nach draußen geschlichen und montierte dem VW-Bus die Scheibenwischer ab. Nachdem die Musik einen Hauch leiser gedreht worden war, machten sie sich wieder davon.

Irgendwann am nächsten Tag rief einer der beiden an und sagte – sofern die Überlieferung korrekt ist – in etwa folgendes: Er wolle da jetzt keine große Sache draus machen, aber wenn DIE SCHEIBENWISCHER NICHT INNERHALB EINER STUNDE auf der Wache abgegeben würde, dann würde es aber im Karton rappeln. Und zwar gewaltig. Wir taten wie geheißen.

Voll der Zeitgeist

Wie gesagt: Die Party fand vor ziemlich genau 40 Jahren statt, und sie war in jeder Hinsicht Ausdruck des Zeitgeistes. Und zwar hauptsächlich der Spaltung der Gesellschaft zwischen „Spießern“ und „Studenten“. Im Dorf selbst gab es eine Ureinwohnerschaft, die von Anfang an mit einer gewissen Aggression auf uns blickte. Einmal liefen wir mit der ganzen Mannschaft in der Dorfkneipe „Zum Ulan“ auf. Jedes Gespräch erstarb, und besonders in den Gesichtern der jüngeren Männer stand nackter Hass. Einmal wurde Reifen an unseren Autos zerstochen, und ein anderes Mal warf jemand die Glastür zur Terrasse ein. Aber unter das Partyvolk hatten sich ein paar Dorf-Youngster gemischt, die dann offensichtlich PR für uns machten, denn ab dem Sommer ignorierte man uns eher. Selbst als WG-Hund Tutti beinahe täglich ausriss, blieb man freundlich. Und Oma Müsch von der Ortsbäckerei hatte ohnehin einen Narren an uns gefressen und tat regelmäßig drei, vier Extrabrötchen in die Tüte.

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