Als ich in den späten Siebzigern einen ziemlich merkwürdigen Aushilfsjob absolvierte, bei dem ein gewaltiger, mehrstöckiger Aktenkeller der Rentenversicherung umzuräumen war, hatte ich zwei ganz junge Kollegen. Ein Pärchen, nennen wir sie Micha und Annelie. Er stark blondiert, sie sehr schwarz gefärbt. Micha hatte einige Amateur-Tattoos, unter andere die berühmten drei Punkte im Handwinkel und das Tränchen am linken Auge. Die beiden waren superlieb miteinander und eher schüchtern und stammten vom Hellweg. Dass sie dort mit höchstens zwanzig Jahren eine eigene Wohnung hatten, war ungewöhnlich. Aber Micha und Annelie waren fleißig und pünktlich und auch sparsam – nach drei Monaten hatten sie so viel gespart, dass sie zwei identische Mofas anschaffen konnte. Optisch entsprachen die Beiden ganz dem Klischee der Düsseldorfer Spießer in Bezug auf Hellweg-Bewohner, das sich schon in den Dreißigerjahren gebildet hatte. Denn die typischen Häuser auf beiden Seiten am oberen Ende dieser Straße waren ab 1929 speziell für sozial schwache Familien erbaut worden und galten damals schon als „sozialer Brennpunkt.“
Vor der Machtergreifung durch die NSDAP waren es vor allem kinderreiche Arbeiterfamilien, die als „sozial schwach“ galten. Deshalb wurde am Hellweg auch durchweg kommunistisch gewählt. Was zur Folge hatte, dass man sich in der Nazi-Zeit kaum noch um die Hellweg-Leute kümmerte. Weil aber auch in den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur das Geld hinten und vorne nicht reichte, stockten nicht wenige Bewohner durch Einbrüche, Diebstähle und anderes kleinkriminelles Tun auf. Zur Legende wurde aber einer, der Verwandtschaft am Hellweg und im „Märchenland“ hatte: Hubert Lange, der ab etwa 1941 als „Graf Mocca von Tonelli“ mit einer kleinen Bande zum Robin Hood von Flingern wurde. Mit 14 hatten ihn seine Eltern rausgeschmissen, und er war bei Leuten am Hellweg untergekommen.
Graf Mocca von Tonelli
Zusammen mit ein paar Jungs zwischen 14 und 19 brach Lange systematisch in Lagerhäusern ein, vor allem in staatliche Lebensmittellager. Beute, die sich zu Geld machen ließ, wurde versilbert, Lebensmittel großzügig unter den Nachbarn aufgeteilt. Das ging die ganze Kriegszeit hindurch so, und auch nach Kriegsende machte die „Hellwegbande“ weiter – jetzt zu Lasten der britischen Besatzer. Anfang 1946 wurde er geschnappt und als Bandenboss von den Briten zum Tode verurteilt. Später wurde das Urteil in 15 Jahren Zuchthaus abgemildert, von denen er etwas mehr als ein halbes Jahr tatsächlich absaß. Aber spätestens damit hatte der Hellweg seinen Ruf weg.
Zumal sich Mitte der Sechzigerjahre eine ziemlich mächtige und gewalttätige Rockergruppe in diesem Teil Flingerns gebildet hatte, die man in der Stadt wieder unter dem Namen „Hellwegbande“ kannte. Ob angemessen und hysterisch übertrieben: Der Hellweg zwischen der Bruch- und der Daimlerstraße sowie die teilweise illegale Siedlung an den Straßen mit den Namen von Märchenfiguren galt in Düsseldorf als „No-go-Area“, die man besonders nachts als Nicht-Nachbar meiden sollte. Rund zwanzig Jahre später wiederholte sich die Geschichte. Jetzt war es die neben „Fortuna Terror“ vom Fürstenplatz berüchtigste Truppe Hooligans, die dem Hellweg zugeordnet wurde. Wie gesagt: Historisch abgesichert ist nur die Story vom Grafen Mocca von Tonelli, die tatsächlich am Hellweg und im Märchenland spielte. Über die Rocker und Hools von dort wurde eher gemunkelt.Nicht attraktiv, aber heute recht schön
Die Stadtverantwortlichen hatten das Viertel, das auch Teile der Bruchstraße sowie die angrenzenden Häuserblocks und eben das Märchenland, systematisch vernachlässigt. Die Wohnqualität verschlechterte sich, und selbst die dort schon länger lebenden armen Familien wollten in den Siebziger- und Achtzigerjahren nur noch weg. Für Studenten und Künstler, die damals gern billig an sozialen Brennpunkten wohnten, war die Gegend nicht attraktiv, weil zu abgelegen. Bis heute ist es genau eine Buslinie, die den Hellweg mit dem Rest der Welt verbindet. Zum nächsten S-Bahnhof oder Straßenbahn- und U-Bahn-Haltestellen, von denen man aus ins Zentrum kommt, ist es ziemlich weit zu gehen. Auch heute noch ist der Hellweg nicht pittoresk genug, um irgendwelche Hipster anzuziehen. Dabei ist die Straße über die Jahre richtig schön geworden.
Zwischen Diesel- und Daimlerstraße hat sich der Hellweg zu einer grünen Allee gemausert; drei Reihen, davon zwei mit Kastanien schmücken die Straße mit dem Mittelstreifen, der als Parkplatz missbraucht wird. Auf der ungeraden Seite wurden in den Achtzigerjahren vier Blocks mit Sozialwohnungen errichtet, und dann alten Häusern aus den späten Zwanzigern hat man auch ab und an sanierende Maßnahmen ergriffen. Demnächst soll das Viertel durch Neubauten aufgewertet werden; es gilt die Lücke zum Retortenstadtteil „Grafental“ zu füllen. Der Teil vom Hellweg zwischen der Bahnunterführung am Flinger Broich und der Junkersstraße ist eine der wenigen Gegenden der Stadt, die noch nicht auf die eine oder andere Weise schöngeföhnt wurde. Auf der geraden Seite trennt ein stark bewucherter Wall die Straße von den neuen Häuserblocks am Südende des Märchenlands, auf der ungeraden Seite gibt es die Zäune zur Kleingartenanlage. Ab und zu ist ein Schotterstreifen entstanden, auf dem geparkt wird, und alles sieht irgendwie aus wie noch nicht fertig.
Gedenkstätte für Klausi
Hier findet sich auch zu Tränen rührende Gedenkstätte für Klausi, der eigentlich Dominik hieß und der am 9. Mai 2015 bei einem Raserunfall ums Leben kam. Zusammen mit einem Kumpel saß er hinten in einem BMW-Cabrio. Der Fahrer war in dieser Nacht viel zu schnell unterwegs. Kurz hinter der Unterführung verlor er die Kontrolle über den Wagen und schlingerte mit fast 100 km/h über die Straße. Ein Taxi kam in Richtung Gerresheim entgegen, und es kam zu einem verheerenden Frontalzusammenstoß. Der Taxifahrer Ingo Krannich und sein Fahrgast wurden schwer verletzt, der Raser ebenfalls. Dominik M. und sein Freund wurden aus dem Auto geschleudert. Für Klausi kam jede Hilfe zu spät, sein Kumpel wurde so schlimm verletzt, dass er bis an sein Lebensende ein Pflegefall bleiben wird.Schon am Morgen danach legten Verwandte, Freunde, Nachbarn und Menschen Blumen an der Stelle nieder, an der Dominik „Klausi“ M. starb. Der war großer Fortuna-Fan, verkehrte in Hooligan-Gruppen und hatte Kontakt mit rechtsgerichteten Kreisen. Aber weder war er gewalttätig, noch ein Neo-Nazi – das wird jeder bestätigen, der ihn kannte. Heute ist die Gedenkstätte tatsächlich ein Ort des Gedenkens an diesen jungen Burschen, zu dem nicht nur seine Familie und seine Freunde pilgern, sondern auch viele F95-Fans, die ihn kannten, aber auch Menschen, die ebenfalls Verwandte oder Freunde durch Raser verloren haben. Ironie der Zufälle: Taxifahrer Ingo war Nachbar der Familie M. als Dominik noch ganz klein war, und auch sein Fahrgast kannte „Klausi“ gut.
In mancher Hinsicht ist dieser Dominik M. typisch für das Bild, das man sich außerhalb Flingerns von den Menschen am Hellweg macht. Wer dieses Image gern korrigieren möchte, sollte mal dort hin fahren und sich die Gedenkstätte für Klausi anschauen, um dann möglicherweise zu erkennen, wieviel Menschlichkeit und Zusammenhalt diese verrufene Straße kennzeichnen.
Ein Kommentar
„Auf der ungeraden Seite wurden in den Achtzigerjahren vier Blocks mit Sozialwohnungen errichtet“
Damit weiß ich nicht so recht, was damit gemeint ist, denn mir sind auf der ungeraden Seite (folgend auf Nr 69) nur drei Blocks bekannt, von der der erste Block zur seinerzeit neu enstandenen Porschestr. gehört.
Diese 80 Wohneinheiten (Porschestr 2-6, Hellweg 75-87) wurden allerdings bereit 1962 bezogen.
Ergänzend sei erwähnt, dass sich auf der späteren Porschestr. dazu noch eine kleine Chemiebude namens Emil Späth in einer Baracke und ein Einfamilienhaus mit der Nr 69a befand.
Heute befindet sich auf diesem Gelände ein Kindergarten.