Beuys war vielleicht der wichtigste Lehrer in meinem Leben. Ich begegnete ihm an meinem allerersten Tag als Student der Kunstakademie Düsseldorf, indem ich spontan an der Besetzung des Sekretariats durch ihn und seine Schüler teilnahm. Damit sollte dagegen protestiert werden, dass Beuys nicht mehr alle Bewerber in seine Klasse aufnehmen durfte. Dann erlebte ich ihn einige Male beim Unterricht, bei Diskussionen und Präsentationen. Natürlich schaute ich regelmäßig im Laden der „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ vorbei, die er mit gegründet hatte und wo er regelmäßig anzutreffen war. Als er mit Studenten den Wald fegte, um gegen die Ausdehnung des Bonzentennisvereins in den Grafenberg Wald zu protestieren, war ich dabei. Und dann habe ich drei Jahre in der Gründungsphase der Grünen in stetigem Kontakt mit ihm verbracht. Joseph Beuys war ein warmherziger, humorvoller Mensch, der nach Möglichkeiten suchte, die Menschheit zu sich selbst zu bringen. Wir wussten, dass er erhebliche Zahnprobleme hatte, aber niemand dachte, dass sie zu seinem Tod führen könnten.
Obwohl ich ihm zwischen 1971 und 1984 häufig begegnete, sind mir einige Situationen tief eingegraben. Zum Beispiel als ich ihn zum allerersten Mal sah, ihn aber nicht ansprach. Dabei war ich sehr aufgewühlt und wollte eigentlich Erklärungen von ihm. Es war in der Kunsthalle, wo er gerade die Stücke für eine große Einzelausstellung einrichtete. Unter anderem diese gewaltigen Filzstapel, abgedeckt mit Kupferplatten. Damals jobbte ich gelegentlich im Kom(m)ödchen und hatte über eine Fluchttür Zugang zu den Ausstellungsräumen. Ich sah ihn ganz allein in einem Raum stehen und die Stapel betrachtend. Mich regten die Skulpturen auf, ich fand, das sei keine Kunst. Es muss 1969 gewesen sein, da hielt ich nur klassische Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen für Kunst. Aber ich traute mich nicht, ihn anzusprechen. Später verstand ich dann.
In der Gründungszeit der Grünen war Beuys‘ Atelier in der Kunstakademie regelmßig Ort für interne Diskussionen und Abstimmungen. Die verliefen kaum anders als die Gesprächsrunden von Beuys mit seinen Schülern, die ich ja gut kannte. Dominiert waren diese Versammlungen von den FIU-Leute, also Johannes Stüttgen und den Gelsenkirchenern. Meist ging es darum zu ermitteln, wie man den massiven Einfluss der Ex-K-Gruppen-Mitgliedern inhaltlich zurückdrängen könnte. Zwei- oder dreimal war auch Michael Vesper, heute Vorstandsvorsitzender des DOSB anwesend. Der vertrat schon damals die Realo-Linie und war der sozialdemokratischste Grüne, den es überhaupt gab. Dem entsprechend versuchte er oft, die Diskussion an sich zu reißen – etwas, was Beuys überhaupt nicht leiden konnte. Einmal fiel er dem Typen ins Wort und sagte nur: „Vesper, du bist ein Arschloch.“ Das war das einzige Mal, dass ich ihn über einen Menschen so abfällig habe reden hören.
Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1983 schrieb ich für das Düsseldorfer Stadtmagazin „Überblick“ eine Serie über die Kandidaten der größeren Parteien. Und führte dazu u.a. Interviews mit Wolfgang Schulhoff (CDU), den ich dabei sehr schätzen lernte, und Jürgen Möllemann (FDP), den ich in seiner schleimerischen Art sehr ungenehm fand. Welchen Sozen ich sprach, habe ich vergessen. Das Highlight war aber das Gespräch mit Beuys, der damals Spitzenkandidat in NRW war. Es fand im Dezember oder Januar im Raum 3 der Kunstakademien statt. Mangels Babysitter hatte ich meinen knapp zweijährigen Sohn mit. Der saß anfangs auf meinem Schoß und spielte mit seinen Autos. Weil er dabei unentweg vor sich hin plapperte, sagte Beuys: „Komm, Jung, nimm deine Autos und spiel auf dem Boden weiter.“ Dabei grinste er und zwinkerte dem Sohn zu. Der lächelte Beys an und spielte tatsächlich über eine Stunde mit allem, was er im Atelier so fand. Die Kassette mit der Aufzeichnung besitze ich ebenso wie das von Beuys handschriftlich kommentierte und unterzeichnete Transkript des Interviews.
Bei vier oder fünf Parteitagen auf Landes- und Bundesebene saßen wir – meine damalige Ehefrau war ebenfalls Mitglied und aktiv bei den Grünen – mit Beuys an einem Tisch. Er hatte immer eine Skizzenbuch und mehrere Bleistifte dabei, um sich Notizen zu machen und manchmal auch kleine Zeichnungen. Musste ein Stift gespitzt werden, zog er ein kleines Taschenmesser aus seiner Weste und bearbeitete das Zeichengerät. Einmal hatten wir kleine Frikadellchen als Proviant dabei und boten sie ihm an. Er nahm sich ein Fleischbällchen, zückte das Messer und schnitt es mitten durch. „Sieht gut aus,“ kommentierte er mit einem Grinsen. Und aß dann mehr davon als alle anderen am Tisch. Später wurde Beuys auf dem Parteitag in Geilenkirchen, an dem wir nicht teilnahmen, aufs Übelste von irgendwelchen Realos – also durchweg Ex-Kommunisten und Ex-Sozen – aus der Partei gemobbt. Obnwohl ich dann noch bis 1987 bei den Grünen aktiv war, bedeutete dieser Vorgang das eigentliche Ende meiner Zeit als Parteipolitiker. Die Todesnachricht erfuhren wir aus dem Radio. Sofort rief ich ein paar alte Weggefährten an; alle waren geschockt und für die meisten aus den Gründungstagen der NRW-Grünen war damit das Thema „Alternative“ auch gestorben.