Bericht · „Alle wollen plötzlich singen. Vom Teenager bis zum Rentner. Eigentlich nicht verwunderlich, denn, Corona sei Dank, die Leute haben plötzlich viel Zeit. Das Fitness-Studio hat zu. Ausgehen, Tanzen, die Einkehr mit ein paar Freunden, all das ist nicht möglich. Die Menschen, die zu mir kommen, sind auf der Suche; sie spüren, dass ihnen etwas fehlt.“ Sarah empfängt mich in ihrem Studio mit Blick auf den Innenhof; trotz geöffneter Fenster herrscht wohltuende Ruhe. „Ohne den Gesangsunterricht säße ich finanziell tatsächlich auf dem Trockenen.“ [Lesezeit ca. 5 min]
Sarah hat am Schreibtisch in der Nähe des Fensters Platz genommen. Ich sitze (selbstverständlich mit Abstand) auf der „Bühne“. Zwei rote Samtsessel, ein goldgelber Vorhang und ein kleiner, runder Tisch – ein wenig Flair, ein kleiner „Hauch der großen, weiten Welt“. Direkt daneben in separatem Raum: ein professionelles Tonstudio. „Musik hat was mit Magie zu tun. Wer singt, spürt seinen Körper. Die Gedanken fokussieren sich auf den Song, den man gerade singt. Alles andere wird unwichtig.“ Eigentlich ist Sarah eine begehrte Künstlerin. Sie moderiert Events und Shows; tritt selbst als Solistin auf. Sie bezeichnet sich als „Crossover-Musikerin“, die überall, sei es Klassik, Pop, Jazz oder Rock, zu Hause ist.Unterstützt TD! Dir gefällt, was wir schreiben? Du möchtest unsere Arbeit unterstützen? Nichts leichter als das! Unterstütze uns durch das Abschließen eines Abos oder durch den Kauf einer Lesebeteiligung – und zeige damit, dass The Düsseldorfer dir etwas wert ist.
Die verlorene Leichtigkeit des Seins
„Natürlich hat sich mein Leben durch Corona schlagartig verändert. Der erste Lockdown war noch nicht einmal so schlimm. Davor war ich im Dauerstress, ständig auf Reisen. Endlich hatte ich mal Zeit für mich selbst. Ich habe mich und meinen Tourneeplan kritisch hinterfragt. Und ich war guter Hoffnung, dass sich schnell Alternativen auftun werden.“ Sie lächelt bitter. „Ja, auch ich habe auf dem Balkon gesungen. Natürlich war es schön, die eigene Stimme wieder mal über das Mikrofon zu hören. Aber die Anlage war zu klein, das Publikum so weit weg. Was blieb? Wehmut und Sehnsucht nach besseren Zeiten.“
Schon im ersten Lockdown hätten viele Künstler mit Streaming experimentiert, so erzählt sie weiter. Voller Optimismus. Die Internetseite Konzerte-im-Livestream von Park-Kultur bezeugt dies eindrucksvoll. Namhafte Persönlichkeiten aus Musik und Theater haben Auftritte online gestellt, die nach wie vor abrufbar sind. Unter ihnen die Tenöre Ricardo Marinello und Andreas Schönberg, deutschlandweit bekannte Sänger.
30.000 Klicks! Aber die Macher gehen leer aus
„Beim Streaming ist man sofort mit dem Produkt beschäftigt. Man sucht und findet Fehler. Man hätte ja dies oder jenes noch viel besser machen können! Die Anzahl der Klicks? Ein schwacher Trost und eine bittere Pille zugleich. Denn was sind schon 30.000 Klicks gegen ein Live-Konzert, bei dem Akteure und Publikum zu einer Einheit verschmelzen; bei dem der Künstler vom Publikum getragen über sich selbst hinauswächst.“
Gravierendes Manko des Streaming im Generellen: die fehlende Bezahlung. 30.000 Klicks, das sind 30.000 Menschen, die eine Leistung erhalten und nicht dafür bezahlen. Aus Sicht der User: „Warum auch, wenn es mal etwas umsonst gibt.“ Und „Wer etwas hochlädt, sollte wissen, dass mit Freigebigkeit der User nicht zu rechnen ist.“ – „Für die prekäre Lage, in der sich Kunstschaffenden aktuell befinden“, seufzt Sarah, „gibt es leider wenig Verständnis.“
Unter dem Titel Backstage Talk lädt Sarah Musikerkollegen zu sich ins Studio vor die laufende Kamera ein. Das Thema der Interviews ist der Umgang mit dem beruflichen Lockdown. Sie erzählt von einem Bekannten, der mit einer Firma (Lichtdesign) Pleite gegangen sei. Er habe mittlerweile eine neue Firma gegründet und arbeite für große Firmen in der Produktwerbung. Der ein oder andere Musiker, der sich rein auf Tournee und Bühnenarbeit konzentriert habe, wäre dabei, sich aus dem Business zu verabschieden. Einer hätte eine Ausbildung zum Versicherungsvertreter begonnen.
Einmal Künstler, immer Künstler?
„Noch gar nicht lange her, da hätte ich gesagt: Einmal Künstler immer Künstler. Aber heute? Denn sowohl ich als auch die Künstler, die ich kenne, erleben aktuell schwere Zeiten. Und trotzdem: wir wollen uns solidarisch zeigen. Aber auch wir sind diejenigen, die Solidarität brauchen. Allein diese 9.000 Euro Zuwendung. Das ist, als wenn dir jemand ein leckeres Buffet auf den Tisch stellt. Allerdings mit einem großen Schild versehen: ‚Essen verboten!'“
Hintergrund hierzu: Die staatliche Zuwendung darf nur für nachweisbare Ausgaben wie Miete und Investitionen verwandt werden. Werden die Gelder für den Lebensunterhalt zweckentfremdet, müssen sie zurückgezahlt werden. Freischaffende Künstler erhalten somit (entgegen offizieller Verlautbarung) eigentlich kaum Unterstützung. Sie sind gezwungen, von ihren Rücklagen zu leben oder rutschten in Harz IV ab. „Das ist ungerecht und respektlos; nicht nur uns gegenüber, sondern dem kulturellen Leben unserer Gesellschaft im Generellen. Was bleibt denn schon, wenn man die Kultur aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt? Eine Welt ohne Magie, eine Welt ohne Visionen und Zauber.“
Gesellschaft ohne Kultur ist eine Gesellschaft ohne Seele
Der letzte Lockdown sei auf kultureller Ebene eine politische Entscheidung, die aus Sarahs Sicht unbedingt korrigiert werden müsste. „Da ist es schon ein Schlag ins Gesicht, wenn man sieht, wie sich die Leute in den Shops auf der KÖ drängeln, sich dicht an dicht durch die Verkaufsräume von Ikea schieben, während die Theater, Museen und Kulturveranstaltungen selbst mit ausgeklügelten Hygienekonzepten unter Generalverdacht gestellt und geschlossen werden.“ Noch einmal stellt sie fest, dass sie solidarisch sein will. Doch ein kleines Flämmchen des Aufbegehrens bahnt sich den Weg. Denn ein dritter Lockdown wäre verheerend für die gesamte Kulturszene, für sie und ihre Kollegen. Wenn sich die Organisation Alarmstufe Rot sich weitere Aktionen überlegt, um den Stimmen aus der Kunst und Kulturbranche Gehör zu verschaffen, dann wäre sie eine der ersten, die nach Berlin ginge.
Doch schnell lenkt sie ihren Blick nach vorne: „Wohin wird die Reise gehen? Sicher wird viel im Bereich von Podcasts passieren. YouTube-Shows, Spotify und Downloads. Aber zumindest für mich wird das Medium Computer nur ein müder Abklatsch sein. Nicht zu vergleichen mit dem Zauber, der von Live-Musik und dem gemeinsamen Musizieren ausgeht.“ – „Auch die Leute, die hier bei mir Unterricht nehmen, sehnen sich nach dem Live-Feeling. Sie wollen Körperlichkeit und Präsenz. Das jemand sich ihnen zuwendet, ihnen zusieht.“ Sie überlegt: „Die heutige Jugend wird das vielleicht anders sehen. Sie wächst damit auf.“ Und nach einer kurzen Pause mit einem Lächeln: „Aber die Körperlichkeit und Präsenz auf der Bühne, das Spüren der Energie, kann niemals durch das Virtuelle ersetzt werden.“
Singen wie ein Profi – Vocals and more : Sarah Bouwers gibt Gesangsunterricht auf der Oststraße