[Vorsicht: Es folgt ein sehr, sehr langes, aus einer sehr, sehr subjektiven Position im Herbst 2014 verfasstes Lesestück – eine Liebeserklärung.] Damals sah ich mich bemüßigt, mich für den Frustbericht über unseren Urlaub im Süden Frankreichs rechtfertigen zu müssen. Weil das, was Franz-Josef Degenhardt in seinem Lied „Für wen ich singe“ so zutreffend mit „frankophile Käselutscher“ diffamiert hat, sofort anti-französische Ressentiments wittert, wenn man sich nicht euphorisch über das Land ihrer weinfeuchten Träume äußert. Denen sage ich: Wer nicht kritisiert, was er liebt, der liebt nicht. Natürlich gibt es gerade bei eher sozialdemokratisch sozialisierten Menschen eine tiefe Frankreichsehnsucht – vielleicht weil man immer noch die brennenden Döschwos der Barrikaden im Pariser Mai von 1968 wittert und sich selbst dort mit Baskenmütze auf dem Hirn, Maispapierzichte zwischen den rotweingefärbten Lippen und einem Baguette unter den schweißnassen Achseln gegen die CRS-Bullen kämpfen sieht. Für die Freiheit!
Wie kein anderes europäisches Land – nicht einmal Italien – wird Frankreich bis zur Surrealität romantisch verklärt. Und ständig suchen Deutsche mit Macht und Geld nach der großen Authentizität. Wie die (im Übrigen schwer sozialdemokratischen!) Vermieter unserer Ferienwohnung in Valros. Die sich offensichtlich versucht haben, in das Gemeinwesen hineinzukaufen, von den Bewohnern des Örtchen als ihresgleichen gesehen zu werden. Dabei sind auch sie nur Eindringlinge, die von den jahrelang extrem niedrigen Preisen für Altimmobilien profitiert haben. Authentisch, möchte man solchen Leuten zurufen, ist, wo du deinen Lebensmittelpunkt hast! Und wenn du wirklich volles Rohr authentisch leben willst in Frankreich, dann muss du das so machen wie der RAF-Klein, der sich jahrzehntelang dort versteckt und dabei aber sowas von assimiliert hat. Man kann sich natürlich mit dem Pittoresken begnügen.
Das Land unserer Träume
Manchmal tut es mir weh, dass Frankreich für die jungen Leute von heute kein Traumland mehr ist. Wir in den Fünfziger geborenen Menschen wollten in den Sechzigern immer bloß nach England (wegen der Beatles und so…) oder eben nach Frankreich (wegen der kleinen Französinnen und so…). Tatsächlich war ja das Frankreich jener Jahre auf schmerzhafte Weise authentisch. Da es in den Städten kaum Bombenschäden gab, sah alles so schön alt aus. Oft auch angeranzt und verkommen. Aber eben authentisch. Frankreich hatte eine extreme Wirtschaftskrise hinter sich, dazu die Krämpfe der Entkolonialisierung. Es ging den Franzosen nicht gut. Und wenn es nicht die alles überdeckende und bestens funktionierende Landwirtschaft gegeben hätte, wären die Franzosen vielleicht großflächig verhungert. Auch die Industriearbeiter litten unter niedrigen Löhnen und miesesten sozialen Bedingungen.
Allein die Kultur, allen voran der Film, blühte. Der französische Film war zwischen etwa 1952 und 1968 beinahe das einzige Widerstandsnest gegen den US-Kulturimperialismus Hollywoods. Dazu die Literatur und natürlich die Chansons. Wir liebten das alles. Und wir wären so gern junge Franzosen gewesen, möglichst schon ab den Zeiten der Existenzialisten. Hätten liebend gern in düsteren Kellergewölben beim Cool Jazz gehockt in schwarzen Rollkragenpullovern. Immer eine glühende Gitanes zwischen den Fingern, Sartre in die Schielaugen starrend, um endlich auch diesen großen Weltekel zu spüren. Und Paris! Oh, lala! Das Paris, von dem unsere Väter, Onkeln, Nachbarn schwärmten, die 1940 da sooo schöne Zeiten mit den Demoiselles verbracht hatten. Pigalle! Tarrantino hat viele dieser Klischees in „Inglorious Basterds“ wunderbar treffend auf die Schippe genommen – der perfekt französisch parlierende Judenjäger zum Beispiel…
Da wollten wir hin. Und ich persönlich hatte das Glück, das dank des verrückten Erdkundelehrers Paukert, der nach eigenen Angaben eine Zeitlang in Paris gelebt hatte und überhaupt ein ziemlich weltgewandter Mensch war, unsere große Klassenfahrt 1970 nach Paris führte. Wir waren in Paris, dem echten Paris. Wir büxten nachts aus und drückten uns in original-echten Bistros herum, meist am Flipperautomaten, aber immer mit Zigarette im Maul und einem Gläschen Rotwein auf dem Tisch. Wir suchten die Nutten und fanden sie nicht. Wir stellten Mädchen nach, die uns Boches scheiße fanden. Wir sogen dieses Paris, wo man an manchen Ecken noch ausgebrannte Autowracks von 1968 fand, mit allen Sinnen auf.
Paris, die Zweite
Als S. und ich im April 1973 heirateten – wir waren ein Paar seitdem wir dreizehn waren, und verheiratet zu sein, war für sie die einzige Möglichkeit aus dem Elternhaus zu kommen und für uns, eine gemeinsame Wohnung mieten zu können -, war klar, dass die Hochzeitsreise nach Paris führen sollte. Ja, wir wollten drei, vier Tage in der Stadt der Liebe verbringen. Direkt von der Hochzeitsfeier aus brachen wir auf. Und verfuhren uns in Belgien aufs Allerschlimmste. In irgendeinem dieser hässlichen wallonischen Dörfer waren wir falsch abgebogen, die Straße war immer schmaler geworden, bis sie zu einem asphaltierten Waldweg wurde, der sich durch ein düsteres Gehölz wand. Dann ein Schlagbaum. Niemand da. Wir öffneten die Schranke, fuhren durch und waren in Frankreich. Bis Reims schafften wir es, wo wir ein Hotelzimmer nahmen und mitteilten, dass wir bis nachmittags zu schlafen gedachten.
Für Paris hatte uns jemand das Hotel Bristol in der Rue de l’Arcade, unweit der Madeleine, empfohlen. Ein schmales Haus mit je zwei winzigen Zimmern pro Etage und einem Frühstücksraum im Kellergewölbe. Wir hatten ein Zimmer mit Dusche; die stand mitten im Raum. Aus dem Innenhof drangen Pariser Geräusche zu uns, und eigentlich wollten wir das Bett nur zur Einnahme der Mahlzeiten verlassen. Aber dann griff uns Paris, und wir waren stundenlang per Metro und zu Fuß unterwegs auf Entdeckungstour. Das Hotel Bristol erlebte ich rund sechs Jahre später noch einmal in seiner ursprünglichen Form. In den Achtzigern hat man es luxussaniert, und ich übernachtete dort so um 1990 herum noch einmal, als ich mit meiner kleinen Tochter auf dem Rückweg von Korsika dort Station machte. Heute könnte ich mir dieses feine Haus nicht mehr leisten.
Paris, die Dritte
Und dann hatten wir diese ganzen Filme gesehen, in denen lässige Franzosen pausenlos qautschen, rauchen und vögeln. Da wollten wir im Sommer 1973 hin. Mit dem Finger auf der Landkarte wählten wir Mimizan-Plage an der Atlantikküste südlich von Arcachon. Wir liehen uns den antiken Käfer von S.’s Kollegin B. – ein grauer VW mit rundem Rückfenster und Faltdach. Malermeister T. und seine Frau Ch. fuhren mit. T. hatte einen todschicken Taunus in der Ghia-Ausführung. Weil 1.200 Kilometer am Stück im Käfer zu riskant sein würden, planten wir eine Übernachtung in Paris ein. Ein sehr einfaches Hotel südöstlich der Bastille, Gemeinschaftsduschklo auf der Etage. Speisesaal im Hinterhof: ein plüschiger Raum mit acht Vierertischen, einem gewölbten Glasdach und Kristalllüstern. Das Menü war im Übernachtungspreis enthalten. Eine winzige Vorspeise, wählbar zwischen einmal was mit Fisch, einmal was mit Salat, dann das Steak frites oder der gebratene Fisch, und zuletzt die obligatorische Créme brulée. Das war weniger eine Mahlzeit als eine kulturhistorische Exkursion.
Dann nahmen wir noch Bier, Wein und Kaffee in einem Bistro und ließen schweigend den chaotischen Verkehr an uns vorbeiflitzen. Freuten uns über dieses typische Sirenengeheul, das für mich über Jahrzehnte Frankreich akustisch repräsentierte. Wunderten uns darüber, dass manche Autos gelbe Scheinwerfer hatten und manche mitten in der Nacht ganz ohne Licht fuhren. Später spielten wir auf dem Zimmer noch ein paar Runden Rommée und tranken schlechten Rotwein aus der Plastikflasche, den wir in einem 24-h-Laden erworben hatten. Morgens dann Sandwiches im Bistro: mit Jambon, Frommage oder Saucisson. Sie schmeckten so herrlich, so unvergleichlich.
Der Urlaub am wilden Meer war sehr schön. Unser Häuschen fand sich in einer staubigen Siedlung unweit der Dünen. Ich trug Tag für Tag nichts weiter am Leib als eine auf Kniehöhe abgeschnittene Malerlatzhose, die Badehose kam nur beim Schwimmen zum Einsatz und das Ringel-T-Shirt nur abends, wenn es kühl wurde. Barfuß fuhr ich mit dem Käfer zur Boulangerie, Croissants und Baguettes holen. Das Faltdach blieb die ganzen Ferien über geöffnet. Wir fühlten uns so frei und lässig wie die Leute in den französischen Filmen. Allein die Nachricht von der Ermordung Salvadore Allendes in der erst im April des Jahres gegründeten Liberation, die ich als Lektüre erworben hatte, trübte das gute Gefühl. Auf der Rückfahrt dann ein Beispiel französischer Gastfreundlichkeit. Es gab ja nur wenige Autobahnen in Frankreich. Man befuhr die Nationalstraßen (N-Routes), die oft schnurgerade und meist dreispurig angelegt waren, wobei die mittlere Spur für beide Fahrtrichtungen als Überholspur gedacht war. Wir hatten uns verkalkuliert, waren nach 400 Kilometern müde und hungrig, aber die meisten Bistros hatten schon zu. Da hielten wir dann im Nirgendwo bei einem Restaurant, das geöffnet schien. War es auch, aber – so die Wirtin – die Küche habe schon zu. Wir schilderten unsere Lage, und sie sagte nur „Moment“. Wir nahmen Platz und nippten an den bereits gelieferten Getränken. Zwanzig Minuten später kam sie höchstpersönlich aus der Küche, eine Riesenschüssel Kartoffelpürree stellte sie uns hin, eine große Platte gebratener Entrecotes, eine gewaltige Schüssel voller grünem Salat, Vinaigrette dazu, und eine Schale grüner Bohnen mit Speck und Zwiebeln. Es war das leckerste Pü meines Lebens, so buttrig und kartoffelig, das ich heute noch nach diesem Geschmack suche. Wir aßen uns satt. Dann wollten wir aufbrechen und fragten nach l’addition. Sie hob beide Hände und zeigte zehn Finger – zehn Francs konnten es nicht sein, denn das wären ja nur 3,50 DM gewesen. Dann zeigte sie auf jeden von uns, und uns wurde klar, dass sie bloß zehn Francs pro Person haben wollten. Wir legten fünfzig Francs hin, aber sie lehnte das Trinkgeld mit einem stolzen Lächeln ab und sagte: Es war mir eine Freude, sie bewirtet haben zu dürfen. Ein Jahr später dann die ganz große Frankreich-Rundfahrt mit S. und meiner Schwester. Vier Wochen Zeit hatten wir. Wieder war es ein Käfer, dieses Mal aber ein noch recht junger 1303, den ich einer Studienkollegin für einen sehr günstigen Preis abgekauft hatte. Wir reisten mit kleinem Gepäck, ohne feste Route und ohne irgendwelche Hotels vorher zu buchen. Am Ende waren es fast 6.000 Kilometer, die wir zurückgelegt haben. Wir begannen im Elsass, wo wir direkt um die Ecke vom Münster ein sehr schickes Hotel fanden. In jenen Jahren war die Übernachtungspreise in Frankreich in Relation zu Deutschland extrem niedrig, und der günstiges Wechselkurs von 1975 erlaubte es uns, wirklich täglich in einem Hotel zu pennen und in einem Restaurant oder Bistro zu essen. Außerdem kostete das Päckchen Gauloises – die Marke, die ich seit der Klassenfahrt nach Paris rauchte – umgerechnet nur 30 Pfennig, also so viel wie ein halber Liter Benzin. Leider ist die Landkarte, auf der ich die Tour und alle Etappen eingezeichnet hatte, irgendwann in den vergangenen vierzig Jahren verlorengegangen. Deshalb kann ich mich nicht mehr an die Reihenfolge, nur noch an einzelne Stationen erinnern. Zum Beispiel in den Bergen unweit von Annecy, wo das Fenster auf einen abfallenden, grünen Hügel ging, hinter dem die mächtigen Spitzen des Montblanc-Massivs aufragten. An Zimmer in einer alten Mühle irgendwo á la campagne, mit extrem nettem Hotelpersonal und einem fantastischen Abendessen, das wir draußen vor dem Restaurant nahmen, während Hunderte Autos mit Tempo 80 über die N-Route an uns vorbeidonnerten. An dieses merkwürdige Restaurant am Rand der Camargue; betrieben von vier, fünf düsteren Damen. Mit einem riesigen offenen Kamin im Gastraum, dessen Wände aus groben, weißen Natursteinen bestanden. Wo es ausschließlich gegrilltes Rindfleisch gab. Die Damen ängstigten uns so sehr, dass wir dann doch nicht bei ihnen übernachteten. Eine Nacht, in dem wir erst gegen elf Uhr abends ein schmieriges Hotel fanden, in dem es durchgehend nach Scheiße roch, sodass wir schon um sechs Uhr morgens flohen. Zwischendurch waren wir dann wieder ein paar Tage in Mimizan-Plage. Die erste Reise mit A. führte natürlich nach Paris. Es war zu Karneval 1978, und wir fuhren mangels reisefähigem Auto mit dem Zug. Schon ab Köln hatten wir einen ziemliich besoffenen Russen im Abteil, der auf dem Weg nach Zeebrügge war, wo er sein Schiff wieder besteigen sollte. Er berichtete, dass er es ein paar Wochen so richtig habe krachen lassen daheim in der Nähe von Minsk. Nun sei er fast pleite und hoffe an Bord ordentlich was zu essen zu kriegen. Er habe, und dabei zeigte er den Geldschein, nur noch hundert Deutschmark, aber mit denen könne er in Belgien in einer Samstagnacht ja nichts anfangen. Wir erzählten davon, dass es wir als frisch verliebtes Paar nach Paris unterwegs seien, was ihn zu Tränen rührte. Er zählte Dutzende von Frauennamen auf und fügte hinzu, in alle sei er verliebt gewesen und sie in ihn. Dann schlief er ein. Wir weckten ihn in Brüssel, denn da musste er umsteigen. Er war dankbar, dass wir ihn aus dem Schlaf gerissen hatten. Bevor er das Abteil verließ, hielt er A. den Hunderter hin und sagte auf seine Art in deutscher Sprache: Fier de Liebä. Am nächsten Abend aßen und tranke wir auf sein Wohl und gaben dabei fast die ganzen Hundert Mark aus. Natürlich übernachteten wir im Hotel Bristol. A. kannte Paris wie ihre Hosentasche, hatte sie doch einige Zeit zuvor zunächst als Au-pair-, später als Kindermädchen bei einer sehr reichen Familien dort gearbeitet. Dadurch sprach sie auch dermaßen gut Französisch, dass sie an der Sprache nie als Nichtfranzösin erkannt wurde. Während meiner Zivildienstzeit beim ASG Bildungsforum in Düsseldorf ergab es sich, dass ich eine Busexkursion nach Paris begleitete, bei der unter anderem Louvre und Centre Pompidou auf dem Programm standen. Wir reisten gegen 23 Uhr am Hauptbahnhof ab, und der Busfahrer hielt morgens gegen sechs in einem Marne-Vorort an einem gesichtslosen Hotel, wo ich die Aufgabe hatte, die Gäste auf die Zimmer zu verteilen. Dann hatten diese die Möglichkeit, eine von mir moderierte Stadtrundfahrt zu unternehmen oder auf eigene Faust mit der RER in die Lichterstadt zu fahren. Wer Kunst haben wollte, der sollte sich am kommenden Tag (sonntags) gegen elf am Obelisken an der Place de la Concorde einfinden. Die Sightseeing-Tour war eigentlich Beschiss, denn so viel kannte ich gar nicht von Paris, als fuhren wir nur ein knappes Stündchen herum und ich gab Binsenweisheiten zu den Bauten von mir. Waren ohnehin nur acht Nasen an Bord. Danach hatte ich den Rest des Tages und die ganze Nacht frei. Natürlich übernachtete ich nicht draußen vor der Stadt, sondern in meinem Hotel Bristol. Trieb mich einfach rum und entdeckte solche Ecken wie den Park auf dem Buttes-Chaumont oder den Canal St. Martin für mich. Dieselbe bzw. ähnliche Touren begleitete ich dann für das ASG Bildungsforum (mit Kunst) und ein Busunternehmen (ohne Kunst) zwischen 1978 und 1980 einige Male pro Jahr. Weil ich dabei immer in einem Bistro in einer Nebenstraße der Avenue Foch (das es leider nicht mehr gibt) vorbeischaute, wurde ich dort bald behandelt wie ein Familienmitglied. Paris wurde mein zweites Zuhause. Da die damalige Dame meines Herzens, die später meine Gattin und Mutter meiner Kinder werden sollte, wie schon geschildert ein äußerst intimes Verhältnis zu Frankreich hatte und die Landessprache mit extremer Perfektion beherrschte, zog es sie immer wieder in das große Land zwischen Nordsee und Mittelmeer. Eher zufällig war sie im Mai 1977, kurz bevor wir uns kennenlernten, mit ihrer besten Freundin nach Korsika in Urlaub gefahren, nach Calvi. Also reisten wir im Sommer 1979 auch dorthin, weil’s ihr auf der Ile de Beauté so gut gefallen hatte. Immerhin sprach man da Französisch. Dass die Einheimischen gerade in jenen Jahren einen derben Hals auf die Franzacken hatten und dass es eine korsische Sprache gab, wussten wir zunächst nicht. Außerdem wollten wir doch in der wunderbaren Bucht von Calvi bloß einen netten Strandurlaub verleben. Wir hatten eine kleine, feine und ziemlich preiswerte Ferienwohnung jenseits des Hügels gefunden. Da gab es wenig Menschen und zum Glück auch wenig Verkehr. Um aber nach Calvi zu kommen, brauchte es gut 25 Gehminuten. Und zum Strand war es dann nochmal eine Viertelstunde. Aber wir waren ja jung und verliebt, hatten kein Geld, aber Zeit. Also taperten wir Tag für Tag mindestens zweimal an der Landstraße entlang, immer oberhalb des Meeres. Dann machte die Straße eine scharfe Rechtskurve und stieg steil an. Die ersten Häuser von Calvi tauchten auf, und schließlich begrüßte uns oben links die mächtige Zitadelle, die damals noch fest in der Hand der Fremdenlegion war. Dann ging’s den Berg wieder runter bis an den winzigen Fischerhafen, aus dem seit damals ein riesiger Yachthafen geworden ist. Die Straße folgte dem Verlauf des Kais. Rechts reihten sich die Cafés, Bistros und Restaurants aneinander, links parkten die Autos der Korsen, dahinter schwappte das Mittelmeer an die Mauer. Am Ende war ein staubiger Parkplatz angebracht, den wir zu überqueren hatten. Hier war und ist dann die Endstation der Küstenbahn von L’ille Rousse, die wir den „Feurigen Elias“ tauften. Von einer qualmenden Diesellok gezogen hoppelte der Zug mit seinen blechernen Waggons direkt oberhalb des Strandes die Bucht entlang, um dann zwischen Felsen im Norden zu verschwinden. Jetzt hatten wir noch gut 500 Meter bis zu UNSEREM Strandrestaurant zurückzulegen – „U Pinu“, „Unter der Pinie“ hieß und heißt es. Damals nicht mehr als ein Imbisswagen mit einer Betonplatte für die Tische und Stühle davor. Außerdem bot der Patron unten vier Reihen Liegestühle mit Sonnenschirmen zur Miete an. Hier verbrachten wir den größten Teil der drei Wochen. Dank A.’s Sprachkenntnissen freundeten wir uns schnell mit den Wirtsleuten an. Genauer: mit dem Patron, einem Korsen, einem richtigen Korsen, einem stolzen Mitglied einer der führenden Familien der Gegend. Der führte uns in die Feinheiten des korsischen Befreiungskampfes ein, erklärte uns die verschiedenen militanten Gruppen und warum auf der Insel ständig geschossen und in die Luft gesprengt wurde. Wir lernten, dass sich das korsische Volks als von Frankreich besetzt und von Frankreich unterdrückt fühlte – wie eine Kolonie. Einer der größten Aufreger war, dass die französische Regierung nach dem Ende der Kolonialzeit Algerienfranzosen nicht nur gestattet hatte, sich auf Korsika anzusiedeln, sondern den Landkauf hoch subventionierte. Weil die neuen Siedler sich dem Weinbaustandard der Insel nicht verpflichtet fühlten, begannen sie im flachen Osten riesige Weinfelder anzulegen, um dort billigsten Wein anzubauen. In den Siebzigerjahren stammte ein beträchtlicher Teil der Plastikflaschenweins, den man im Supermarkt für ein paar Sous bekam, aus Korsika. Der Begriff „Wein aus Korsika“ wurde bei den Franzosen zum Synonym für mieseste Plörre. Die zugewanderten Franzosen, „pieds noirs“ (= Schwarzfüße) genannt, wurden aber auch sonst massiv bevorzugt. Und zwar – so der Patron – im selben Maße wie Korsen auf dem Festland diskriminiert wurden. Die stolzen und unbeugsamen Einwohner der gebirgigen Insel waren stinkend sauer und forderten mehr Rechte, später dann Autonomie oder gleich Abspaltung von Frankreich. Der militanteste Arm, die FLNC, forderte ultimativ die Enteignung der pieds noirs und kündigte erst 2014 an, auf den bewaffneten Kampf zu verzichten. Das alles erfuhren wir also von unserem Patron, der uns auch die Grundzüge der korsischen Sprache vermittelte. Es handelt sich um die romanische Sprache, die grammatisch am nächsten am Latein anzusiedeln ist und ein Vokabular hat, das dem Italienischen ähnelt wie ein Ei dem anderen. Damals hopste der Sohn Jean-Pierre, ein pummeliger Bube von etwa acht Jahren, im Sand herum, wenn er nicht mit dem Windsurfbrett oder gar dem Schlauchboot umherdüste. Der Patron ist um das Jahr 2000 herum gestorben, und der kleine Jean-Pierre ist mittlerweile schon seit fast zwanzig Jahren Patron im U Pinu. Mit der Legion Etrangére verbindet mich Familiengeschichte. Der jüngste Bruder meines Vaters ist nämlich um 1952/53 herum vor seinen Pflichten als Ehemann und Vater dorthin geflohen. Hans-Joachim, Jahrgang 1925, schickte seiner Gattin noch eine Postkarte aus Hamburg, schiffte sich ein und landete zur Ausbildung in Algerien, von wo aus er meinem Vater einen letzten Brief schrieb. Er berichtete, dass es nun endlich losginge, man ihn nach Südostasien verlegen werde, wo es dann in den Krieg gehe. Seit der Schlacht von Dien Bien Phu gilt Hans-Joachim als vermisst. Für mich war das eine romantische Geschichte, deshalb interessierte ich mich auch brennend für die Fremdenlegionäre in Calvi. Man sah sie frühmorgens in Sportkleidung den Strand entlanglaufen oder in Sechsergruppen patroullieren. Eines Tages brummten Transportflugzeuge über der Bucht, einige Dutzend Fallschirmspringer wurden abgeworfen, die dann bei uns am Strand landeten. Abends sah man die Unteroffiziere und Offiziere in den Bars am Hafen. Bei den höheren Dienstgraden war die Mehrheit französisch, ein paar altgediente Deutschen und Belgier darunter. Die Unteroffizieren waren durchweg Deutsche, Niederländer, Belgier, Österreicher und auch einige Kollegen aus Osteuropa. Die Deutschen stellten die Mehrheit. Auch wenn wir keinen Hehl daraus machten, Deutsche zu sein – und davon gab es damals kaum welche unter den Urlaubern – gesprochen haben sie mit uns immer französisch. Sie tranken gern mit uns, rauchten wie die Schlote und erzählten Abenteuergeschichten. Am schlimmsten war der Abend, an dem rundenweise „Casa Dynamite“ gesoffen wurde. Ein Getränk von dem der Kellner sagte: „Die Nacht bleibthell, aber der Tag wird dunkel.“ Es handelt sich um Pastis, der nicht mit Wasser, sondern mit Trester aufgegossen wird. Wir haben nie erfahren, wer uns heil nachhause gebracht hat am Morgen nach diesem Gelage mit einer Handvoll Legionäre. 1980, A. war mit unserem ersten Kind schwanger, bereisten wir Korsika fünf Wochen lang. Campen wollten wir, aber dafür waren wir nicht geschaffen: Beim ersten Frühstück explodierte der Gaskocher, und nach der zweiten Nacht waren die Luftmatratzen platt. Wir waren zum ersten Mal mit dem Auto auf der Insel, weil wir all die tollen Orten sehen wollten, von denen uns der Patron vorgeschwärmt hatte. Systematisch fuhren wir zunächst die Westküste hinab: die Calanche, Porto und den Golf von Girolata, Ajaccio, Sartène, Propriano, Bonifacio. An der fast kreisrunden Bucht von Pinarello an der Ostküste fanden wir einen fast leeren Campingplatz und einen völlig leeren Strand, an dem tagsüber ein paar Kühe lagerten. Wir lebten vier Tage nackt und glücklich an diesem paradiesischen Platz. Für die letzten zwei Wochen hatten wir ein Ferienhaus in der Nähe von Aléria gebucht; ein guter Freund, der uns tierisch nerven würde, kam für eine Woche als Besuch dazu. Den Ort hatten wir gewählt, weil fußläufig gute Freunde von uns ihre Ferien in einem FKK-Lager am Etang de Diane verbrachten. Die besuchten wir. Nach einem lässigen Strandtag aßen wir zusammen, und der Einfachheit halber übernachteten wir dort. Mit denen unternahmen wir einen wunderbaren Ausflug in die Berge bei Solenzara. Bis hoch zum Col de Bavella. Und weil wir dabei die natürlichen Schwimmbecken des Bergbachs entdeckt hatten, fuhren am nächsten Tag gleich wieder hin, um an einem solchen Bassin den ganzen Tag zu verbringen. Wir stellten das Auto oben an der Straße ab und kletterten hinab. Zwischen den rundgeschliffenen riesigen Felsen hatte sich ein Becken gebildet, durch das glasklares, kaltes Wasser mit geringer Geschwindigkeit floss. Der Boden des Felsteichs war sogar mit feinem Sand bedeckt. Sogar ein winziges Stück Strand lag da unter den Büschen. Wenn man einmal drin war im Eiswasser, dann ging’s. Aber bei uns Männern war die Temperatur beim Raussteigen deutlich ablesbar. Wir hatten Poulets rotis mitgebracht, Melonen, Tomaten, Brot, Wein und Käse. Badeten, dösten, schliefen, kuschelten, aßen, plauderten, schwammen, aßen, dösten und so weiter. Ein wunderbarer Tag! Ab 1980 machten wir bis einschließlich 1992 alle zwei Jahre Sommerferien auf Korsika. Erst mit dem Sohn, dann mit beiden Kindern, einmal mit der Familie meiner Schwester. Wir mochten es erst besonders in L’ille Rousse, aber dort schwoll der Tourismus fast so stark an wie in Calvi. Also war Algajola die letzten drei Male unser Ziel. Natürlich haben wir das Cap Corse auf den engen, gewundenen Bergstraße umrundet. Selbstverständlich sind wir mit der Eisenbahn hoch nach Corte gefahren. Und vom GR20, dem weltberühmten Gebirgswanderweg habe ich die ersten drei Stunden absolviert. Wir mochten Bastia lieber als Ajaccio und hatten uns eine Sonnenschutzfolie mit dem Schriftzug des SEC Bastia gekauft und fuhren damit herum. Beim letzten Mal, es war während der Olympiade in Barcelona, waren die Zeichen der Mafia-Aktivitäten nicht mehr zu übersehen; Rückwanderer aus Marseille und den USA brachte große Summen Schwarzgeld und bauten sich irrwitzige Villen, kauften Land, übernahmen die Landwirtschaft und letztlich auch die Macht auf der Insel. Fortsetzung folgt … irgendwann.Eine Tour de France 1975
Paris, immer wieder
Fremdenführer
Fast Pariserin
Die Ile de Beauté
Die Legionäre
5 Wochen Korsika