Der April des Jahres 1986 begann mit kühlem, regnerischen Wetter. Aber gegen Ende des Monats zeigte sich der Sommer am Horizont. So um den 27. oder 28. herum war es sonnig und so warm, dass die Betreuerinnen unseres Kindergartens die Zwerge kaum noch drinnen halten konnten: Die wollten raus auf den Spielplatz, buddeln und toben. Unser Kindergarten war ein sogenannter „eltern-initiativer“, hieß KID und befand sich in einem Teil des Jugendhilfezentrums an der Eulerstraße. Der Eingang zum KID aber lag auf der Annastraße, genau in der Fluchtlinie der Jordanstraße. In den Siebzigerjahren waren auch in Düsseldorf mehrere „private“ Kitas von Eltern für ihre Kinder gegründet worden – eine der ersten war das „Kinderforum“ (Kifo) in Lörick, eine weitere eben „KID Annastraße“. Hier waren es einige SPD- und Gewerkschaftsfamilien, die den Kindergarten aufbauten und auch um 1984 herum die Mehrheit bildeten. Und in diesen Kindergarten steckten wir unseren Sohn. „Eltern-initiativ“, das bedeutete die Pflicht zur tätigen Mitarbeit und zur regelmäßigen Teilnahme an den wöchentlichen(!) Elternabenden. Wenn die Gruppen Ausflüge machten, waren immer mehrere Eltern als Betreuer dabei, das Kochen wurde ebenfalls von Eltern übernommen.

Das war einerseits anstrengend und lästig, andererseits waren wir so ganz, ganz dicht dran an dem, was das Betreuerteam mit unserem Nachwuchs veranstaltete. Die aus Elterninitiativen entstandenen Kindergärten standen in der Tradition der 68er-Kinderläden, das Konzept war freiheitlich, aber nicht antiautoritär. Die Kinder hatten fantastische Möglichkeiten sich auszuprobieren, bekamen aber auch feste Regeln, und klare Grenzen waren gesteckt. Natürlich gab es einen Matratzenraum zum Toben und Kuscheln. Und einen völlig chaotischen Bastelraum, in dem zeitweise ein beinahe seetüchtiges Boot mittendrin gebaut wurde. In Feuerwannen konnte unter Aufsicht gekokelt werden, und in einem Raum durften die Kinder auch mal Fußboden und Wände mit Farbe beschmieren. Einmal in der Woche war „Schweinetag“; da durften die Insassen auch mal mit dem Essen matschen und sich die Mahlzeit gegenseitig mit den Fingern verabreichen. Ständig gab es Ausflüge, und die Schützlinge wurden systematisch zur Selbstständigkeit in der Stadt ausgebildet – zum Beispiel durch Straßenbahnfahren in kleinen Gruppen ohne Erwachsene. Ein toller Kindergarten, dem meine Sprösslinge sehr viel von dem verdanken, was und wie sie heute sind.

Der Atomschock vom April 1986
Uns als Eltern zweier Kinder von fünf Jahren und neun Monaten traf die Nachricht von der Atomkatastrophe in Tschernobyl unvorbereitet und hart. Leider habe ich keine Notizen aus der Zeit selbst, kann also das Erlebte nur aus der Erinnerung wiedergeben – gestützt durch Artikel, die damals im Spiegel und woanders erschienen sind. Natürlich war die Elternschaft unseres Kindergartens mehrheitlich links und grün positioniert. Es wurde viel politisch diskutiert, und selbstverständlich waren wir alle gegen die Atomkraft. Als jemand, der an der Gründung der Grünen ab 1979 auf allen Ebenen beteiligt war, hatte ich mich an diversen Anti-AKW-Aktionen beteiligt und war ziemlich gut über das Thema informiert.

Nur über die Atomkraftwerke im Ostblock wussten wir so gut wie nichts. Die Nachricht, dass es irgendwo dahinten in der Sowjetunion einen GAU gegeben hatte, erreichte uns ja auch nicht am Tag der Katastrophe selbst, nicht einmal am folgenden und am übernächsten Tag, sondern erst am 29. April. In Skandinavien war bei Messungen eine deutlich erhöhte Radioaktivität der Luft gemessen wurden, was zu einer Agenturmeldung führte. Erst die zwang die sowjetische Administration zuzugeben, dass im AKW Tschernobyl etwas schiefgegangen war. Es war ein Dienstag, an dem abends in der Tagesschau der erste Hinweis kam. Spätabends riefen uns Kindergarteneltern an, die wiederum von Freunden in der Sowjetunion erfahren hatten, dass beim Unfall massiv Radioaktivität freigesetzt worden war.

Am nächsten Tag war es das Thema unter den Eltern, die sich beim Angeben der Kinder in der Kita trafen. Allerdings wurde darüber eher noch auf der Ebene „Haben wir doch gewusst, dass AKWs nicht sicher sind“ gesprochen. Erst die Tageschau an diesem 30. April, also am vierten Tag nach dem GAU löste Angst aus. Es war von Kernschmelze die Rede und von einer radioaktiven Wolke voller Cäsium-137-Nukliden. Dies ist ein radioaktives Element mit relativ geringem Molekulargewicht und einer Halbwertzeit von 30 Jahren, das von Aufwinden in die Atmosphäre geblasen und von Luftströmungen mitgenommen wird.

Die Wolke des Todes
Plötzlich war überall von der Wolke die Rede. Überall, so hieß es, wo diese Wolke über das Land ziehen würde, wäre anschließend der Boden kontaminiert. Und das sei gefährlich. Ungefähr am Wochenende um den 3. Mai herum war das Fernsehprogramm voll von Sendungen und Nachrichten über die Wolke – plötzlich kannte jeder die Maßeinheit Bequerel. Die Warnungen wurden immer intensiver, aber gleichzeitig auch konfus und seltsam unkonkret. Die offiziellen Stellen haben sich widersprechende Empfehlungen aus, und die kommunalen Verwaltungen reagierten mit unterschiedlichem Grad an Panik darauf. Keiner wusste, was wirklich war.

Heute ist klar, dass DIE Wolke aus dem Dreiländereck Ukraine, Weißrussland und Russland zunächst in südwestlicher Richtung gezogen war, dann aber in größerer Höhe Richtung Nordnordwest schwenkte, sodass die stärkste Belastung durch Fallout in dünn besiedelten oder menschenleeren Gegenden auf Höhe des Polarkreises zu beobachten waren. Über der Bundesrepublik Deutschland gab es kaum Cäsium-137 in der Luft, und die Strahlungswerte von Pflanzen und Erdreich waren immer nur relativ gering erhöht. Trotzdem hieß es, man solle sich nicht auf den nackten Boden legen, und den Kindern wurden die Sandkästen gesperrt.

Etwa eine Woche nachdem die Meldung über die Katastrophe eingetroffen war, begann die Phase der Panikmache und der Gerüchte. Überall wurde gemessen, und nicht wenige Eltern schafften Messgeräte an, um die Lebensmittel auf ihre radioaktive Belastung zu untersuchen. Aber selbst um den 10. Mai herum gab es noch keine konzisen, transparenten Informationen seitens der Bundesbehörden. Das ganze Ausmaß der Katastrophe wurde erst rund zehn, fünfzehn Tage nach dem Unglück klar als die ersten Filmaufnahmen aus Tschernobyl im Fernsehen zu sehen waren.

Kein Salat, keine Pilze, kein Sand
In unserem Kindergarten herrschte nackte Angst um unseren Nachwuchs, denn es hieß, dass es gerade für Kinder unabsehbare Folgen hätte, erhöhter radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen zu sein. Damals sprach sich erstmals herum, dass die in den Fünfzigerjahren auf der Nordhalbkugel geborenen Menschen ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko hätten, weil sie in ihrer Kindheit der Strahlung aus den um den Globus ziehenden radioaktiven Wolken nach oberirdischen Atomwaffenversuchen ausgesetzt waren – eine Prognose, die sich ja bekanntlich aktuell bestätigt. Besonders gefährlich, hieß es, sei die Aufnahme belasteter Lebensmittel. Und am schlimmsten sei Salat…

Niemand kaufte mehr Blattsalt – auch wenn der aus holländischen Gewächshäusern stammte. Dann hieß es plötzlich, im bayerischen Wald sei ganz viel radioaktives Material niedergegangen, und niemand kaufte noch Lebensmittel aus dem östlichen Bayern. Pilze, sagte man, könne man über Jahrzehnte nicht mehr essen, weil die radioaktiven Isotope kumulierten. Bei Mineralwasser habe man vorsichtig zu sein, und Wein, ja, bei Wein wisse man noch nicht so richtig.

Am schlimmsten für die Kinder war aber die Sperrung der Sandkästen. In Düsseldorf hatte man Mitte Mai begonnen, den Sand in ALLEN Kisten der Stadt auszuwechseln. Wo noch alter Sand war, da standen Verbotsschilder. Aufgeklärt über das tatsächliche Risiko wurden wir Bürger jedoch nicht. Und so kam es – nach meiner Erinnerung – um den 22. Mai herum zu einer Kinderdemo vor dem Rathaus, bei dem unsere Zwerge Papptafeln zeigten auf denen Stand „Wir wollen wieder in unserem Sandkasten spielen“ – das Foto davon fand sich danach deutschlandweit in den Medien.

Die Kinder von Tschernobyl
Bis weit in den Sommer hinein veröffentlichten die Zeitungen täglich Tabellen mit den aktuell gemessenen Bequerel-Werten verschiedener Lebensmittel verschiedener Herkunft. Da wurde schon deutlich, dass unsere Region in dieser Hinsicht so gut wie nicht betroffen war. Tatsächlich waren Milchprodukte aus Süddeutschland zunächst am stärksten betroffen, wobei die Werte in der Regel knapp unterhalb der Bedenklichkeitsschwele lagen. Und natürlich beruhigte sich die Lage irgendwann.

Dafür wurde immer deutlich, welche Ausmaße die Katastrophe vor Ort angenommen hatte. Die Menschen von Pripjat, heute eine Geisterstadt, waren evakuiert und in entfernte Gegenden ausgesiedelt worden – meist ohne jedes persönliche Eigentum und natürlich ohne je entschädigt worden zu sein. Erste Bilder von Kindern mit massiven Strahlenschäden wurden gezeigt, und eine Welle der Hilfsbereitschaft kam in Gang. Initiativen entstanden, die Kinder aus Tschernobyl zur Erholung nach Deutschland holten, entstanden, und die ersten elternlosen Kindern aus der Region wurden von deutschen Paaren adoptiert.

Die Anti-AKW-Bewegung
Für uns alte Atomkraftgegner empörend war die damals vorherrschende Berichterstattung, die uns weismachen wollte, eine Katastrophe wie die von Tschernobyl sei im Westen nicht denkbar, bei uns sei Atomkraft sicher. Niemand weiß, wie viele Millionen die Atomlobby damals und in den Folgejahren in die Pro-AKW-Propaganda gesteckt hat. Die leider auch wirkte, denn schon zwei Jahre nach dem GAU sprach kaum noch jemand von Tschernobyl. Und die Anti-AKW-Bewegung hatte durch die Ereignisse vom April 1986 auch keinen wirklich großen Zulauf erhalten.

Ob unsere Kinder, 1980 und 1985 geboren, durch die freigesetzte Strahlung irgendwelche Schäden genommen haben, werden wir wohl nie erfahren. Erst jetzt nach 30 Jahren werden die überraschenden Auswirkungen der freigesetzten Radioaktivität auf die Biosphäre sichtbar. Ganz offensichtlich haben Säugetiere relativ wenige Schäden am Erbgut erfahren, und Menschen, die illegal in der Sperrzone geblieben sind, leben dort gesund und munter. Vom Cäsium der Wolke kreist immer noch die Hälfte um den Globus, und erst in 300 Jahren werden die Nuklide soweit zerfallen sein, dass von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht. Dafür werden die schweren Isotope in den Ruinen des AKW noch in Jahrtausenden gefährlich sein – der Sarkophag, der mehrere Milliarden gekostet hat und dieses Jahr angebracht sein wird, muss alle hundert Jahre komplett ersetzt werden, weil er dann selbst so stark belastet ist, dass er zur Gefahr wird. Die Sperrzone wird frühestens in ca. 15.000 Jahren wieder besiedelbar sein. Wer weiß, ob die Menschheit dann überhaupt noch existiert.

[Foto: „Atomwolke“ – eine ungewöhnliche Wolkenformation über Oberbilk, aufgenommen am 22.04.2016]

Kommentare sind gesperrt.