Story · Das Titelbild zeigt den polizeilich erzwungenen Auszug von Beuys und seinen Studenten aus dem über Tage besetzten Sekretariat der Kunstakademie Düsseldorf. Das war im Oktober 1972 zu Beginn des Wintersemesters. Ich war eher zufällig Teil der Aktion, weil ich mich am Vortag hatte einschreiben wollen, aber in die Besetzung geriet und die Sache lustig, spannend und richtig fand. So erlebte ich Joseph Beuys erstmals in echt. Konnte aber nicht ahnen, dass er einer von zweien wichtigen Lehrern in meinem Leben sein würde. Der andere war Dr. Reinhold Feuerstein, Mathematik- und Biologielehrer am Leibniz-Gymnasium Düsseldorf, bei dem ich acht Schuljahre lang Unterricht hatte. Dazu später mehr, denn es gibt mehr als eine Verbindung zwischen Feuerstein und Beuys.[Lesezeit ca. 9 min]

Mein Weg zur Kunst führte über die Mutter meines besten Freundes, Barbara W.. Sie war Kostümbildnerin am Düsseldorf Kom(m)ödchen, dem legendären Kabarett in Düsseldorf. Mein Freund Jörg jobbte gelegentlich im Kom(m)ödchen, und eines Tages – wir waren wohl so um die 16 Jahre alt – wurde ich dort auch zum Helfer. Unsere Aufgabe bestand darin, das Bühnenbild abzubauen und zu verladen, wenn die Truppe Gastspiele gab, so genannte „Abstecher“. Und auch das Ausladen und Wiederaufbauen erledigten wir. So wurden wir Teil der Kom(m)ödchen-Familie, denn anders hätte man den Geist des Hauses nicht nennen können.

Am Kom(m)ödchen

Nachdem im Leibniz-Gymnasium eine ziemlich liberales Klima herrschte, waren wir Jungs in der Untersekunda (entspricht der 10. Klasse heutiger Rechnung) im Jahre 1968 politisch interessiert und auch an den verschiedensten Formen der Kultur. Das alles mit Energie, aber auch viel Spaß und Party im Umfeld. Und in der Kom(m)ödchen-Familie gab es nur zwei Themen: Politik und Kunst. Wir Helfer waren in die Diskussion vollkommen eingebunden, und ich erinnere mich noch sehr intensiv an die Proben zum Programm von 1969. Es hieß „Es geht um den Kopf„, intern kurz Kopf-ab-Programm genannt. Das Bühnenbild bestand aus wenig mehr als einem Stahlgestell, in dem eine stilisierte Rasierklinge sowohl als Guillotine, als auch als Sitzplatz benutzt werden konnte.

Vielleicht war dies das politischste (sofern man dieses Adjektiv überhaupt steigern kann…) aller Kom(m)ödchen-Programme, denn viele literarische und spielerische Elemente vorhergehender (und leider auch späterer) Programme fehlten. Kay und Lore Lorentz war es ernst, das merkte man. Die Nummern waren entstanden in der Zeit der Großen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger, einem Mann mit Nazi-Vergangenheit, der sich immer um seine Verantwortung gedrückt hatte. Und recht eigentlich sollte das Kopf-ab-Programm ein bisschen Bundestagswahlkampf für die Sozen werden, aber im Kom(m)ödchen wurde die Rolle der SPD während der Großen Koalition sehr kritisch gesehen. Und so entstand ein Programm, dass den Begriff der Aufklärung mit großem Ernst ins Zentrum stellte und den Bürger dazu aufforderte, selbst zu denken und sich weder von den Medien, noch den Politikern verarschen zu lassen – also nicht den Kopf zu verlieren.

Teenage Art statt Teenage Fair

Wir jungen Burschen sahen das als die eine Seite der Medaille. Die andere war für uns die vollkommene indviduelle Freiheit in der Kunst. Bei Jörgs Mutter hatten wir Zugriff auf eine riesige Bibliothek an Kunstbänden zu jeder Epoche und jedem Stil. Wir saßen mit ihr im Wohnzimmer, hörten avantgardistische Musik (z.B. heute kaum noch auffindbare elektronische Musik der frühen Sechziger…) und diskutierten über Kunst. Wir Jungs gingen in jedes erreichbare Museum und jede denkbare Ausstellung. Bald hatten wir einige Künstler kennengelernt und lungerten gelegentlich in deren Ateliers herum. Jörg selbst hatte einen Fernkurs Malerei absolviert und selbst mit dem Malen begonnen. Mein Metier war eigentlich mehr das Schreiben, aber ich ließ mich anstecken und verfertigte stark epigonale Werke der Richtungen „action painting“, „environment“ und so weiter. Nachdem es im Spätherbst 1969 auf dem Düsseldorfer Messegelände eine Kommerzveranstaltung namens „Teenage Fair“ gegeben hatte, schlossen wir uns einer Gruppe an, die als Gegenentwurf die „Teenage Art“ veranstaltete, eine Kunstausstellung für Künstler im Teenage-Alter, die im Haus der Jugend an der Lacombletstraße im Winter 1969/70 stattfand.

Jörg und ich bespielten einen mittelgroßen Raum. Wir hatten die Wände teilweise mattschwarz angestrichen oder mit schwarzem Bühnenstoff verhängt. Die Fenster waren schwarz verklebt. Er hatte damals eine Phase, in der Reliefs aus Alufolie formte und dann bemalte. Diese Bilder hingen, einzeln beleuchtet, an der Wand. Ich hatte eine Installation verfertigt, die aus einem mit schwarzem Samt bedeckten Tisch bestand, auf dem sich eine Sammlung eiserner Werkstücke befand, die mein Bruder im Laufe seiner Lehre als Industriekaufmann im handwerklichen Bereich gefeilt hatte. Dazu ein paar metallene Fundstücke. Highlight war aber ein schwarzer Kasten von der Grüöe einer kleine Kommode mit einem Loch auf Kopfhöhe. Betrachter steckten den Kopf hinein, schoben dabei einen Samtvorhang beiseite und fanden sich in einem schwarzen Raum, der mit wenigen roten Lämpchen erleuchtet war. Hier hingen Ketten verschiedener Art (für Wannensöpsel, aus Büroklammern etc.), und wer seine Birne weit genug hineinsteckte, konnte die Ketten berühren.

Kunstakademie Düsseldorf

Natürlich unterstützte die Kom(m)ödchen-Familie uns moralisch und praktisch – zum Beispiel mit dem Material für diese Ausstellung. Wir waren sozusagen die Ziehkinder. Im Sekretariat tat eine Dame Dienst, die – so meine ich mich zu erinnern – nur „Mi“ genannte wurde. Also gingen wir zur Mi, wenn wir unseren Lohn abholen sollten. Und die gab es uns Rat in allen Lebenslagen. Zum Beispiel als Jörg einen ziemlich heftigen Liebeskummer hatte. Aber auch die Frage nach dem weiteren Lebensweg wurde bei ihr diskutiert. Jörg landete auf Anhieb auf der Kunstakademie in Hamburg in der Bühnenbildklasse des legendären Bühnenbildners Wilfried Minks. Nachdem er weg war, hing ich kulturell ein bisschen durch und trieb mich 1970 und 71 eher in politischen Kreisen herum. Mir war klar, dass nur eine irgendwie künstlerischer Beruf für mich in Frage kam, und da ich aus den alten Tagen wusste, was für ein hochenergetischer, künstlerischer Ort die Akademie war, begann ich auch, dort öfter hinzugehen und einfach zu gucken, was da so geht.

Schließlich verfertigte ich in den Tagen nach dem Abitur eine Mappe, mit der ich mich bewarb. Der Inhalt bestand aus irgendwie surrealistisch angehauchten, großformatigen Bleistiftzeichnungen. Da mir zum freien Künstlertum der Mut fehlte, hatte ich angegeben, Kunst als Lehramt zu studieren, um später dann Lehrer zu werden. Ich glaube, den Ausschlag, mich wirklich an der Kunstakademie zu bewerben, hatte ein Erlebnis im Sommer 1971 gegeben. Es war ein warmer Tag, und im Gang im Erdgeschoss der Akademie flirrte der Staub im Licht der großen Fenster mit den Metallsprossen. Hier hatte Joseph Beuys seinen Klassenraum. Da er in seiner Klasse fast 200 Studenten zugelassen hatte, hatten seine Leute weitere Räume und eben diesen Gang okkupiert. Dort lagerte Material, dort standen Sofas herum und Tische, dort standen und saßen Beuys-Schüler und diskutierten. Und genau da saßen an diesem Tag Anatol Herzfeld und Jörg Immendorff, der damals schon längst der Akademie verwiesen war. Aus einem großen alten Radio dröhnte Rock’n’Roll-Musik vom 10-Platten-Wechsler. Die beiden diskutierten und drei, vier jüngere Typen hörten zu.

Anatol war ja da schon über 40. In Düsseldorf kannte den jedes Kind, denn eigentlich war der Verkehrspolizist und als solcher jahrelang der Puppenspieler, der mit dem Verkehrskaspar durch die Schulen zog, um den Kindern beinzubringen, wie sie den Straßenverkehr überleben könnten. Eigentlich war dieser Ostpreuße (der mich äußerlich immer sehr an Lovis Corinth erinnerte…) gelernter Schmied, und das sah man ihm auch an. Mit Vorliebe demonstrierte er ganz praktisch, was aus seiner Sicht eine Plastik ist: Im Stile des Seewolfs (Raimund Harmsdorf) nahm er eine rohe Kartoffel und zerquetschte sie mit einer Hand. Dann sagte er mit seiner dröhnenden Stimme und dem deutlich ostpreußischen Akzent: „Was da rauskommt, das ist die Plastik!“

Joseph Beuys als Künstler

Es gab in jenen Jahren zwei Wege, Student der Kunstakademie zu werden. Entweder man reichte eine Bewerbungsmappe ein oder man schrieb sich direkt bei Beuys ein. Dass Beuys dies zuließ, war die direkte Folge seiner Erkenntnis, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Und auch der Einsicht, dass jeder Mensch Lehrer und Schüler zugleich ist. Letzteres drückte er in einem Gespräch einmal ungefähr so aus: Wenn ein paar Menschen zusammensitzen und diskutieren, dann ist immer derjenige Lehrer, der gerade redet, und alle die Zuhören, sind in dem Moment die Schüler. Im Verlauf des Gesprächs wechselt das, das Lehrer-Schüler-Verhältnis oszilliert. Aus dieser Perspektive betrachtet war es Beuys völlig unmöglich, Menschen, die studieren wollten, abzuweisen. Natürlich löste er damit den Widerstand der alten Akademie aus. Die war traditionell extrem elitär verfasst – allein die Tatsache, dass Professoren bis zu 30 Studenten in ihrer Klasse haben konnten, war vielen ja geradezu revolutionär erschienen. Der damalige Akademiepräsident Norbert Kricke hatte nie mehr als zwölf Schüler. Die Vorstellung, in der Akademie demokratische Strukturen zu haben, kam den meisten Professoren absurd vor.

Natürlich brachte die enorme Zahl Beuys-Studenten auch logistische Probleme mit sich, die Beuys aber weitestgehend und vor allem auf eigen Kosten löste, indem er weitere Räume außerhalb der Akademie anmietete und von den Studenten nutzen ließ. Die Studenten selbst hatten ein basisdemokratisch angelegtes System aus Tutoren eingerichtet, das den neuen Studenten half, sich zurechtzufinden. So wurden Stundenten zu Lehrern.

Tatsächlich war ich Beuys einige Jahre zuvor zufällig und ganz kurz einmal persönlich begegnet, hatte mich aber nicht getraut, ihn anzusprechen. Das war im Vorfeld der legendären Ausstellung „Projekt 68“ in der Düsseldorfer Kunsthalle. Die sollte einen Querschnitt durch die aktuelle und vor allem gesellschaftlich orientierten deutschen Kunst jener Zeit bieten. Und war dementsprechend im Übrigen auch ein völlig disparater Gemischtwarenladen zwischen Pop und eben Beuys. Das Theater des Kom(m)ödchens befand sich nach seinem Umzug im Frühjahr 1967 im Gebäude der gerade fertiggestellten Kunsthalle am Rande der Düsseldorfer Altstadt. Um das Bühnenbild zu verladen, mussten wir es von der Bühne durch ein gemeinsames Treppenhaus transportieren. Und aus diesem Treppenhaus kamen wir auch unbeobachtet in die Kunsthalle (wir hatten sogar verbotenerweise Schlüssel für die Verbindungstür…).

Also schlich ich mich eines Tages nach dem Ende der Proben in die Kunsthalle rüber und durchstreifte die Räume. Und dann standen sie dann, diese gigantischen Filzstapel mit den Kupferplatten oben drauf. Ich war erschlagen, beeindruckt und … sauer bis hin zur Aggressivität. Was erlaubt sich dieser Clown, dachte ich. Hatte für mich doch Kunst entweder einen handwerklichen oder einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen. Beides konnte ich an diesen Dingern nicht erkennen. Während ich da stand, kam Beuys am anderen Ende des Raums herein. Er hatte Drähte und Holzstücke dabei und begann, diese mit großer Konzentration am Ende des einen Stapels zu drapieren.

Welcher Art Beuys‘ Kunst war und ist, habe ich viel später gelernt und verstanden. Seine Zeichnungen liebe ich und besuche allein deshalb alle paar Jahre die Kunstsammlung NRW, wo ein Teil davon zur Dauerausstellung zählt. Imponiert hat mir die Honigpumpe auf der Documenta 6 (1977). Ein solch einfaches, klares Bild für das Prinzip Arbeit zu finden, das sowohl den Naturaspekt, als auch den Aspekt der menschlichen Schöpferkraft darstellt, kann nicht anders als genial genannt werden.

Joseph Beuys als Lehrer

Tatsächlich wurde ich angenommen mit meiner komischen Mappe. Es hatte sich allerdings kein Professor bereit erklärt, mich in seine Klasse aufzunehmen. Für solche schwere Fälle hatte die Akademie zwei Jahre zuvor den so genannten „Orientierungsbereich“ eingerichtet, wo auch ich unter der Ägide von Beate Schiff landete. Die quälte uns mit allerlei künstlerischen Aufgaben in der Hoffnung, wenigstens ein paar von uns zu vergraulen. Meine Talentlosigkeit im klassischen Sinne erkannte sie bald und quälte mich umso mehr. Immerhin war sie so hellsichtig, mir zu raten, mich auf die Sprache zu verlegen, das sei ganz offensichtlich meine Baustelle. Aber nach zwei Semestern hatte ich auch das überstanden und landete bei Professorin Ellen Neumann.

Der Raum der Orientierungsklasse Schiff lag im Erdgeschoss direkt am Eingang rechts und war folgerichtig Raum 1. Das Stammquartier der Beuys-Klasse war zwei Türen entfernt und lag im Raum 3. Dazwischen lag das Atelier Beuys, also quasi sein Büro in der Akademie. Die Beuys-Schüler waren aber – wie erwähnt – im ganzen Erdgeschoss verteilt, und man konnte ihnen nicht ausweichen. Tatsächlich waren aber die auffälligsten Typen Schüler dieser Klasse. Ich denke da vor allem an Rüdiger Berndt, den Tänzer aus Hannover, der eine permanente Ausstellung seiner Arbeiten im Gang zelebrierte, wobei er auch mal tütenweise abgeschnittene Fingernägel und Haare präsentierte. Der heiratete später und nahm den Namen seiner Frau an. Als Rüdiger Wich wurde er in Düsseldorf bekannter, und seit einigen Jahren firmiert er unter seinem Spitznamen als Tschibbi Wich. In den Siebzigern wirkte er u.a. als Kellner im Ratinger Hof, genau an der Schwelle zwischen der Hippie-Ära und der Rolle der Kneipe als Zentrum des deutschen Punk.

Wir hatten wenig bewussten Kontakt zur Beuys-Klasse. Irgendwie war uns dieser ganze schmuddelige, chaotische Kram auch suspekt. Und nicht wenige Studenten der anderen Klassen waren strikt dagegen, dass Beuys beliebig viele Studenten angenommen hatten und wünschte sich eine elitäre Akademie zurück.

Zu dem Zeitpunkt also, als ich in der Orienierungsklasse schmorte, war Beuys schon vom damaligen NRW-Bildungsminister Johannes Rau entlassen worden. Das hieß: Die Stundenten waren rechtskräftig eingeschrieben, aber lehrerlos. Dieses Dilemma lösten sie ganz im beuys’schen Sinne durch Selbstorganisation und dadurch, dass sich einige Lehrer mit Beuys solidarisch erklärt hatten und dessen Schüler betreuten. Bis zum Ende meines Studiums an der Akademie im Jahr 1976 war der Beuys-Konflikt das bestimmende Thema am Institut. Da konnte selbst der übermächtige MSB Spartakus, der unser Studentenparlament dominierte, nicht gegen anstinken. Die optimal organisierten MSBler (die auch schon mal „vergaßen“, Nicht-MSBler zu Sitzungen einzuladen…) wollten durchaus andere Themen behandelt wissen, aber das fand wenig Gehör.

Natürlich war Beuys trotz der Entlassung sehr oft in der Akademie präsent. Denn das Haus war ein offenes Haus, das niemanden den Eintritt verwehrte, auch entlassenen Professoren nicht. Und das Privileg auf den eigenen Raum hatte ihm Johannes Rau auch nicht genommen. Nur unterrichten durfte Beuys nicht. Im Sommer 1973 hielt er deshalb Stunden auf den Stufen der Eingangstreppe im Freuen ab. Einmal kam ich zufällig hinzu, als da gut dreißig Leute, Beuys mittendrin, auf dem Boden hockten. Eine junge Frau hatte ihr Kaninchen mitgebracht und angeregt durch Beuys entstand eine Unterrichtsstunde rund um das Nagetier, an der sich jeder beteiligte, also jeder Schüler und Lehrer zugleich war.

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