Je nachdem erreichst du einen Bahnhof namens „Leverkusen-Mitte“ mit dem Zug in weniger als 20 Minuten vom Hbf Düsseldorf aus. Mit dem Auto dauert es deutlich länger. Das Ergebnis ist ähnlich: Du landest in der Hölle auf Erden. Wer nie in seinem Leben das „Zentrum“ dieser 1930 entstandenen „Stadt“ persönlich erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie schlimm es ist. Da können die aktuellen Leverkusener wenig für, weil sie nur ausbaden, was kranke Phantasien von Apologeten der autogerechten Stadt ihnen in den Sechziger- und Siebzigerjahren eingebrockt haben. Überhaupt: Nach einem Hickhack im Stille des Flughafen BER knallte man 1912 den armen Einwohnern des Städtchens Wiesdorf ein Riesenchemiewerk an den Rhein – ein Schock, von dem sich die ganze Ecke da nie wieder erholte. 1930 zwangsfusionierte man dann einige der alten Ansiedlungen an einem Bach namens Dhünn zu einer neuen Stadt, die man nach der Arbeitersiedlung „Leverkusen“ benannte, die der offensichtlich größenwahnsinnige Firmengründer nach dem Hof seiner Vorfahren getauft hatte. In der Version 1.0 war das Zentrum der Retortenstadt schon scheußlich; geprägt von einem ungefügen Rathaus und einer öden Fußgängerzone. Seit 2010 gilt Zentrum 2.0, und das muss man sich mal reinziehen, wenn man masochistisch veranlagt ist. Die haben es tatsächlich geschafft, da einen Riesen-Shopping-Klops hinzukacken, in das sich das Rathaus der Stadt einmieten musste. Um alles noch schlimmer zu machen, gibt es eine Passage vom Bahnhof dorthin, die irgendwas mit „Rialto“ heißt. Diese an einem Novemberabend gegen sieben zu durchschreiten, ist wie Walking Dead live.

Dass es also in dieser Ansiedlung des Grauen seit fast 40 Jahren eines der besten Jazzfestivals weit und breit gibt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder. Wenn du mit der Bahn angereist bist und Hunger verspürst, dann sei, sehr, sehr vorsichtig. Gleich am Anfang der erwähnten Passage gibt es ein Etablissement, das irgendwas mit „Chicken“ im Namen führt. Hier servierte man mir am vergangenen Sonntag die mit Abstand ekligste Currywurst, die in einer widerlichen Soße schwamm. Die dazu gereichten Pommes spotteten jeder Beschreibung – wie man aus Industriefritten in einer Industriefriteuse eine solche Scheiße erzeugen kann, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Alltags gibt es das exakte Gegenteil dazu. Ziemlich verstekt und gegenüber dem Eingang vom Kinodingsbums bietet eine nette ältere Damen Currywurst mit Pommes an, der man anmerkt, dass sie mit Liebe arbeitet. Entsprechend beliebt ist die Bude, und die Mahlzeit versöhnt ein wenig mit dem architektonischen und einzelhändlerischen Wahnsinn, der einen umgibt.

Es kommt noch schlimmer. Besonders im Dunkeln. Denn nun musst du über die merkwürdig geschwungene Y-Brücke rüber zum Forum. Nach der Überquerung einer dieser Stadtschnellstraßen, von denen der Ort mehrfach durchzogen ist, wird’s duster, und in den Ecken hocken merkwürdige Gestalten. Endlich siehst du Licht, es ist der Eingang zum „Forum„. Das habe ich mir dann auch mal bei Licht sowie auf diversen Fotos angeschaut. Es handelt sich um einen aus unerfindlichen Gründen sechs- bis achteckigen Betonbau auf einem Parkhaus, an das rechts eine Art Restaurant angeflanscht wurde. Den Baustil nennt man wohl „sozialdemokratisch“. Die Außenseite ist garantiert menschenabweisend, und du wirst froh sein, reinzukommen. Wobei es drinnen auch nicht netter wird, denn dei Baumeister haben so ziemlich alles mit billjem Marmor verhaust, was dem Foyer einen Hauch Badeanstalt verleiht. Dort stellt ein Autohändler Jaguare und Range Rovers aus, weil Sponsor und so…

Forum und Terrassensaal
Kommen wir in den sogenannten „Terrassensaal“, einen weiteren Albtraum aus Marmor und Dutzenden eigenartigen Winkel, der immerhin über eine ziemlich große Bühne verfügt. Und wenn sich dann alles gesammelt hat und das Licht gedimmt wird, beginnt an zehn Tagen im November das tägliche Wunder der Leverkusener Jazztage. Es ist als müsse man sich durch einen Haufen Mist wühlen, um ins Paradies zu kommen. Denn in jedem verdammten Jahr seit 1995 hat der künstlerische Leiter, Eckhard Meszelinsky, ein Programm zusammen bekommen, das dem Musikliebhaber nur noch die Frage ermöglicht: Wieviele Konzerte kann ich mir leisten. Nun hat er sein letzte Festival geleitet und übergibt den Job an die nächste Generation – der Retter der Jazztage, der die Sache zu einem Zeitpunkt übernommen hat, woe die Jazztage mausetot waren.

In einer Zeit, in der Jazz nicht so wirklich viele Freunde hatte, in der Kulturfestivals generell zu kämpfen hatten und in der die Finanzierung der Jazztage praktisch nicht mehr existierte. Nun können er und sein Team auf ein treues Stammpublikum blicken, dessen Mitglieder Jahr für Jahr kommen und sich nicht nur anhören, was sie sich immer anhören, sondern auch die Ohren für anderes haben. Die Klientel ist gut beschreibbar. Paare in ihren Fünfzigern, praktisch, aber teuer gekleidet, gern mit einem Reminizenschen an die eigene Jugend ausgestattet bevölkert es den Saal. Angesichts dieser Leute macht das Sponoring des Jaguar-Range-Rover-Dealers dann auch Sinn.

Nicht nur Jazz
Weil purer Jazz allein aber keine halbwegs vernüfntige Auslastung bringen würde, hat Meszelinsky schon vor Längerem begonnen, bei den eingeladenen Künstler auch in den Gefilden der Pop- und Rockmusik zu wildern. Mit sehr großem Erfolg und ohne größere Beschwerden der Jazz-Fanatiker. Ich selbst habe dort im vergangenen Jahr u.a. Dr. John gesehen, den ich niemals im Jazz verorten würde. Genauso wenig wie dieses Jahr die grandiose Singer-Song-Schauspielerin Sophie Hunger, deren fantastische Band allerdings mehrmals bewies, dass sie im Jazz zuhause ist. Letzterer kommt natürlich nicht zu kurz. Und so schlossen die 36. Leverkusener Jazztage mit einem Abend der Trios. Gleich drei je dreiköpfige Truppen traten an, die vielleicht purste Form des aktuellen Jazz vorzuführen – dass am Ende mit The Bad Plus die Formation aufspielte, die musikalisch zurzeit vielleicht am weitesten vorne ist in der Erforschung des Jazz, war das passende Highlight.

Was ich eigentlich sagen wollte: Lass dich nicht abschrecken von der Stadt und dem Spielort. Achte auf das Programm der 37. Leverkusener Jazztage, such dir aus, was dur hören magst, und dann mach dich im November 2016 auf, um aus der schönsten Stadt am Rhein in die Stadt des Jazz-Wunders zu reisen.

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