Lesestück · In der Rückschau erscheinen die Sechzigerjahre wie ein goldenes Zeitalter für Jugendliche. Da kam die Beatmusik auf, die sogar den Weg ins Fernsehen fand, da eroberten sich die jungen Menschen Freiräume, da engagierten sie sich politisch und kulturell, da war was los. Ganz so einfach war es besonders für die Jahrgänge vor 1955 nicht. Denn die Möglichkeiten, sich im öffentlichen Raum mit Gleichaltrigen zu treffen, abzuhängen, wie man heute sagt, zu feiern, zu tanzen und Musik live und von der Konserve zu hören, waren sehr begrenzt. Das galt bis etwa 1968, 1969 auch für Düsseldorf. [Lesezeit ca. 6 min]
Ein Problem brachte der sogenannte „Jugendschutz“ mit sich, der unter anderem vorsah, dass Jugendliche vor dem vollendeten sechzehnten Lebensjahr Kneipen nur in Begleitung Erwachsener betreten durften. Immerhin durfte man in dem Alter schon rauchen, aber Alkohol gab’s erst ab 18. Das war besonders im Hinblick auf die längste Theke der Welt für uns junge Menschen ziemlich übel. Denn ab 1965 wurden zahlreiche Pinten eröffnet, die genau das boten, was wir suchten: Gesellschaft und gute Musik. Gerade in der Altstadt wurde übrigens regelmäßig und streng kontrolliert – der Handel mit gefälschten Schülerausweisen (einen Perso bekam man ja erst mit 21) florierte. Man durfte nur nicht zu jung aussehen. Das war mein Problem, sodass ich in meinem ersten richtigen Altstadt-Jahr, also 1968 im Alter von 15, mehrfach aufflog und so netten Orten wie dem Creamcheese verwiesen wurde.
Ein Mann mit sehr, sehr großem Verständnis für uns junge Menschen war Gerd Kaechele, Inhaber der gleichnamigen Tanzschule auf der Sternstraße, der uns regelmäßig Asyl bot. Also nicht nur denjenigen, die seine Kurse besuchten oder absolviert hatten, sondern allen in diesem Alter. Eine sehr musiklastige Institution war der samstägliche Tanztee, den wir unter der Aufsicht von Kaechele selbst gestalten durften. 1968 und 1969 wirkte ich da als Diskjockey, spezialisiert auf Soul-Musik. Bei schummrigem Licht konnte man nicht nur lauschen, sondern eben auch mit dem:der jeweiligen Partner:in knutschen. Und wenn es mehr sein sollte, verzog man sich in die Garderobe im Keller hinter die Samtvorhänge.
Sogar Alkohol wurde ausgeschenkt, auch an Jungs und Mädchen unter sechzehn. Legendär der Wermut: Bei diversen Spielchen konnte man Bons für kleine Shots Martini gewinnen, und wer Kohle auf Tasche hatte, kaufte auch schon mal eine Flasche Weißwein, um sie im Kreise der Freunde zu vertilgen. Legendär auch die sogenannte Satchel-Party, die jeweils am letzten Schultag vor Ferienbeginn in der Tanzschule Kaechele gefeiert wurde. Die begann direkt nach Schulschluss und wurde um 19 Uhr beendet. Übrigens: „Richtig“ getanzt wurde auch – allein schon um Kaechele unseren guten Willen zu zeigen.
Wir Jugendlichen in Pempelfort hatte einen weiteren Förderer. Wir nannten ihn Mao, denn er war chinesischer oder irgendwie asiatischer Herkunft und betrieb eine Pommesbude an der Liebigstraße, gleich um die Ecke der Moltkestraße. Für unsere kleine Bande, die wir alle zwischen Vinzenz-Krankenhaus und Rochusmarkt wohnten, war dies der wichtigste, weil auch einzige Treffpunkt. Hier saß eigentlich ab dem frühen Nachmittag immer eine:r von uns. Natürlich aßen wir dort auch gern Pommes mit Majo, aber Mao ließ uns auch einfach so das hocken. Meistens tranken wir Cola oder Fanta und unterhielten uns – unsere Kofferradios durften wir laufen lassen, meistens auf den britischen Soldatensender BFBS eingestellt, denn da lief die angesagte Musik.
Die Kirchengemeinden boten in gewissem Maße auch Möglichkeiten sich ohne Aufsicht durch Erwachsene zu treffen. Raum gab es genug, geschulte Jugendpfleger:innen dagegen kaum. Wir waren sechs Schulfreunde, vier Klassenkameraden und zwei, die eine Ehrenrunde zu drehen hatten. Einer (leider fällt mir nicht mehr ein, wie er hieß) hatte gute Drähte in die evangelische Kreuzkirchengemeinde am Dreieck. Auf Anraten eines jugendfreundlichen Jungpfarrers gründeten wir flugs den Bibelklub, abgekürzt BK. Das eröffnete uns die Chance, jeden Mittwoch von 16 bis 20 Uhr in einem Clubraum im Gemeindehaus zusammenzukommen. Dass die Bibel eigentlich keine Rolle spielte, lag auf der Hand. Schließlich gab es in unserem Raum einen Plattenspieler, und drei von uns konnten Gitarre spielen; tatsächlich schafften wir irgendwann auch das Schlagzeug meines besten Freundes Jörg dorthin, sodass wir ein bisschen Eigenmusik machen konnten.
Wir waren Jungs, wir waren fünfzehn, sechzehn Jahre alt, und wir wollten Spaß. Dass zum Spaßhaben Alkohol gehörte, hatten wir ja von den Eltern gelernt. Also schmuggelten wir regelmäßig Bier, aber auch Spirituosen in unseren Bibelklub, immer im Bewusstsein, dass es mit dem BK schlagartig vorbei wäre, würde man uns erwischen. Zum Ritual gehörte auch, sich eine Frikadelle von der legendären Kotelettbud am Dreieck zu holen und die im Kreis der Freunde zu verspeisen. Neben dem Spaßhaben diskutierten wir auch viel über die politischen Themen der Zeit; rund um die Verabschiedung der Notststandsgesetze im Frühjahr 1968 verteilten wir auf der Nordstraße Flugblätter und verwickelten Passanten in Diskussionen.
Wie gesagt: Düsseldorf war in den Sechzigern nicht mit Jugendfreizeitheimen gesegnet; die SPD-nahen Falken betrieben eines, die katholische Jugend auch, aber einen politisch und religiös neutralen Jugendclub gab es nicht. Im Gegensatz zu anderen Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln und Essen war Düsseldorf in Sachen „Jugendförderung“ (so nannte man das Thema damals) absoluter Nachzügler. Als man dann Jugendzentren einrichten wollte, sollte das möglichst nichts kosten. Da kam der 1958 eingeweihte Erweiterungsbau der Gemeinschaftsgrundschule an der Lacombletstraße gerade recht. Der lag gegenüber der Schule, verfügte über eine Turnhalle, Klassenräume und einen Garten. Der wurde 1969 zum Haus der Jugend umgewidmet. Aus der Turnhalle wurde ein Veranstaltungsraum mit fester Bühne und Garderobe, die ehemaligen Klassenräume dienten als Clubräume. Zum Garten hin wurde eine Teestube eingerichtet.
Der Film (siehe unten) wurde anlässlich einer der ersten Veranstaltungen in der Halle gedreht (ich bin mehrfach im Bild), weder während der Ausstellung „Teenage Art“, noch zur Eröffnung wie Titel und Infotext zum Film sagen, sondern vermutlich im Oktober 1969 im Rahmen einer Art Untergrundfilmabends. An der „Teenage Art“ im Januar 1970 nahm ich als Ausstellender teil. Noch 1969 sah und hörte ich in der HdJ-Halle den Vorläufer von Kraftwerk, bestehend aus Ralf Hütter und Florian Schneider, die sich damals „Organisation“ nannten. Bis weit in die Siebzigerjahre hinein reihte sich ein Konzert, eine Fete im HdJ an die andere. Hier trafen sich wirklich alle Arten junger Leute zwischen etwa 16 und 25 Jahren. Es gab viel Kunst, Kultur und Musik, aber auch jede Menge politischer Debatten. Leider war das HdJ um 1970 herum aber auch ein Hotspot des Drogenmissbrauchs; erst ab etwa 1972 wurde ernsthaft kontrolliert, vorher waren Heroin und LSD im Umfeld des Hauses recht problemlos zu bekommen.
Wie wir wissen, ging die Geschichte des HdJ von da an immer weiter – bis unmittelbar vor dem Abriss im Sommer 2020. Die JAB wurde ab 1994 Hausherrin, das Fortuna-Fanprojekt hatte hier seinen Hauptsitz, der Jugendring nutzte die Räume. Für Generationen von Jugendlichen zwischen 1969 und 2020 war das Haus der Jugend an der Lacombletstraße so etwas wie ein Epizentrum aller für sie und von ihnen gemachten Kultur. Jetzt ist der zuletzt marode L-förmige Kasten weg, und der Neubau hat das Richtfest schon hinter sich. Auch der wird wieder zu einem großen Teil der Jugendkultur und -freizeit gewidmet sein.