Nein, erfunden hat es der „Sprayer von Zürich“ nicht, dieses Erzeugen von Kunst mit Hilfe der Farbsprühdose an öffentlich zugänglichen Wänden. Er selbst wurde Streetartist durch die öffentlichen Kunstwerke des Gérard Zlotykamien, die dieser in den Siebzigerjahren in Paris anfertigte. Der Legende nach hatten ihn die eingebrannten Schatten der Opfer des US-amerikanischen Atombombenüberfalls auf Hiroshima inspiriert. Seine Kunst, zuerst mit Kreide oder einfacher Leimfarbe angefertigt, war immer politisch, er selbst blieb lange anonym – und outete sich 1979 selbst. Genau das hatte Harald Naegeli nie vor – er wollte immer anonym bleiben. Nicht weil er die Folgen seines Tuns fürchtete, sondern weil er die Zuordnung von Werken zu Künstlern für falsch hielt. Nicht wenige Experten sind der Ansicht, dass Naegeli – ähnlich wie Beuys – so einen neuen Kunstbergiff entwickelte. Dass ihn brave Zürcher Spießbürger als Schmierfink brandmarkten und seine Werke als Sachbeschädigung, sagt mehr über den Zustand der Schweizer Gesellschaft Anfang der Achtziger Jahre aus als über Naegelis Kunst.

Seine Geschichte ist bekannt. Der Verurteilung durch die Schweizer Justiz entzog er sich durch Flucht nach Deutschland. Zunächst fand er in Köln Unterschlupf, dann lebte er lange Jahre in Düsseldorf. Nach einem Intermezzo in seiner Heimat kehrte er zurück in die schönste Stadt am Rhein, wo er noch heute lebt … und arbeitet. Das ist die Frage: Zwar ist bei rund anderthalb Dutzend Spray-Malereien einigermaßen sicher, dass sie von Neaegli selbst stammen, aber ein halbwegs zuverlässiges Verzeichnis existiert nicht. Im öffentlichen Raum der Landeshauptstadt gibt es – je nach Zählung – zwischen ungefähr 30 bis weit über 100 Bilder, die Naegelis sein könnten. Denn bereits seit den Achtzigerjahren hat der Sprayer etliche Nachahmer, von denen einige den Stil des Meisters perfekt beherrschen. Und nun wollte die Ampelkoalition im Düsseldorfer Rathaus ein relativ prominentes Werk am Alten Hafen konservieren und so sichern lassen. Graffiti-Gegner kamen dem zuvor und wuschen vor ein paar Nächten die Zeichnung ab. Obwohl Naegeli sich wie gewohnt nicht zu diesem Werk bekannte, forderte er nun Klage gegen Unbekannt wegen Sachbeschädigung einzureichen.

Das Ziel des Vorschlags ist klar: So soll gerichtlich festgestellt werden, ob Bilder, die ohne Genehmigung der Eigentümer an öffentlich zugängliche Wände gemalt oder gesprayt werden, den schützenswerten Rang von Kunstwerken haben und so einen bezifferbaren Wert besitzen. Damit strebt Naegeli etwas an, was der anonymste aller Straßenkünstler, Banksy, rundheraus ablehnt. Auch von der Arbeitsweise her finden Banksy und Naegeli auf zwei auseinanderliegenden Polen ihres Tätigkeutsfeldes. Während Naegeli praktisch nie anders gearbeitet hat als mit maximal zwei verschiedenen Farben Strichzeichnungen zu fertigen, besteh das Hauptwerk von Banksy aus Bildern, die durch Ansprühen sehr exakt gearbeiteter Schablonen entstehen. Während Naegelis Kunst am ehesten als poetisch gekennzeichnet werden kann, ist Banksy provokant und fast immer extrem politisch.

Whole Train
Mit dieser Kunst in den Straßen hat das, was die Sprayer tun bzw. taten, wenig zu tun. Verbindendes Element ist lediglich die Tatsache, dass vorwiegend illegal gearbeitet wird. In den Neunzigerjahren entstand ein regelrechter Kult um die Sprayer-Gangs, die an schwer zugänglichen Stellen und am liebsten auf U-Bahn-Zügen riesige Graffiti erschufen, die oft nur ein paar Tage alt wurden. Denn entweder wurden sie abgewaschen oder übersprüht. Eine besonders Spielart dieser Szene findet sich im Umfeld der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur, wo ähnlich wie beim Rappen oder Breakdancen Gruppen im Wettstreit agieren. In Europa kam dagegen eine gewisse Räuber-und-Gendarm-Romantik ins Spiel; es galt, an möglichst gefährlichen Orten zu sprayen … und sich nicht erwischen zu lassen. Bei diesem Zweig der Streetart stehen Schriftzüge im Zentrum, die mit comic-artigen Szene ergänzt werden, wobei der Schriftzug in aller Regel der Kampfname des Sprayers bzw, des Graffiti-Kollektivs ist. Die Krönung war lange Zeit der „Whole Train“ (Ganzer Zug), bei dem eine Seite eines kompletten S- oder U-Bahnzugs besprüht wird. Der deutsche Film „Wholetrain“ thematisiert die Gefahren dieses Treibens relativ realistisch.

Wie schon bei Naegeli lösten Graffiti von Anfang an den Widerspruch der braven Bürger aus. Und wie beim Sprayer von Zürich wurden die Sprühdosenartisten fast überall kriminalisiert. In der Bundesrepublik wurden um 1996 mehr als fünfzig Sprayer zu Haftstrafen verurteilt, die einige von ihnen auch absitzen mussten. Gerade die ÖPNV-Unternehmen verfolgten die Sprüher zudem mit massiven zivilrechtlichen Forderungen; als Schadenersatz für einen besprühten Waggon rief die Berliner S-Bahn beispielsweise regelmäßig 10.000 DM auf – der tatsächliche Aufwand, einen mit einem Graffito verschönerten Wagen zu reinigen liegt dagegen bei kaum der Hälfte.

Schmierereien
Aus den Battles der Grafitti-Künstler der Hip-Hop-Szene entstand die primitivste und auch dümmste Form der öffentlich sichtbaren Zeichen, das Taggen. Während lange Zeit auch Grafitti-Künstler neben ihren großen Stücken auch fantasievoll gestylte Tags überall in ihrem Revier sprühten, verkam diese Kunstform rasch zu reinen Baumpinkelei von Testosteronopfern. Nicht mehr mit der Sprühdose wurde getaggt, sondern mit dem Edding oder mit Pinsel und Farbe. Und zwar massiv. Der oder die Jungs, die in Düsseldorf „NEU“ sprühen, haben in manchen Nächten mehrere Hundert ihrer Tags in verschiedenen Größen und Farben und an den unmöglichsten Stellen angebracht – auch das aber eine Kunstform, die der Serial Art ähnelt. Legendär auch der Typ, der „Chaos“ sehr groß und sehr auffällig, oft in Silber sprüht. An vielen Stellen finden sich dann auch Werke, die nach Tags aussehen, tatsächlich aber in der Nähe von Naegeli und Banksy anzusiedeln ist. Daneben stehen inzwischen wieder massenhaft politische Parolen wie „Kein Mensch ist illegal“, die im öffentlichen Raum gemalt oder gesprüht werden.

Wirkliche Schmierereien sind aber leider in der Überzahl. Die Dumpfbratzen, die ihre drei, vier Buchstaben überall hinterlassen müssen, schrecken nicht einmal davor zurück, Baumstämme oder Findlingen zu verunzieren, ein Tabu, dass die großen Sprayer und die Grafitti-Künstler nie gebrochen haben oder brechen. Leider sind es genau die Schmierer, die das ganze Thema „Streetart“ immer wieder in Misskredit bringen und so für Aktionen wie die gegen den Naegeli im Alten Hafen mitverantwortlich sind. Denn tatsächlich ist diese Kunstform seit Längerem allgemein anerkannt, nur der Kunstmarkt tut sich schwer damit. Schließlich ist die Verwertung der öffentlichen Kunst nach den kapitalistischen Methoden der Zunft in der Regel nicht möglich. Aus der Mode gekommen ist es aber, illegale Sprayer einzuladen, eine hässliche Wand ganz offiziell und gegen Geld zu verzieren; wer darauf in der Vergangenheit einging, verlor so die Street Credibility und konnte sich Grafitti-Kreisen nicht mehr sehen lassen.

7 Kommentare

  1. Sorry, etwas am Thema vorbei, aber hier finde ich den direkten Nachweis zu meinem Post. Der von dir verlinkte Artikel zur RP findet sich auch wortgetreu in der Print-Ausgabe der NRZ. Mir ist bekannt, dass die Sportredaktionen von RP und NRZ nach der Entlassung der altgedienten Redaktion zusammenarbeiten und die lokale und überregionalen Sportberichterstattung untereinander aufgeteilt haben. So findet man dann plötzlich auch Jolitz-Berichte in der NRZ. Vieles (und das merkt man) wird nur noch von „Praktikanten“ verfasst.

    Der/die Naegeli-Abwascher ist/sind nur (eine) arme Socke(n).

    Dafür hat die NRZ aber ihren Preis ab heute um stolze 20 Cents auf 1,60 Euro erhöht (die RP auf 1,50).

      • Dass es so schlimm ist, habe ich nicht gewusst.Ich werde also als NRZ- quasi ungewollt zum RP-Leser. Unglaublich. Ich werde daraus sicherlich Konsequenzen ziehen! Danke für den zusätzlichen Hinweis.

        • Günther A. Classen am

          Ging mir 2012 genau so.

          Nachdem seinerzeit Volkswagen Porsche geschluckt hatte, wurde über Nacht aus meinem 911er plötzlich ein VW-Golf.