Wie schon erwähnt stammt meine Mutter aus dem ostpreussischen Tapiau, einer kleinen Kleinstadt am Zusammenfkuss von Pregel und Deime, die dadurch weltberühmt ist, dass hier der große Maler Lovis Corinth geboren wurde. Ihr Vater war Beamter und arbeitete als Gärtner bei der ansässigen Klinik für psychisch Kranke. Die Großmutter war Masurin und soll von sich selbst gesagt haben: „Nu, ech ben en ächtes Trakehner Jeblüt“. Meine Mutter war die Jüngste von sieben Geschwistern. Die uneheliche Tochter ihrer ältesten Schwester (Oh, welche Schande!) lebte als achtes Kind in der Familie. Sie war zwar die Tante meiner Mutter, aber ein paar Monate jünger als diese. Die Großmutter war immer hin schon 44 Jahre als meine Mutter als Nesthäkchen geboren wurde. Nicht ungewöhnlich für ein Mädchen des Jahrgangs 1921 in der Provinz ist die Tatsache, dass meine Mutter lediglich vier Jahre Volksschule als Ausbildung vorzuweisen hatte. Vermutlich absolvierte sie diese zwischen Ostern 1928 und Ostern 1933. Mit 14 kam sie dann – wie man damals sagte – in einen Haushalt, wurde also sozusagen Haushaltshilfe ohne Ausbildung.
Zeit ihres Lebens war ihr Mangel an Bildung nicht zu übersehen. So hatte sie ernsthafte Probleme mit dem Lesen und Schreiben, und ich habe sie nie in einem Buch lesen gesehen. Da sie in der Volksschule nur die 1915 in Preussen eingeführte „deutsche Schrift“, das so genannte Sütterlin erlernt hatte, verfasste sie Einkaufszettel in einem schwer entzifferbaren Gemisch aus Sütterlin-Buchstaben, lateinischen Buchstaben und Abkürzungen, die im Handel gängig waren. Natürlich wurde meine Mutter spätestens im Sommer 1933 Mitglied des BDM (Bund Deutscher Mädel), dem weiblichen Pendant zur Hitlerjugend. Sie erzählte uns bisweilen von den wunderbaren Abenden im Kreise der BDM-Freundinnen.
BDM und Arbeitsdienst
Weniger wunderbar wurde es, als die BDM-Mitglieder ab Anfang 1940 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen wurden; die jungen Frauen zum Teil in sozialen Bereichen, zum Teil in der Rüstungsindustrie und schließlich auch zum Kriegsdienst. Meine Mutter erhielt in Hildburghausen in der Rhön eine Ausbildung zur Telefonistin. Selbstverständlich wurde der Fernsprechverkehr in den Kriegsjahren von Hand vermittelt – sie wurde so zu sagen „das Fräulein vom Amt“ hinter der Front. Auf entsprechenden Fotos sieht man Frauen mit Kopfhörern vor Pulten sitzen, die mit Hunderten Buchsen versehen waren, in die sie die Stecker der Kabel platzieren musste – je nachdem, wer von wo aus anrief und wohin derjenige telefonieren wollte.
Den größten Teil ihrer „Karriere“ verbrachte meine Mutter in Minsk. Das war und ist die Hauptstadt von Weissrussland (Belarus), die rund 570 östlich ihres Heimatorts Tapiau liegt. Alles in allem war der Kriegsdienst für meine Mutter – jedenfalls laut ihrer Berichte – eine ganz schöne Zeit. Sie hatte zu tun und wurde versorgt. Nachdem die rote Armee sich Minsk auf etwa 100 Kilometer genähert hatte, wurde meine Mutter nach Polen verlegt; im Dezember 1944 ging sie auf Urlaub nach Hause, um nie wieder an die Arbeit zurückzugehen. Ihr Vater starb noch vor der Flucht, die sie in den ersten Tagen des Jahres 1945 zusammen mit der Großmutter nach Schleswig-Holstein führte.
Meine Mutter hat Europa nie verlassen. Ja, eigentlich ist sie auch nie wirklich weit gereist. Unsere Familienferien verbrachten wir entweder bei Oma in Nordfriesland oder in Bayern. Nur einmal, es wird wohl 1963 gewesen sein, machten meine Eltern gemeinsam und ohne uns Urlaub. Sie fuhren mit einem befreundeten Ehepaar nach Kärnten – das war für meine Mutter eines der größten Abenteuer ihres Lebens. Und doch muss sie auch so etwas wie Fernweh gekannt haben, denn sie war es, die immer wieder gern einen Sonntagsausflug zum Düsseldorfer Flughafen vorschlug.
Flughafen Düsseldorf
Bekanntlich wurde in der Gegend, in der sich heute der „Airport“ Düsseldorf International befindet, schon 1909 ein Flugfeld für Luftschiffe betrieben. Heute liegt der Flughafen zwischen den Stadtteilen Kalkum, Unterrath, Lichtenbroich und Lohausen – letzterer Ort gab ihm lange den Namen. So wie es früher „Zürich Kloten“ hieß, war dieser Flughafen als „Düsseldorf Lohausen“ bekannt. Ursprünglich erstreckte sich hier die Golzheimer Heide, ein ausgedehntes Brachland, das vom Militär für Manöver genutzt wurde. 1927 wurde dann offiziell das Flugfeld eröffnet – übrigens gegen den Widerstand der preußischen Regierung, die es lieber gesehen hätte, wenn Köln oder Essen den ersten „echten“ Flughafen in der Rheinprovinz bekommen hätte.
Der Flugplatz wurde bald stark frequentiert und 1933 von der Lufthansa als wichtiger Standort genutzt. Im Dezember 1944 zerstörten britische Bomben sämtliche Hallen, den Tower und alle Nebengebäude. So kam es, dass der internationale Flughafen Düsseldorf nach dem Krieg und bis weit in die fünfziger Jahre hinein ein Provisorium aus Baracken und Wellblechhallen war. Mit wachsendem Luftverkehr wurde nach und nach an-, um- und zugebaut. Abfertigungshallen entstanden, und 1969 wurde ein Hauptgebäude errichtet, auf dessen Dach man eine Zuschauerterrasse errichtete. Wie man auf dem Foto erkennen kann, war es damals kein Problem, sich dem Flugfeld auf ein paar Meter zu nähern, und nach dem Überwinden eines einfachen, hüfthohen Maschendrahtzauns wäre man gleich bei den parkenden Maschinen gewesen. Man konnte übrigens auch Besichtigungsfahrten machen, bei denen man im VW-Bully einmal rund ums Gelände chauffiert wurde. Aber am nettesten war es, auf der Terrasse bei Kaffee und Kuchen zu sitzen, den startenden und landenden Flugzeugen zuzusehen, den Ansagen zu lauschen und davon zu träumen, auch mal wegzufliegen.
Natürlich konnten wir Jungs die verschiedenen Fluggesellschaften (von denen es viele schon längst nicht mehr gibt) unterscheiden: Lufthansa, Sabena, SAS, BOAC, KLM, Alitalia, Air France, Panam und so weiter – ich dachte, es wäre so, dass jedes Land eine eigene Linie haben müsse. Natürlich kannten wir auch ein paar Flugzeutypen, allen voran die wunderbare Super Constellation, den viermotorigen Überseeclipper für die Reichen und Schönen. Wie das Fliegen uns ja in den frühen sechziger Jahren als ungeheures Privileg für Filmschauspieler, Schlagersänger, Politiker und Wirtschaftskapitäne vorkam. Kaum jemand flog damals in Urlaub, das war viel zu teuer. Und an Bord einer Super Constellation für den Flug nach New York (mit Zwischenstopps in Shannon und auf den Azoren) gab es sogar Schlafkabinen. Auf dem Foto ist eine DC-6 der Lufthansa zu sehen, die erste Douglas-Maschine, die dank Druckkabine für Transatlantikflüge eingesetzt werden konnte.
Deren Vorgängerin war die legendäre DC-4. Ein Flugzeug dieses Typs sorgte im November 1957 für das erste und bisher einzige Fliegereiunglück in Düsseldorf. Kaum drei Minuten nach dem Start und weniger als vier Kilometer entfernt vom Flugfeld stürzte das Flugzeug brennend im Kleingartengelände In der Lohe ein. Die Maschine gehörte dem Busunternehmer Herfurtner, der seinerzeit einer der ersten war, der Charterflüge in den Süden anbot:
Die Maschine jedenfalls sackte mit zwei stehenden Motoren und zu früh eingezogenen Startklappen durch, berührte das Dach eines Gebäudes und zerbarst in dem Schrebergartengelände. 12 000 Liter Benzin strömten aus den zertrümmerten Tanks und entzündeten sich. Acht Menschen kamen um, darunter Luftreeder Herfurtners und Flugkapitän Stahnkes Töchter, die als Stewardessen an Bord waren. [Quelle: Der Spiegel Nr. 48/1957]
Wie es der Zufall will, wohnte meine Tante nicht weit entfernt vom Unfallort, und zufällig verbrachte ich das Wochenende bei ihr. Dass sie mich knapp Fünfjährigen aber mitnehmen musste, um die Katastrophe zu begaffen, habe ich ihr nie verziehen. Denn der Anblick der noch rauchenden Trümmer hat mich über Jahrezehnte verfolgt und mir einen Traum beschert, der dann am 11.09.2001 in New York Realität wurde: Ich stehe auf der Terrasse unserer Wohnung an der Lennéstraße und blicke über das Gelände des Güterbahnhofs hinweg in Richtung Zoopark. Dort steht das Hochhaus an der Brehmstraße. Plötzlich dröhnen über mir Motoren, und ein großes Propellerflugzeug donnert über meinen Kopf hinweg. Ich sehe es in geringer Höhe über die Gleise fliegen. Es schlägt in das Hochhaus ein, das in einer gewaltigen Explosion verschwindet. Diesen Traum hatte ich – das lässt sich anhand von Tagebucheinträgen prüfen – etwa mit 14 Jahren zum ersten Mal und eine Woche nach 9/11 zum bislang letzten Mal…
[Dieser Artikel erschien zuerst am 11.03.2010 im Vorgänger-Blog „Rainer’sche Post„.]